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Eine Geschichte - ein Gefallen

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12.02.2016
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Eine Geschichte - ein Gefallen

Müde schlurfte er durch die beinahe menschenleeren Gänge des Bahnhofes, trat in die Abenddämmerung hinaus und begab sich die paar Meter zur Bushaltestellen-Wartezone. Auf dem Weg machte Daniel nochmal halt am Busfahrplan, aber der sagte ihm nur das, was er ohnehin schon wusste: Etwas mehr als zweieinhalb Stunden noch, bis sein Bus kam und ihn nach Hause brachte.
Er suchte sich einen Platz ganz am Rand der vielen Sitzgelegenheiten, die die Verkehrsgesellschaft an die Plexiglaswände angebracht hatte, legte seinen Rucksack vor sich auf den Boden, stellte seine Reisetasche rechts neben sich und lehnte seine Gitarre an den Sitz.

Erst jetzt, wo er nahezu beschäftigungslos an dem menschenleeren Bahnhof saß und müde in die Leere starrte, wurde ihm bewusst, wie unheimlich es hier um diese Uhrzeit eigentlich war, ganz alleine unter dem kalten Neonlicht der Bushaltestellen-Wartezone.
Eine Weile lang hing er seinen müden Gedanken nach und beobachtete, wie die Straßenlampen nun auch nach und nach angingen, die Lichter der Geschäfte ausgingen.

Als er sich eine Zigarette anzündete und den Qualm genüsslich ausstieß, schälte sich in der Ferne eine Gestalt aus dem Dunkel in den Lichtkegel einer Straßenlaterne.
Interessiert, aber auch etwas misstrauisch, beobachte Daniel die langsam näher schlurfende Gestalt, fast schon dankbar um ein paar Momente der Ablenkung. Die Gestalt schob ein Fahrrad neben sich her, und Daniel dachte zunächst an einen Betrunkenen, der um diese Zeit und nach längerer Diskussion schließlich doch aus einer Bar hinausgekehrt worden war. Dann aber sah er den vollgepackten Fahrradanhänger, den abgerissenen und schmutzigen Zustand der Kleidung des unverhofften Passanten und revidierte sein vorschnelles Urteil.

Mit einem etwas mulmigen Gefühl erkannte er in der Gestalt einen fahrenden Obdachlosen, der sich wohl in Hoffnung auf ein ungestörtes Plätzchen zum schlafen hierher verirrt hatte. Noch mulmiger wurde ihm, als ihm klar wurde dass die Gestalt direkt auf ihn zuhielt. Zwar langsam und schleppenden Schrittes, aber unaufhaltsam auf das Ziel der Bushaltestelle-Wartezone, und damit auf ihn, zu.
Klar, hier war es windgeschützt durch die Plexiglaswände, die lange Reihe an Sitzgelegenheiten bot bestimmt einen geeigneten Schlafplatz und um diese Uhrzeit war er hier eine Weile recht ungestört.
Möglichst unauffällig zog er seine Reisetasche näher zu sich heran und klemmte den Rucksack zwischen seine Füße. Er hatte zwar bislang keine Erfahrungen mit diesem Menschenschlag gehabt, aber die etwas gruselige Atmosphäre und eine, nicht grade leise, Stimme im Hinterkopf mahnten ihn zur absoluten Vorsicht. Misstrauisch und aufmerksam beobachtete er die Gestalt, wie sie langsam näher kam und schließlich zwischen die Plexiglaswände ins teilweise offene Innere der Bushaltestellen-Wartezone eintrat.

Der fahrende Obdachlose, ein etwa Mitte fünfzigjähriger, osteuropäisch wirkender Mann musterte Daniel und sein Gepäck interessiert, bevor sein Blick wieder zu der ursprünglichen Müdigkeit zurückkehrte. Er steuerte sein Rad mitsamt Anhänger an die Seite der Bushaltestellen-Wartezone, für Daniels Begriffe, der ihn bemüht unauffällig aus den Augenwinkeln beobachtete, viel zu Nahe an ihm dran.
Eine Zeitlang hantierte der Mann mit irgendwelchen Dingen in seinem Anhänger, der sich unter einer schmutzig-grauen Decke verbarg, herum und drehte Daniel, der bereits alle möglichen Szenarien eines möglichen Streits oder sogar Handgemenges durchgespielt hatte, den Rücken zu, bis er sich langsam wieder umdrehte und sich direkt auf den Platz neben Daniels Reisetasche fallen ließ.
Der Obdachlose nickte ihm freundlich zu, räkelte sich in eine bequeme Position und starrte ebenfalls Löcher in die Luft.

