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Eine ganz normale Deutschstunde
Katja geht in die 11. Klasse eines Gymnasiums. Heute ist wieder einer dieser berühmt berüchtigten Schultage, an denen sie sich fragt, warum sie überhaupt heute morgen aufgestanden und zur Schule gegangen ist. Es hat schon morgens früh angefangen zu regnen, es ist November. Katja hat etwas verschlafen, ist spät ‘dran. Sie hat sich hastig fertiggemacht und ist ohne Frühstück aus dem Haus. Um Haaresbreite hätte sie noch ihre Bahn verpasst. Sie geht noch zwei Häuserblocks weiter und erreicht das Schulgelände.
Während Katja über den Schulhof schlendert, erfüllt sie eine große Sehnsucht nach ihrem Bett und nach der Geborgenheit zu Hause. „Hey, mein Bett ist bestimmt noch warm", denkt sie bei sich. Da trifft sie schon auf Ina, eine Schulkollegin, die zwei oder drei Kurse mit ihr zusammen hat. „Hey Katja, na hast du deine Deutschhausaufgaben?“ Katja sieht ihr diebisches Grinsen auf beiden Wangen, weiß sie doch genau, dass Katja sehr schüchtern ist und sich nicht traut, vor dem Kurs etwas frei vorzutragen. Verstohlen sieht Katja an ihr vorbei und schiebt die Türe zur Pausenhalle auf, durchquert den großen Flur in den Kursraum, in dem sie in den ersten beiden Stunden Deutsch hat.
„Eine Doppelstunde,“ denkt Katja ängstlich, „ hoffentlich überlebe ich das.“ Ihr Deutschlehrer ist eigentlich ganz nett, verständnisvoll, lässt sich aber dennoch nicht auf dem Kopf herumtanzen und kann mitunter sehr forsch agieren. Nach und nach finden sich alle im Kursraum ein, auch Gregor, ein süßer Junge, für den sie seit Langem schwärmt. Herr Derker, ihr Deutschlehrer ist heute morgen wieder überpünktlich. Schade also, auch nicht einmal fünf Minuten Ruhe vor Unterrichtsbeginn. Nach kurzer Begrüßung wird auch schon sofort wieder in den Unterrichtsstoff eingestiegen. Im Unterrichtsplan stehen expressionistische Gedichte. Eine Gedichtsanalyse war die Hausaufgabe zur heutigen Stunde.
Katja weiß, dass Herr Derker immer jemanden aus dem Kurs herauspickt, der dann sein Wissen zum Besten geben darf oder muss. Katja wird es flau in der Magengegend. „Was ist, wenn er mich ‘dran nimmt,“ denkt sie ängstlich bei sich. „Was ist, wenn ich mich verlese, verhaspele oder sogar vor Schreck stottere?“ Alle würden lachen, aber was vor Allem würde Gregor denken? „Bitte, bitte,“ denkt sie, „nimm nicht mich ‘dran!“ Herr Derker blickt durch die Reihen. Eine Anspannung liegt unter den Kursteilnehmern. Man kann eine Stecknadel fallen hören. Jeder hofft insgeheim nicht vortragen zu müssen, zumal es für jede Hausaufgabe eine Einzelnote gibt. Das handhabt Herr Derker schon immer so.
Da hört Katja es wie ein Donnerschlag aus Herrn Derkers Mund: „Von Katja haben wir ja schon lange nichts mehr gehört!“ Sie hört wie ein Teil der anderen Kursteilnehmer schmunzeln. Katja bekommt ganz weiche Knie. Sie starrt verängstigt und geschockt auf ihren Ordner, indem sich ihre Hausaufgabe befindet - tadellos. Sie bringt aber nicht den Mut auf, sie vorzutragen. „Ich, ich habe sie vergessen,“ stammelt sie. Ihre Mitschüler brechen im Gelächter aus. Herr Derker brüllt wütend: „Na Fräulein, das wird Konsequenzen haben, du kommst nach der Stunde noch mal zu mir!“ Am Liebsten würde Katja in Erdboden versinken. Diese Blamage, gerade auch vor Gregor. Sie ist wie am Boden zerstört, von Selbstzweifeln zerfressen. Sie traut sich fast gar nichts mehr zu.
Von dem Rest der Unterrichtsstunde bekommt sie fast gar nichts mehr mit. Eigentlich war Deutsch immer schon eines von Katjas Lieblingsfächern, daher hat sie auch immer ihre Aufgaben gemacht. Wenn bloß nicht immer diese ständigen Ängste wären, zu versagen.
Während der ganzen Unterrichtszeit ist Katja immer in Anspannung und hofft ständig, nicht aufgerufen zu werden. Zweifelsohne hätte sie sich an Unterrichtsgespräch beteiligen können. Sie hätte sogar oftmals wesentlich bessere Argumente als ihre Mitschüler gehabt.
Als sich die Stunde dem Ende neigt, fühlt Katja schon wieder eine Angst in sich aufsteigen. Gleich wird sie bei Herrn Derker vorne antreten müssen. Sie weiß bereits jetzt, dass das nichts Gutes bedeutet. „Hoffentlich haben alle Mitschüler und vor Allem Gregor den Klassenraum dann verlassen“, denkt sie bei sich. Herr Derker gibt noch die Hausaufgaben für die nächste Stunde auf. Katja muss jetzt ihren Gang nach Kanossa angehen. Ihr Deutschlehrer beschwert sich über ihr Verhalten, über ihre Zurückhaltung. Wenn sie im Unterricht nicht mitmachen würde, bekäme sie im mündlichen Bereich eine fünf. Er interpretiert ihr Verhalten als schlichte Faulheit, was er Katja in seiner Notengebung auch spüren lässt. „Aber, aber, ich habe meine Aufgaben doch gemacht,“ stammelt Katja, „hier, ich kann Ihnen meinen Ordner zeigen.“ Ihr Lehrer entgegnet wütend, ironischem Unterton: „Fräulein, wir sind hier nicht im Kindergarten, wer sich in der Oberstufe nicht am Unterricht beteiligen kann oder will, der gehört schlicht und ergreifend nicht hierher. Ende der Diskussion!“
Katja fühlt sich unverstanden, als sie mittags nach Hause geht, Hoffnungslosigkeit macht sich bei ihr breit. "Ich werde es niemals schaffen," denkt sie. "Alle Anderen können das, nur ich nicht. Aber warum habe ich immer diese verdammte Unverstandenheit und Hoffnungslosigkeit,“ fragt sie sich. „Liegt der Schlüssel zum Glücklichsein vielleicht in mir selbst, in meinem Innern?“ Manchmal ist sie sich da nicht sicher. „Aber warum sind es immer die Anderen? Sind immer die Anderen am Einzelschicksal Schuld? Was kann ich machen, damit aus mir wirklich wieder ein glücklicher Teenager wird?“ Von dem heutigen Vorfall wird sie zu Hause nichts erzählen. Aber sie weiß, dass ihre Eltern es spätestens auf dem nächsten Zeugnis erfahren werden. Sie hat Angst, dass sie ihr Abitur nicht schafft. Früher oder Später, das weiß sie, muss sie sich jemandem anvertrauen.