Eine Geschichte
Eine Geschichte
Fünfzehn Jahre hatte ich bei Malford und Söhne gejobbt, gute Arbeit, nette Kollegen, ihr wisst schon, die Art, die was im Kopf haben. Leitende Position, der Verdienst manchmal höher als das, was ich ausgeben konnte. Und meine Frau, sehr hübsch, klug, gebildet, sie ist im sozialen Bereich tätig. Zwei gesunde Kinder.
Dann die Diagnose Krebs, ich könnte jetzt sagen: das Ende einer Erfolgsstory. Aber es ist eine Lüge, es ist eine gottverdammte Lüge. Der Krebs ist nicht das Ende einer Erfolgsstory. So billig lasse ich hier keinen mehr weg, nicht nach einem Jahr Chemotherapie und dem grauenhaften Kampf gegen die Tumore.
Es sind schlaue Tumore, ich hab sie fast lieb. Kleine, stachelige Dinger, die überall dort auftauchen wo sie nicht vermutet wurden, die netten Kleinen. Zum Schluss sagte der Doktor die frechen Kerle hätten ihn ausgetrickst und all das Chemozeugs ist nicht mehr wert als eine angeschissene Hose.
Zum Schluss versteckten wir uns beide nicht mehr hinter schönen Worten, mein Arzt und ich. Ich blickte in seine kummervollen, stahlblauen Augen und er blickte... naja, in zwei eitrige, verquollene Schlitze, weil ich bin ehrlich, viel ist nicht mehr über von mir.
Und jetzt am Schluss wird mir so viel klar. Oh Gott, ich weine die ganze Zeit, weil es wird mir so viel klar. Zunächst mal meine Frau und ich. Zuerst war ja alles so rosarot und schön, aber dann – Langeweile. Gereiztheit. Weil wir beide pflichtbewusst sind, brave Arbeiter, klammerten wir uns an unsere bürgerliche Existenz, wir dachten, die Kinder würden vielleicht was verbessern. Aber wie haben die geweint und geschrien, als wir sie ebenfalls auf Kurs brachten, sie tobten regelrecht. Jetzt schreiben sie gute Noten und haben genauso eine verlogene Zukunft wie ich.
Ich vergesse nie, wie meine Tochter um sich schlug. Sie wollte irgendetwas an der Supermarktkassa und es war klar, wir durften ihr das nicht durchgehen lassen. Aber als ich zusah, wie sie sich am Boden wälzte, da fragte ich mich plötzlich: die verdammten zwei Euro für ihre Schokolade, wären die das nicht wert gewesen um ihr diesen Zorn zu ersparen? Aber Emma – meine Frau – sagte es wäre eine Sache der Prinzipien und natürlich stimmte ich überein – schon aus Prinzip.
Aber ein Stück Liebe ist gestorben, zwischen meiner Tochter und uns und zwischen meiner Frau und mir.
Es war ein Leben ohne Mut, verdammt noch mal. Es war ein gottverdammtes feiges Leben, und kein einziges Mal haben wir uns dagegen aufgelehnt, was unsere Eltern uns eingehämmert haben. Natürlich gab es die wilden Studentenjahre, Drogen, all das mal ausprobieren, dann fühlten wir uns cool. Aber wirklich rebellieren... die Dinge tatsächlich in Frage stellen, dazu waren wir zu bequem, denn wir bekamen ja die Aussicht auf ein gemütliches Leben.
Nehmen wir mal an, ich hätte einmal eine Nacht auf der Straße verbracht, im Müll gewühlt. Nur um zu sehen, wie ein Obdachloser lebt. Oder ich hätte einmal eine Frau geliebt, die mehr Herz als Hirn hat. Oder ich hätte einmal gewagt, hässlich und dumm zu sein, oder besoffen, sinnlos, ganz unten. Das hätte mir das Leben gerettet. Ich weiß es jetzt. Die kleinen Tumorjungs haben es mir zugeflüstert. Sie reden mit mir – ich höre sie deutlich, jeden Tag, jede Nacht. Ich höre ihre Stimmen und sie sagen: Das Leben ist nicht da, um es gemütlich zu haben, Harry. Das Leben ist nicht da, damit du auf der sicheren Seite bleibst. Wenn du vor Gott trittst, Harry, wird er dich fragen: Hast du einmal vorbehaltlos geliebt? Und was wirst du antworten, Harry? Oder er wird dich fragen: Hast du einmal dein letztes Geld einem Bettler geschenkt? Und was wirst du antworten, Harry?
Aber ich lasse mir nichts mehr gefallen von den Tumorfrechdachsen, ich sage: Gott hat mir den Krebs geschickt, er hat mir euch geschickt, und ich glaube, am Ende werden wir schon quitt sein, Gott und ich.
Dann lachen die Tumore und sie sagen mit ihren feinen, lieben Stimmen: Das ist das Geheimnis, Harry. Das am Ende alle quitt sind.