Daniel versuchte, seine Gedanken zurückzulenken zum Zelten, die durchgefeierten und durchgrölten Nächte noch einmal Revue passieren zu lassen und an die kommende Arbeitswoche und sein Zuhause zu denken.
Doch seine Gedanken wanderten immer wieder zu dem Obdachlosen neben ihm, woher er wohl gekommen war, wie er wohl in diese Lebenssituation geraten war, ob und wieviel er heute wohl gegessen und getrunken hatte, was sich unter seinen spärlichen Habseligkeiten wohl befand (Geschirr? Schmutzig und starrig gewordene Kleidung? Leere Pfandflaschen? Andenken an ein früheres, besseres Leben?) und ob er sich heute schon einen zumindest angehenden Rausch erbettelt hatte.

Als Daniel es dann für einen Augenblick geschafft hatte, an sein warmes Bett und an die letzten Tage zu denken, überkam ihn schlagartig ein schlechtes Gewissen dem Mann neben ihm gegenüber.
Ob der fahrende Obdachlose wohl Raucher war und bloß keine Zigaretten mehr hatte, nach einem harten Tag voller Entbehrungen? Daniel bildete sich ein, einen sehnsüchtigen Blick bemerkt zu haben, als er sich die letzte Zigarette angesteckt hatte. Er entschied, heute Abend den richtigen Zeitpunkt für eine gute Tat gefunden zu haben, zog seine Schachtel hervor und hielt sie dem Obdachlosen hin, nachdem er sich selbst eine herausgezogen hatte.

Der Obdachlose sah einen Augenblick auf die Schachtel, dann direkt in Daniels Gesicht. Die völlige Abwesenheit jeglicher Reaktion in dem müden Gesichtsausdruck des Obdachlosen animierte Daniel zu einem aufmunternden Lächeln, er wackelte mit der Schachtel vor dem Gesicht des Obdachlosen und verbalisierte sein Angebot.
„Nimm ruhig, wenn du willst …“

Grade, als Daniel schon vermutete, der Obdachlose spreche eventuell gar kein Deutsch und hätte ihn nicht verstanden, seufzte dieser schmerzvoll und zog sich schließlich doch eine Zigarette aus der angebotenen Schachtel.
„Danke, mein Freund“, murmelte er mit deutlichem Akzent.
Daniel fühlte sich, unter der offensichtlichen Abwesenheit von Freude des Obdachlosen über diese Geste, irgendwie um seine vermeintlich gute Tat betrogen und überlegte grade, wenn auch nicht sehr ernsthaft, ob er dem Obdachlosen nicht noch sein Kleingeld anbieten sollte, als dieser auf seine Tasche und Gitarre deutete.

„Wo kommst du her?“, fragte der Obdachlose mit starkem Akzent.
In Daniel meldete sich wieder das mulmige Gefühl. Klar, er wollte dem Obdachlosen gerne etwas Gutes tun, war auch dankbar um etwas, wenn auch für ihn ungewöhnliche, Gesellschaft, aber gleich ein Gespräch? Oder steuerte das vielleicht doch noch auf das Anfangs befürchtete Streitszenario hin?
Hielt der Mann ihn vielleicht, aufgrund seiner Gepäckstücke, ebenfalls für einen Obdachlosen, einen fahrenden Straßenmusiker, mit dem er sich um den Schlafplatz streiten müsste?
Daniel wurde bewusst, dass er nach einem Wochenende des in-der-Walachei-zeltens wohl auch nicht unbedingt den frischesten und ausgeruhtesten Eindruck machte, und verspürte gleich das Bedürfnis, das etwaige Missverständnis mit einer Antwort zurechtzurücken.

