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Eine halbe Stunde.
Unsere letzte Begegnung lag kaum drei Monate zurück. An einem warmen und schwülen Sommernachmittag hatten wir uns das letzte Mal gesehen. Und obwohl es nicht lange her ist, kann ich mich doch kaum an etwas erinnern. Es war zwar irgendwas da, in der Erinnerung, in mir, doch mit einem Schleier verhangen, der bei Sturm nur wenige Bruchstücke des Geschehenen zu erkennen gab.
Das Treffen war kurz, vielleicht eine halbe Stunde. Kaum länger. Ich war zu früh und irrte gedankenversunken zwischen den Gebäuden umher. Große Komplexe mit riesigen Fenstern und kleinen Gängen zwischen ihnen, die mich bedrängten und blendeten. Es gab ein Café, bei dem ich mir ein Getränk kaufte, welches ich eigentlich gar nicht mochte und später in den Mülleimer vor deiner Haustür warf. Die Sonne brannte auf meinem Gesicht und meine Kleidung passte nicht zu den Temperaturen. Ich suchte einen schattigen Ort, um zu warten. Es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Oder auch nur das Gefühl von etwas Halbem. Ich selbst war nur halb. Wenn überhaupt. In der gegenüberliegenden Fensterscheibe eines Hauses versuchte ich, mich zu erkennen. Wie ich dort saß, ganz alleine, umringt von Menschen. Von Fremden, denen ich nichts zu sagen hatte und die mir nichts zu sagen hatten. Geschäftig eilten sie an mir vorbei, ohne mich wahrzunehmen. Hunderte Male hatte ich überlegt, was ich dir heute sagen wollte, wie ich es sagen wollte, wann ich es sagen wollte. Hunderte Male war ich das Gespräch im Kopf durchgegangen, doch es brachte mir keine Sicherheit. Keine Gewissheit. Eine Kirchturmuhr in der Nähe läutete, ich stand unschlüssig auf und machte mich auf den Weg.
Wir redeten. Du saßt mit dem Rücken zum Fenster vor dem Tisch, der als Barriere zwischen uns stand. Deine Hände ruhten auf ihm, sie lagen nebeneinander und manchmal spielten sie mit einem Prospekt. Der Koffer für die Reise stand schon fertig gepackt an der Wand neben dir. Deine schwarze Lederjacke, die du schon so lange besitzt und so oft getragen hattest, legtest du bei meiner Ankunft gerade auf dem Koffer ab. Du fragtest mich, ob wir ins Café gehen wollten. Ich war unschlüssig und wir blieben. Vielleicht hatte ich dich zu diesem Treffen gedrängt, hatte aber doch auch das Gefühl gehabt, dass es dir keinen Umstand bereitete. Spekulationen machten an dieser Stelle keinen Sinn. Dennoch ließ mich während des Gesprächs der Gedanke nicht los, dass du etwas Bestimmtes von mir hören wolltest. Du erwecktest den Eindruck, dass du dir mehr davon versprochen, mehr von mir erwartet, dir vielleicht sogar mehr erhofft hattest. Aber ich gab es dir nicht. Ich konnte es dir nicht geben.
Ich wollte es. Das war der Grund, weshalb ich gekommen war. Das war der Grund für dieses Treffen, für meine Anreise, für die Zeit, die du dir genommen hattest. Für mich. Du wusstest, dass dich das Treffen Zeit kosten würde und du nur mich dafür bekämst. Vermutlich war es dir völlig egal und es ist auch jetzt immer noch schwierig für mich, es zu verstehen. Ich bin unabhängig, ich fühle mich alleine ausreichend, aber manchmal ist es so, dass man das Verstehen sucht, dass man verstanden werden will. Man möchte nur, dass einen jemand braucht. Möglicherweise war die Enttäuschung, die ich zu merken glaubte, auch nur eine Illusion meinerseits.
