Mitglied
- Beitritt
- 29.06.2017
- Beiträge
- 3
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Eine Frage der Schuld
So wie ich war, war ich fortgelaufen. Ich verließ das Haus und ich kam nie zurück. Ich hörte einfach nicht auf die Füße zu bewegen. Nicht, als sie mir wehtaten. Auch nicht, als ich vor Schmerzen anfing zu humpeln. Ich habe die Schuhe heute noch. Verstaut in einer kleinen schwarzen Kiste. Die Sohle dünn wie Papier, die sich vom Schuh ablöst. Ich erinnere mich an das flappende Geräusch, das die lose Sohle beim Gehen machte. Ich trank Wasser aus Brunnen und Regentonnen. Ich aß, was ich finden oder im Vorbeigehen mitnehmen konnte. Nicht nur einmal hat mir eine Fehleinschätzung tagelange Bauchschmerzen beschert. Als es dunkel wurde schlief ich am Straßenrand vor Erschöpfung ein.
Nachdem eine gewisse Zeit vergangen war, fing sich der Schleier, der sich um meinen Geist gelegt hatte, an zu lichten. Langsam nahm ich meine Umgebung wieder war. Die Erinnerung jedoch hatte ich tief in mir vergraben. Es wurde kälter und ich begann in Scheunen Schutz vor dem nächtlichen Frost zu suchen. In einer solchen Scheune, zusammengerollt unter einem Berg von Stroh, der zwar piekste, aber mich zumindest warm hielt, fand mich eines Tages ein Bauer. Er und seine Frau nahmen mich auf wie den Sohn, der ihnen verwehrt geblieben war. Die Dorfschönheit verliebte sich in mich und ich übernahm meines Ziehvaters Hof. Dort verbringe ich nun meinen glücklichen Lebensabend, gesegnet mit vielen Kindern und Enkelkindern. Die Dorfschönheit hieß Isabella und sie hatte wallendes schwarzes Haar und leuchtende grüne Augen. Ihre hohen Wangenknochen verliehen ihr ein edles Antlitz und wenn sie ging, so wiegte sie ihre Hüften sacht von der einen zur anderen Seite auf eine so anmutige Art und Weise, dass jedem, egal ob Mann oder Frau, jung oder alt, der Atem stockte. Nun könnte man meinen, dass sie durch ihr Aussehen viele Neider gehabt hätte. Doch auch ihr liebreizendes und bescheidenes Wesen glich mehr dem eines Engels als einem Menschen. Auch ich hatte mich zu einem gutaussehenden Burschen entwickelt. Groß von Gestalt und fest im Charakter, der sich um seine Lieben sorgt und im Dorf bekannt war für seine Klugheit, seine Tatkraft und seinen gerechten Geist. Wie jedes Jahr, so wurde auch in diesem Jahr die Dorfkönigin gewählt. Auf dem dazugehörigen Weinfest nun, sah ich Isabella zum ersten Mal. Natürlich wusste ich da noch nicht, wie sie hieß, aber es kostete mich keine Mühe, ihren Namen herauszufinden. Wie in jedem Dorf so gab es auch hier eine Rosi, eine Bäckersfrau, eine Nachbarin – eben eine Frau, die über alles und jeden Bescheid wusste. Und zu ihr ging ich, um Isabellas Namen zu erfahren und zu fragen, wie ich es anstellen sollte, damit sie mich heiratete. Die alte Frau lachte und riet mir, ich solle mir doch erst einmal die Welt und die Frauen anschauen, bevor ich ans Heiraten dachte. Aber ich war mir sicher, dieses Mädchen sollte es sein.