„Vom Zelten, in der Nähe von Cloppenburg. Ich bin auf dem Weg nach Hause und warte auf den Bus“, Daniel lächelte erklärend, „Mein Bus fährt erst in ein-einhalb Stunden.“
„Ah, Cloppenburg.“, nickte der Obdachlose und sog an seiner Zigarette, „Da will ich auch noch hin …“
Daniel lächelte stumm und wusste einen Moment nicht, was er antworten sollte. Nach diesen kurzen Sätzen war ihm der Gedanke an ein zeitvertreibendes Gespräch doch noch recht angenehm vorgekommen.
„Und wo kommst du her?“, fragte er gedankenlos, einfach um das Gespräch weiter zu führen.
Der Obdachlose lächelte und erwiderte geheimnisvoll „Oooh, ich war schon an vielen Orten. Letzte Woche, da war ich noch in Münster.“
Dann ließ er seine aufgerauchte Zigarette auf den Boden fallen, trat sie mit seinen abgewetzten Stiefeln aus und starrte wieder in die Nacht.

Daniel wollte schon aufgeben und sich mit der Situation, schweigend neben dem fahrenden Obdachlosen zu sitzen und zu warten, abfinden, aber der Mann hatte seine Neugier geweckt. Ihm fielen die vier Bier ein, die er noch im Rucksack hatte.
Warum nicht auch die noch mit ihm teilen, wenn sich daraus ein weiteres Gespräch ergab? Sicherlich war auch der Obdachlose, der so zusammengesunken, schüchtern und müde neben ihm saß, um ein bisschen zwanglose Konversation und ein geschenktes Bier dankbar.
„Willst du auch ein Bier? Ich hab noch ein paar übrig“, fragte Daniel hoffnungsvoll.

Der Blick, den ihm der Mann auf diese Frage zurückwarf, ließ sich nur schwer beschreiben. Es lag Müdigkeit darin und unterdrücktes Misstrauen, vielleicht auch eher Unglauben. Daniel meinte, auch etwas Entrüstung darin zu lesen, und, was ihn viel mehr irritierte, Enttäuschung.
Trotzdem lächelte der Obdachlose nach einem Augenblick, nickte zögernd und meinte „Da. Äh, warum nicht.“
Daniel kramte zwei der Plastikflaschen-Biere aus dem Rucksack und hielt dem Obdachlosen eine davon hin. Dieser nahm es entgegen, öffnete es zischend und prostete ihm stumm zu.

Als er einen kleinen Schluck nahm, sah Daniel wieder deutlich, dass der Mann, wie die ganze Zeit eigentlich schon, sein Gepäck aus den Augenwinkeln musterte. Daniel wog die Chancen ab, die er in einer körperlichen Auseinandersetzung dem Obdachlosen gegenüber haben würde und kam zu dem Schluss, dass er ihm hoffnungslos überlegen war.
Auf der anderen Seite, bemerkte er, war unter seinen Sachen eigentlich nichts, was er nicht hätte entbehren können, abgesehen von seiner Gitarre natürlich. Kleidung, Liedtexte, die geleerten Bierflaschen, eine Flasche Leitungswasser (die zum waschen und Zähne putzen gedacht gewesen war) und Toilettenartikel.

Der zerschlissen und müde wirkende Obdachlose blickte einen Moment unschlüssig in sein Bier, dann auf Daniels Gepäck und schließlich hin zu seinem Fahrrad.
„Darf ich fragen, wie du heißt?“
„Daniel. Und du?“
Der Obdachlose lächelte, zum ersten Mal, seit er hier saß, ganz offen zurück und antwortete mit einem selbstsicheren Nicken „Ich bin Piotr. Freut mich, Daniel“, dabei hob er das Bier zustimmend in Daniels Richtung.

Daniel war jetzt erst recht neugierig.
„Darf ich fragen, wo du hinwillst? Oder weisst du das noch nicht?“
Piotr lachte verhalten und trank an seinem Bier. Daniel kramte seine Zigarettenschachtel wieder hervor, um sich zwei herauszunehmen und Piotr eine davon hinzuhalten. Dieser nahm sie ohne zu zögern entgegen und ließ sie sich anstecken.
„Ich weiß nicht genau, heute bin ich hier, morgen fahr ich weiter. Wo ich dann sein werde …“, er stieß die Luft aus und ließ die Lippen unter dem Luftstrom flattern, „keine Ahnung.“
Er sog an seiner Zigarette und trank einen Schluck Bier.
„Aber am Ende will ich irgendwo an die Nordsee. Vielleicht Bremerhaven, vielleicht Wilhelmshaven oder Cuxhaven.“
Er hob die Schultern und schien einen Augenblick überlegen zu müssen. „Oder in einen anderen kleinen Ort, aber ans Meer, bis nicht mehr weiter geht.“

