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Eine geschlossene Tür
„Fuck“, dachte sie.
Jemand war in ihrer Wohnung. Ihr erster Gedanke. Aber dann beruhigte sie sich ein bisschen. Leere Häuser - und Wohnungen ebenfalls - machten manchmal einfach Geräusche. Dieses hatte so geklungen, als wäre ein Eindringling an den Tisch in der Küche gerumpelt. Aber das war weit hergeholt, oder nicht?
Sie schien sich nicht wirklich bedroht zu fühlen, aber trotzdem konnte sie nicht so tun als wäre nichts gewesen und einfach weiterlesen. Sie musste nachsehen. Sicher ist sicher, dachte sie. Also stand sie vom Sofa auf, legte ihr Buch auf einen Stuhl und rückte den, etwas zu geräuschvoll, ein Stück zur Seite. Dann nahm sie ihr Handy in die Hand und begann nachzusehen.
„Fuck“, dachte er. Er war direkt in den Tisch gelaufen. Das war viel zu laut gewesen. Ja, er musste heute effizient sein. Ja, das Leben seines Bruders hing von seinem Erfolg heute ab. Aber er würde nicht erfolgreich sein, wenn er nicht vorsichtig genug war. Verdammt, warum konnte er nicht vorsichtiger sein?
Er schaltete die Taschenlampe aus und wartete einen Moment. Stand regungslos im Dunkeln. Nur hörend.
Er hatte das Haus so klug ausgewählt, wie das auf die Schnelle möglich gewesen war. Er hatte nicht überprüfen können, ob die Wohnung heute leer war, aber es war ein Tag vor Weihnachten, da war das sehr wahrscheinlich. Vor allem weil es sich um eine Studenten-WG handelte. So wie im ganzen Haus. Und weil er keine abgesperrten Türen öffnen konnte, war er jetzt im vierten Stock. Das war die erste Wohnung gewesen, wo die Besitzer vergessen hatten abzusperren, sie hatten einfach nur die Tür zugezogen, als sie gegangen waren.
Nur, es waren nicht alle gegangen. Die Wohnung war nicht leer. Er hörte ein Geräusch aus dem hinteren Teil der Wohnung.
Vorsichtig ging er zurück zur Küchentür, und riskierte einen Blick. Eine Tür öffnete sich. Licht fiel in den Flur. Schnell zog er den Kopf zurück und ging zurück in die Küche. Panik machte sich in ihm breit.
Wahrscheinlich war da nicht einmal ein Geräusch gewesen. Nicht einmal ein „Wohnungen-machen-Geräusche“-Geräusch, sondern einfach nur ihre Einbildung. Sie war einfach nicht mehr gewohnt alleine zu sein.
Ihre Mitbewohner waren beide nach Hause gefahren. Sie feierten Weihnachten im gemütlichen Kreis ihrer Familien. Das musste schön sein. Viele Leute taten das. Nicht sie. Nicht mit ihrer Familie.
Der Flur war dunkel. Das einzige Licht kam aus ihrem Zimmer. Sie ging zum Lichtschalter, machte das Licht an. Jetzt würde sie in jedem Zimmer kurz nachsehen, um danach entspannt weiterlesen zu können.
Er hatte sie für einen kurzen Moment gesehen. Es war ein Mädchen. Warum war sie noch hier? Verdammt. Was sollte er jetzt tun? Er griff in seine Tasche. Ja, er hatte ein Messer. Aber er hatte es noch nie gebraucht. Und er hatte auch nicht vor, das heute zu ändern. Er war ein Dieb, kein Mörder.
Er drehte sich um und sah verzweifelt ins Dunkel der Küche.
Das erste Badezimmer war leer. Das zweite auch. Die waren einfach. Es gab nicht genug Platz, um sich zu verstecken, außer hinter der Tür. Aber ein Tritt dagegen, verriet ihr alles. Ging die Tür ganz auf, stand niemand dahinter.
Das Wohnzimmer war schon ein bisschen gruseliger, weil sie es betreten musste. Aber es war auch leer. Dann das Zimmer ihres ersten Mitbewohners. Sollte das auch überprüfen? Sie fühlte sich schlecht, aber öffnete trotzdem die Tür. Es quietschte. Das Scharnier war nicht geölt, niemand konnte her unbemerkt hinein. Falls jemand in der Wohnung war, dann nicht hier. Auch nicht im Zimmer ihres zweiten Mitbewohners dachte sie, ohne die Tür überhaupt zu bewegen. Eine Schiebetür, das wäre auch zu laut. Blieben nur noch Vorratszimmer und Küche.