Die nächsten Jahre verbrachte ich also damit, mich nach Isabella zu verzehren, wenn ich nicht gerade meinem Ziehvater auf dem Feld oder meiner Ziehmutter im Stall half. Ich schrieb Gedichte, die ich ihr nie vortrug, ich legte Blumen vor ihr Haus, von denen sie niemals den Absender erfuhr, die sie jedoch stets in einer kleinen Vase anrichtete und in ihr Fenster stellte. Eines Tages, als ich wieder einmal im Schutz der Dunkelheit einen Strauß vor ihr Haus legen wollte, entdeckte ich an genau dieser Stelle einen kleinen Stein, auf den eine Blume gemalt war. Hellblau und so zart, als hätte der Pinsel die Oberfläche kaum berührt. Ich nahm ihn an mich und machte die ganze Nacht vor Glück kein Auge zu. So entsponn sich ein Ritual zwischen uns. Ich legte ihr Blumen vor das Haus und sie malte eine der Blumen, die ich ihr gebracht hatte, auf einen Stein, den sie mir schenkte. Diese Steine reihte ich neben meinem Bett in einem Regal, das ich eigens dafür angefertigt hatte, auf und ließ mich Abend für Abend von ihrem Anblick in den Schlaf begleiten, während ich von Isabella und unserer gemeinsamen Zukunft träumte. Eines Nachts jedoch lief es nicht ab wie gewöhnlich. Isabellas Vater stolperte über mich, als er von seiner Nachtschicht nach Hause kam, während ich gerade einen Strauß auf seine Türschwelle legte. Gott sei Dank passierte das, denn wer weiß wie lange das Spiel sonst noch gedauert, ohne dass Isabella jemals erfahren hätte, wer ihr Blumenkavalier eigentlich war.
Ich ging also in die Knie und beugte mich vornüber, um die Blumen auf den steinernen Treppenabsatz zu legen. Ich summte dabei leise vor mich hin, um meine Nervosität in Schach zu halten, die mich stets überfiel, wenn ich mich in Isabellas Nähe befand. Mit einem Mal bekam ich einen fürchterlichen Tritt in die Magengrube und wurde zur Seite geworfen. Kurz darauf begrub mich ein Koloss unter sich und auch das letzte Quäntchen Luft, das nach dem Tritt noch in mir war, wurde aus mir herausgepresst. Ich muss dabei ohnmächtig geworden sein, denn das nächste, an das ich mich erinnere ist die Tischplatte in Isabellas kleiner Küche, auf der mein Kopf lag. Ich hob meinen Kopf und sah direkt in die funkelnden Augen ihres Vaters, der mir gegenübersaß. Dort saß ich also, elend und beschämt. Ich weiß nicht genau, wie lange wir so dasaßen – ich den Blick zu Boden gerichtet – er den Blick auf mich gerichtet. Irgendwann jedoch öffnete sich die Küchentür und Isabella kam herein. Schöner, als ich sie je zuvor gesehen hatte. Eingehüllt in einen langen, mit Blumen bestickten Morgenmantel, die Haare offen und ein freundliches Lächeln umspielte ihre Lippen. In der einen Hand hielt sie den Blumenstrauß und in der anderen ihren bemalten Stein. Sie lächelte mich an, ergriff meine Hand und legte den Stein hinein. Ihr Vater schaute zwischen uns hin- und her, während unsere Blicke ineinander versanken. Schließlich lachte er, klatschte in die Hände und rief „dann wäre das ja endlich erledigt!“. Mit diesen Worten streckte er sich auf der Küchenbank aus und verfiel in den tiefen Schlaf eines sorgenfreien Mannes. Isabella und ich waren seit diesem Tag unzertrennlich und sind es bis heute. Ich erzähle diese Geschichte gern, wenn mich jemand nach meiner Vergangenheit fragt. Es macht die Menschen glücklich, wann immer ich ihnen von Isabella erzähle.
Doch das hier ist keine Geschichte. Es hat nie eine Isabella gegeben, keine Weinkönigin und ich träumte auch nicht von meiner Zukunft an der Seite einer liebenden Frau. In Wirklichkeit weiß ich nicht, ob meine Tage oder meine Nächte schlimmer waren. Wenn ich überhaupt schlafen konnte, träumte ich von zu Hause und von meiner Flucht und tagsüber erlebte ich ständig neue Alpträume. Verstört und von Träumen geplagt streunte ich eines Nachts durch die nahegelegene Kleinstadt, die ich ansonsten mied. Dort traf ich Joan. Die einzige Frau, mit der ich je so etwas wie eine Beziehung führte. Sie war nicht schön. Aber sie hatte ein gutes Herz. Oder zumindest vermute ich, dass sie ein gutes Herz gehabt hätte, wäre sie nicht als Kind von ihrem Onkel missbraucht worden. Sie wollte