Daniel war ebenso irritiert wie neugierig. Er hatte von einem fahrenden Obdachlosen einige Antworten erwartet, wie etwa `Ich hab kein Ziel, fahre von hier nach da und schaue was passiert`, oder `Erstmal schauen, wo ich vielleicht unterkomme`, aber dieser Mann schien ein, wenn auch etwas unbestimmtes, Ziel zu haben, und Daniel konnte nicht umhin, sich zu fragen, woher dieses ungewöhnliche Ziel kam.
Er konnte seine Neugier nicht zügeln und fragte „An die Nordsee? Und warum ausgerechnet dahin?“.

Piotr sah ihn mit einem schelmischen Glitzern in den Augen an und antwortete, um viele Ecken selbstsicherer, als Daniel es vermutet hätte, „Wenn du neugierig bist und du es hören willst, erzähl ich dir meine Geschichte. Zeit hast du?“
Daniel sah auf die Uhr.
„Jep. Noch ne Stunde mindestens. Erzähl ruhig.“
Piotr nickte zustimmend.
„Ok. Aber dann musst du mir auch noch einen Gefallen tun, da? Dann haben wir Geschäft? Ich erzähle, und du tust mir einen Gefallen?“
Piotr sah Daniels erschrockenen Blick und lachte.
„Nein, nein, nichts Schlimmes. Nichts Illegales oder irgendwas hergeben oder so was. Aber ich sag dir das nachher, wenn du dann doch nicht willst, musst du nicht tun, aber es wäre kleine Freude für mich … Eine Geschichte – ein Gefallen, das wäre der Deal.“

Daniel war noch immer nicht ganz beruhigt, dachte darüber nach, ob Piotr sich wohl nach einer Form von Nähe sehnte, die er sicherlich nicht bereit war, zu geben, aber zum einen hatte er auch gesagt, Daniel müsse es nicht tun und zum anderen war die Neugier einfach zu groß.
„Ok. Sag es mir nachher, und wenn ich kann, tu ich dir den Gefallen“, sagte er schließlich.
Piotr nickte zufrieden, senkte den Blick in seine Bierflasche und trank dann noch einen Schluck, bevor er anfing, zu erzählen.

„Ich komme aus der Nähe von Ratibor, einem kleinen Ort in Tschechien. Da bin ich geboren, auf einem Bauernhof, der gehörte meinen Eltern, und aufgewachsen auch.
Ich hab auch noch zwei Brüder gehabt und eine Schwester, und wir haben alle immer mitgeholfen, das war immer so. Wir hatten … ooh … bestimmt 10 oder 15 Kühe, für Milch, ein paar Hühner und manchmal auch Schweine, zum schlachten, aber die waren teuer. Und Felder auch, Weizen und Roggen, auch Mais, für die Kühe und Schweine.
Wir hatten es ganz gut, mit der Familie auf dem Hof, haben nicht viel gebraucht. Essen hatten wir vom Hof und Geld vom Milch verkaufen und so. Dann, als meine Schwester alt genug war, hat sie geheiratet, einen Mann von einem anderen Bauernhof, und war dann da.“
Piotr sah auf und lächelte Daniel an.
„Weißt du, damals waren mehrere Bauern da, wir haben Feste gemacht und haben uns immer geholfen, wenn zuviel Arbeit war. Und geheiratet wurde auch untereinander.“
Daniel nickte bloß verstehend und Piotr erzählte weiter.