Die Sommersonne schien von hinten durchs Zimmerfenster und dein Gesicht lag im Schatten. Wie ein Lichtschleier zogen die Strahlen durch deine Haare und verteilten sich in diesem stickigen kleinen Raum, der manchmal beengend wirkte und dann wieder wie eine Halle, in der jeder wie in einem Sog davongetragen wurde. Du warst nett, zuvorkommend, freundlich. Vorsichtiger, weniger abweisend als sonst. Aber gleichzeitig auch fordernd. Das Erwartete einfordernd, was ich dir nicht gab. Was ich niemandem gab. Ich konnte mich nur bei dir bedanken. Mehr konnte ich nicht tun, während ich dir gegenübersaß, deinen Blick auf mich gerichtet fühlte und meine Augen auf den Tisch herabgesenkt hatte. Ich bemühte mich um eine selbstbewusste Körperhaltung, um einen Eindruck, der vermitteln sollte, dass ich wusste, was ich tat. Ich vermute, ich bin gescheitert. Viele Male hatte ich diese Situation gedanklich geprobt, war mir meines Entschlusses sicher gewesen. Auch jetzt, in diesem heißen Zimmer, während du mir etwas erzählst, während ich dir zuhöre, aber kaum etwas verstehe, ist der Zug noch nicht abgefahren. Wie du vor mir sitzt, mit deinen kurzen hellen Haaren, deiner neuen Brille, auf die ich dich nicht angesprochen habe, deinem ruhigen Blick und deiner Art, die mich nicht klar denken lässt. Wie du vor mir sitzt, während ich nichts anderes will als deine Gedanken zu hören und zu sehen, wie du deine Hände nach mir ausstreckst. Aber ich weiß, dass das Strahlen in deinen Augen nicht mir gilt. Nie mir galt. Wahrscheinlich war die Zeit gekommen, die uns sagte, dass es zu spät war. Jegliche Hoffnung musste sich irgendwann auflösen. Es war ihr unmöglich, unter solchen Umständen weiter zu existieren.
Ich erhob mich von meinem Stuhl, nahm meine Tasche und wollte gehen. Du sagtest etwas. Oder ich sagte etwas. Es wäre auf jeden Fall die letzte Möglichkeit gewesen. Niemand nahm sie wahr. Du warst jetzt nur noch fremd, wie die Menschen vor deinem Haus, denen ich nichts zu sagen hatte. Zögerlich kamst du auf mich zu, deine rechte Hand griff nach meinem Oberarm und umklammerte ihn. Du hieltst ihn etwas länger als nötig fest, während du mir alles Gute wünschtest. Ich bedankte mich erneut, ging zur Tür, drehte mich um. Du standest noch mitten im Raum, wie ein kleiner Punkt am Horizont, der langsam verschwindet, und sahst mich lächelnd an. Ich sagte etwas Unwichtiges, weil es mir unangenehm war, dich so zu sehen. Dann kamst du auf mich zu, um die Tür zu schließen. Ich lächelte zurück und ging.
Während ich jetzt im Zug sitze und über diese halbe Stunde nachdenke, rauschen nicht nur Bäume und Häuser, die Schatten meines Gesichts an meinen Augen vorbei, sondern auch du. Dein Gesicht, der Ausdruck in deinen Augen, deine Stimme, deine Ausstrahlung, deine Bewegungen, die Gespräche mit dir, deine letzte Berührung, als ich dich verließ. Es war ein sonderbarer Moment. Der Gedanke, dass es das letzte Mal war, dass wir uns sahen, schien über uns zu schweben. Nicht als Freude oder Trauer, sondern vielmehr als Gefahr. Du kamst mir ungewohnt unsicher vor. Ich hatte dich selten so erlebt. Einerseits fordernd und sogar ein wenig aggressiv, andererseits verunsichert und hoffnungsvoll abwartend.
Meine Augen sind geschlossen, mein Kopf nach hinten gelehnt. An meinem Arm spüre ich den Griff deiner Hand. Zwanghaft versuche ich, mir weitere Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen, aber es bleibt nur dieses Gefühl. Das Gefühl einer diffusen Stimmung, die damals herrschte. Die ich auch jetzt nicht verstehen kann und die mich traurig macht, wenn ich über sie nachdenke. Wenn ich über dich nachdenke.