Er war bereit. Er hatte sich versteckt. Trotzdem, er war nervös wie verrückt. Er konnte sein Herz so laut schlagen hören, dass er Angst hatte, sie könnte das auch. Sein Atmen war noch schlimmer. Er versuchte sich zu beruhigen, aber es gelang ihm kaum. In seiner Hand hielt er das Messer. Bereit.
Sie trat gegen die Tür des Vorratszimmers. Als sie nicht ganz aufging, stieg ihre Anspannung plötzlich. Sie trat noch einmal dagegen, mit gleichem Ergebnis. Sie musste sich kurz zusammenreisen, dann ging sie mit einem Satz ins Zimmer und sah hinter die Tür. Der Staubsauger. Sie atmete erleichtert auf. Sie jagte einen Geist.
Er hörte sie das Licht in der Küche anschalten. Er war in dem Schrank unter der Spüle, der Gott Sei Dank leer gewesen war. Und Gott sei Dank, passte er dort hinein. Knapp allerdings. Es reichte. Er hörte sie das Licht wieder ausschalten und ihre Schritte, als sie in ihr Zimmer zurück ging.
Sie fühlte sich sicher jetzt. Aber sie hatte die Wohnungstür heute noch gar nicht abgesperrt. Also nahm sie die Haustürschlüssel vom Tisch und sperrte ab. Dann nahm sie den Schlüssel wieder und ging in ihr Zimmer. Weil der letzte, der absperrt, in der WG nicht immer der ist, der am nächsten Tag aufsperrt, war das einfach Gewohnheit.
Er traute sich nicht, sich zu bewegen, auch wenn es höllisch unbequem war. Das Messer noch in einer Hand, das Körpergewicht stützte auf der anderen. Seine Knie brannten und die Taschenlampe stieß ihm in ins Becken. Aber der körperliche Schmerz war nichts im Vergleich zum geistigen, als er hörte, wie das Mädchen abschloss.
Als sie wieder in ihrem Zimmer war, zwang er sich noch eine halbe Ewigkeit zu warten, bis er sich endlich aus seinem Versteck befreite. Seine Beine waren eingeschlafen, sein halber Körper steif. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder bewegen konnte.
Er überlegte kurz, die Taschenlampe wieder anzumachen. Aber nein. Als Dieb hatte er sich das Vermögen angeeignet, sich das Layout einer Wohnung merken zu können. Er fand den Weg zur Haustür ohne Licht und ohne einen Ton zu machen.
Langsam und leise drückte er die Türklinge.
Fuck. Fuck, fuck, fuck, fuck, FUCK! Er war eingesperrt. Gefangen! WO war der Schlüssel? Der verdammte Schlüssel! Warum hatte sie ihn nicht stecken lassen?
Sie las ihr Kapitel zu Ende, aber ihr war nicht wirklich danach, noch weiter zu lesen. Ins Bett wollte sie aber auch noch nicht. Sie war nicht müde und es gab nichts, was sie wirklich zu einem geregelten Tagesablauf zwängte. Nicht in den Ferien, erst recht nicht Weihnachtsferien. Sie fühlte sich einsam, da geht man nicht gerne schlafen. Also begann sie stattdessen damit, eine Serie auf ihrem Laptop zu gucken.
Er dachte angestrengt nach. Das Überleben seines Bruders hing von ihm ab. Er musste genügend Geld klauen! Rechtzeitig! Und das waren auch gleich seine beiden Probleme. Er hatte noch nichts gestohlen und er saß fest.
Wann würde das Mädchen die Wohnung wieder verlassen? Er musste bis Morgen wieder hier raus, aber es war nicht mal sicher, dass das Mädchen morgen die Wohnung überhaupt verlassen würde. Und ausbrechen? Er war im vierten Stock und er konnte die Tür ohne Schlüssel nicht öffnen. Also musste er den Schlüssel holen! Aber das Mädchen war noch wach.
Also kümmerte er sich in der Zwischenzeit um das zweite Problem: Geld. Vorsichtig, ganz langsam und ruhig öffnete er die Schiebetür zum Zimmer des ersten Mitbewohners. Kein Laptop. Nur ein paar Schiene. Längst nicht genug. Das Zimmer des anderen Mitbewohners konnte er nicht betreten, er hatte ja gehört, wie Laut die Tür war. Keine Chance.