„Dann ist mein ältester Bruder weggegangen, um zu studieren, Maschinenbau, und hat danach Arbeit gefunden und ist nicht mehr zurück. Aber mein anderer Bruder war noch da, und wenn zuviel Arbeit da war haben Leute von anderen Höfen geholfen, das ging noch.
Aber dann ist mein anderer Bruder gestorben, ein Unfall mit Traktor, und einige andere Bauern haben ihr Land verkauft, da kamen dann Siedlungen hin, mit Hochhäusern und so weiter, und da mussten wir bald Helfer bezahlen, damit die Arbeit fertig wurde. Das war ganz schlecht, weil unsere Milch zu teuer war, wir mussten sie billiger verkaufen, ging nicht anders, und Geld wurde auch knapp.
Ich hab trotzdem geheiratet, Jeschka aus einem Nachbarhof, das war gut, aber Kinder haben wir nicht gekriegt.
Wir mussten dann Felder verkaufen, damit wir Geld hatten, und dann konnten wir nicht mehr soviel anbauen. Meine Mutter ist dann oft in die Stadt gegangen, zum arbeiten, putzen und kochen manchmal, aber sie war irgendwann zu alt und konnte das nicht mehr machen, mein Vater später dann auch und was sollten wir machen, wir haben sie in ein Altenheim ziehen lassen.
Mein Bruder hat das bezahlt, und ich war mit meiner Frau alleine auf dem Hof. Auch andere Höfe waren nicht mehr viele da, also keine Leute die helfen konnten, und ich musste dann ein paar Hühner verkaufen, auch ein paar Kühe, und Schweine hatte ich dann auch schon lange nicht mehr.
Meine Frau, Jeschka, sagte immer, der Hof wäre schlecht, deswegen wäre alles so gekommen, und deswegen hätten wir auch keine Kinder. Und irgendwann ist sie von mir weggegangen …“
Piotr schluckte schwer, als er das sagte, und sein Blick wurde sehr trüb, als er einen großen Schluck Bier nahm.

„Danach hatte ich nicht mehr viel“, fuhr Piotr fort, als er sich gefasst hatte. „Ein paar Kühe und ein kleines Feld. Den Hof, leere Scheunen und ein großes Haus für mich alleine.
Die Kühe hab ich dann auch noch verkauft, wollte auch den Hof und das Land verkaufen, aber niemand wollte es haben.
Als ich es dann doch noch verkauft habe, für ganz wenig Geld, hab ich das meiste Geld dem Altenheim gegeben, damit es meinen Eltern gut geht.
Dann hab ich bei der Familie meiner Schwester gewohnt, die hatten noch einen Hof, aber nicht so viel Arbeit, dass es für mich auch gereicht hat, und auch nicht viel Geld. Das haben sie nicht gesagt, aber ich wusste das. Sie konnten das nicht sagen, weil, Familien müssen zusammenhalten, so war das immer gewesen.
Und da wollte ich meine Sachen nehmen und auch in die Stadt gehen, irgendwas arbeiten, aber ich war ja immer nur auf dem Hof gewesen, und da gab es nicht viel Arbeit für mich in der Stadt. Nicht gut bezahlt und immer nur kurz.
Dann hab ich mich erinnert, mein Bruder erzählte oft von der Nordsee und dem Meer, wo es so wunderschön sein sollte. Er hat da oft Urlaub gemacht, wir auf dem Hof hatten fast nie Urlaub, das Meer kannte ich nur von Karten und Bildern und Fernsehen.
Er sagte, das muss man erlebt haben, wunderschön sei das. Und da hab ich irgendwann mein altes Fahrrad genommen“, er deutete auf sein klappriges Rad mit dem Anhänger, „und meine Sachen und wollte eine Reise machen, zum Meer.“

Daniel schluckte schwer, als Piotr sich aufrichtete und damit zu signalisieren schien, seine Geschichte sei damit hinreichend erzählt.
Für Daniel blieben allerdings noch einige Fragen offen, aber er traute sich nicht zu fragen, nach all den höchst persönlichen Dingen, die Piotr umgetrieben haben mochten, ganz zuerst die Frage, was er denn machen wolle, wenn er bald angekommen war.
Daniel nickte bloß, kramte seine Zigaretten heraus und hielt sie Piotr hin, der dankbar zugriff.