Also begann er zu warten. Und mit jeder Minute wurde seine Anspannung und Verzweiflung größer.
Um 3 Uhr machte sie ihren Laptop aus. Legte ihn auf den Schreibtisch und ging zu Bett. Ein Vorteil, wenn man so spät schlafen geht: Sie war müde und es dauerte nicht lange, bis sie einschlief.
Die Zeit spielte gegen ihn. Eine Katastrophe. Er war nervös. Ungeduldig. Er musste hier raus! In dieser Wohnung gab es nicht genug zu holen, er musste noch in eine andere einbrechen, wenn er seinen Bruder retten wollte. Und das musste er! Er musste hier also schnell sein.
Nachdem er hörte, wie sie das Licht ausmachte, wartete er nicht einmal zwanzig Minuten, bis er die Tür öffnete. Er hatte Glück. Ihr gleichmäßiges Atmen verriet ihm, dass sie schlief. Gut. Er wagte es nicht, die Taschenlampe anzumachen, stattdessen tastete er sich vorwärts.
Wo ihr Atem her kam, musste das Bett sein. Er suchte den Tisch auf der entgegengesetzten Seite. Fand ihn. Hier musste der Schlüssel irgendwo sein. Er tastete vorsichtig. Kontrolliert. Er würde nichts umwerfen. Er würde kein Geräusch machen.
Aber er fand den Schlüssel nicht auf dem Tisch. Shit. Er fühlte, wie ihm warm wurde, wie ihm der Schweiß ausbrach. Panik machte sich wieder in ihm breit. Erfüllte ihn. Er versuchte sein Atmen zu kontrollieren und sich zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht. Seine Hände zitterten. Er musste weitersuchen! Er fand das Fensterbrett. Durchsuchte es. Spürte etwas an seinem Handgelenk, aber da war es auch schon zu spät. Eine Glasfigur fiel. Schlug auf dem Boden auf. Und zersprang in Scherben.
Sie wachte auf. Etwas war auf den Boden gefallen und kaputt gegangen. Sie tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn. Machte das Licht an. Schrie vor Schreck. Jemand stand in ihrem Zimmer. Ihr Körper wurde kalt, ihr Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann umso stärker zu schlagen. Es schlug, als würde es jeden Moment explodieren.
Der junge Mann stand regungslos am Fenster und starrte sie im Schock an. Aber sie hatte nicht vor zu warten, bis er sich aus dem Schreck erholte. Sie griff nach dem ersten Gegenstand, der auf ihrem Nachttisch war und warf ihn gegen ihn mit einem Schrei.
Das Buch verfehlte ihn und schlug gegens Fenster. Das brach seinen Bann. Bevor das Mädchen den nächsten Gegenstand werfen konnte, hatte er schon den Laptop auf ihrem Tisch gegriffen. Nahm ihn. Ging zum Mädchen, das jetzt stand. Sie schlug ihn. Er schlug ihr den Laptop über den Kopf. Sie blutete. Aber war noch bei Bewusstsein. Halb zusammengesackt begann sie auf ihn einzuschlagen. Traf ihn hart. Der Laptop fiel zu Boden. Sie schlug weiter. Er zurück. Griff nach seinem Messer. Und stach zu.
Das Mädchen fiel leblos zu Boden. Ein rotes Meer aus Blut begann sich um sie auszubreiten. Er stand mittendrin. Starrte sie an. Ließ das Messer fallen. Stand minutenlang einfach nur da. Dann packte es ihn wieder. Er musste hier weg! Er rannte zur Wohnungstür und versuchte sie energisch zu öffnen. Sie war immer noch abgesperrt.
Er rannte zurück, fand den Schlüssel auf dem Nachttisch. Nahm ihn. Rannte zur Tür, öffnete sie, rannte die Treppen hinunter und aus dem Haus heraus.
Hinterließ eine Spur roter Fußabdrücke und eine offene Wohnungstür.
In der kalten Nachtluft sank er dann nieder. Setzte sich auf den Asphalt. Zitternd. Er sah als das Blut. Er begriff. Er hatte ein Mädchen getötet. Er war ein Mörder. Er hatte es nicht geschafft, genug Geld für seinen Bruder zu stehlen. Er hatte es nicht einmal geschafft, überhaupt etwas zu stehlen.
Hoffnungslos. Saß er dort. Saß einfach nur dort. Wartend. Aufs Sonnenlicht. Auf die Polizei. Auf sein Urteil.