„Na ja“, fügte Piotr dann doch noch hinzu, „Seitdem fahre ich durch die Städte, bleibe eine Zeit und bekomme manchmal Kleingeld, um Essen zu kaufen, manchmal kann ich in Häusern für Obdachlose schlafen und kriege dort auch Essen, aber ich fahre immer weiter“, lächelte er, und diesmal war es ein warmes, sehnsüchtiges Lächeln.
Er ließ sich die Zigarette anzünden.
„So, jetzt weißt du, warum ich ans Meer fahren will. Jetzt kannst du mir eine kleine Freude machen, bitte?“, und sein Blick wurde wieder unsicher und wehmütig.
Daniel nickte zögerlich.
„Du musst mir nur sagen, was, dann kann ich dir sagen, ob ich es tun kann.“

Piotrs Blick flog wieder über Daniels Gepäck und fixierte ihn dann. Er lächelte traurig, als er seine Bitte vorzutragen begann.
„Weißt du, ich vermisse mein zu Hause sehr, vor allem die Menschen und die Feste, die immer so schön waren …“
Piotr hielt einen Augenblick inne, und Daniel nickte fragend.
„Vielleicht könntest du mit deiner Gitarre etwas spielen, ein kleines Lied, etwas fröhliches, das mich an zu Hause erinnert?“

Irritiert erwiderte Daniel Piotrs bittenden, wehmütigen Blick und begriff, was dieser Mann von Anfang an im Sinn gehabt hatte, seit er Daniel und sein Gepäck gemustert hatte. Es war nicht mehr und nicht weniger gewesen als ein Lied, etwas Musik, dass ihn an seine Heimat denken ließ.
„Ich …“ stammelte Daniel „Ja klar … das kann ich machen, aber mir ist gestern eine Saite gerissen und … verstimmt ist sie auch ziemlich übel. Aber ich könnte irgendwas spielen, klar.“

Piotr atmete erleichtert auf.
„Das macht nichts, Hauptsache ein bisschen Musik.“
Daniel befreite seine Gitarre aus ihrer Tasche, stimmte sie nach Gehör, so gut er konnte, und spielte irgendwas vor sich hin, bemüht, es nach etwas klingen zu lassen, das aus Piotrs Heimat stammen könnte, und als er eine Melodie gefunden hatte, summte Piotr schließlich mit.
Nach einer Weile hatte Daniel sein Zeitgefühl zwischen den Melodien verloren, es musste mindestens eine halbe Stunde vergangen sein, in denen die beiden ungleichen Männer nebeneinander gesessen und sich über ein kleines bisschen, wenn auch schlecht gespielte, Musik gefreut hatten.
Das begriff Daniel aber erst, als er die Rückleuchten eines Busses in der Dunkelheit verschwinden sah. Der einzige, der um diese Uhrzeit noch fuhr.

 

Hej Konfusius,

ich will ganz ehrlich sein. Anfangs habe ich deine Geschichte nur ausgewählt, weil ich alle anderen neuen schon gelesen habe, denn der Titel ist so trocken. Ich hatte keinen Schimmer, aber auch kein großes Interesse. Die ersten beiden Absätze war ich auch immer noch skeptisch, zu viel Bahnhof, Plexiglas und Warten. Ich hätte auch die Absätze der vielen Zweifel und Ängste nicht gebraucht.
Aber als die beiden dann schließlich in Kontakt kamen, war mein Eis gebrochen. Du hast den Obdachlosen streckenweise wundervoll reden lassen, ich hörte seine Mutlosigkeit, seine Müdigkeit, seine Liebenswürdigkeit, aber auch seine Erinnerungen, die fest in ihm verankert waren und die ihn vielleicht nicht völlig verzweifeln ließen, ihm Hoffnung gaben und ihn nicht dazu veranlassten, verbittert und missgünstig zu sein. Das war sehr feinfühlig.
Der Deal machte die Story dann auch noch spannend und ich war sehr glücklich, über den Ausgang.

Ich bin jetzt leider nicht in der Stimmung, Passagen heraus zu pfriemeln, die etwas holperig klangen. Tut mir leid. Sicher erledigen das andere nette Menschen hier.

Danke für die schöne Geschichte des Aufeinanderzugehens, Vorurteileabbauens und der leisen Töne.

Herzliche Grüße, Kanji

 

Danke Kanji für die ehrlichen Worte. Mit dem Einstieg bin ich auch noch nicht hundertprozentig zufrieden, wusste (nach vielem herumtexten, streichen und formulieren) dann nicht mehr weiter. Vielleicht haben noch ein paar Leute Tipps dazu. Es freut mich, dass dir der Obdachlose gefallen hat, da hab ich mir viel Mühe mit gegeben :)
Über den Titel der Geschichte hab ich so gar nicht nachgedacht, sollte ich vielleicht mal tun,
Danke und schönes Wochenende,
Konfusius

 

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