nie darüber sprechen, aber es spiegelte sich in jedem ihrer selbstzerstörerischen Gedanken und ihren Handlungen wieder. Ich hätte die Anzeichen aber auch mit verbundenen Augen erkannt. Sie war wie ich. Trinken in ihrer Familie war das Pendant zum gemeinsamen Mittagessen in anderen Familien. Gemeinsames Trinken war der soziale Teil des Familienlebens, zumindest bis zu einem gewissen Pegel. Der Rest waren Geschrei und Gewalt. Das Trinken vermittelte ihr daher ein warmes Gefühl, die einzige Liebe, der einzige Frieden, den sie je gekannt hatte. Und ich fing an mich als Beschützer aufzuspielen. Ich wollte sie retten. Ausgerechnet. Ich machte ihr so lange Komplimente, bis sie anfing mir zu glauben. Ich schaffte es, so lange ein stabiles Leben zu führen, bis sie begann sich sicher zu fühlen. Ich wusste, was sie brauchte und wonach sie sich am meisten sehnte. Ich holte sie nachts von weiß Gott wo sturzbetrunken ab, ohne ihr je Vorwürfe zu machen. Ich brachte ihr Wasser und Kopfschmerztabletten ans Bett, wenn es ihr wieder besonders schlecht ging, was ungefähr alle zwei Wochen vorkam. Denn das war der Zyklus. Absturz, Gelöbnis zur Besserung, ein paar Tage nüchtern oder zumindest annähernd nüchtern, an denen wir häufig Ausflüge machten. An diesen Tagen konnte man sehen, was aus ihr hätte werden können. Sie lachte und hätte sie Grübchen gehabt oder Sommersprossen, so könnte ich jetzt sagen, dass diese in solchen Momenten zum Vorschein kamen und sie dann zumindest hübsch war. Aber so war es nicht. Denn wenn sie lachte, so zog ihr Gesicht eine beinahe furchterregende Fratze. Ihre schlecht verheilten Narben, die sich über beide Wangen zogen, spannten sich dann und sahen aus, als würden sie jeden Moment aufreißen. Ihre ausgemergelte Gestalt machte seltsame zuckende Bewegungen beim Lachen, mehr Spastik als Anmut.
Ich erinnere mich trotzdem gern an diese Tage. Sie war neugierig, auf mich, auf die Welt. Sie war nicht dumm, aber der Alkohol hatte schon früh dazu geführt, dass sie die Schule verließ und sich für nichts anderes als ihren Rausch interessierte. Und so stellte sie Fragen über Fragen, die ich ihr mühevoll versuchte zu beantworten. An diesen Tagen schliefen wir auch häufig miteinander. Sanft und vorsichtig. Auch nach Monaten ging ich jedes Mal genau so behutsam vor, wie beim ersten Mal. Und sie war jedesmal genau so verängstigt wie beim ersten Mal. Nicht, dass es ihr keinen Spaß gemacht hätte. Ich zwang sie nicht, die Initiative ging sogar häufig von ihr aus. Aber um sich zu öffnen, musste sie jedes Mal den Bereich in sich betreten, der ansonsten hinter dicken Mauern, mit Schlössern und Stacheldraht verborgen war. Und jedes Mal schwappte der Schmerz mit heraus, auch wenn wir noch so vorsichtig vorgingen. Und so waren wir beide auch irgendwie immer erleichtert, wenn es vorbei und einigermaßen gut gegangen war. Anschließend schliefen wir dann aneinander gekuschelt auf ihrer schmalen Matratze in dem winzigen, schäbigen Zimmer ein. Wenn wir am späten Vormittag erwachten, machte ich uns Frühstück und brachte es ihr ans Bett. An diesen Vormittagen fing sie meistens bereits an Streit zu suchen. Sie mochte kein Frühstück im Bett, wegen der Krümel. Ich solle nicht immer Geld für frische Brötchen ausgeben, wir hätten sowieso zu wenig. Womit sie recht hatte. Ich jobbte nur gelegentlich und mit ihrem Geld als Parkplatzkassiererin, ein Job, den sie auch noch mit 2,0 Promille erledigen konnte, ließen sich auch keine großen Sprünge machen. Ich zeigte mich einsichtig oder diskutierte mit ihr. Es spielte eigentlich keine Rolle. Sie nahm mein Verhalten als Anlass für einen Streit, der ihr wiederrum die Gelegenheit gab, wutentbrannt aus der Wohnung zu stürmen und spätnachts besoffen zurück zu kommen. Am Tag darauf fing sie schließlich schon direkt nach dem Aufwachen an zu trinken, kein Wort mehr über Besserung oder Veränderung, keine Scham mehr. War ihr Vorrat aufgebraucht, ging sie Nachschub holen, um dieses Mal völlig abzustürzen. Ich hörte dann tage-, einmal sogar wochenlang nichts von ihr. Irgendwann rief sie mich dann an und ich holte ich sie nachts irgendwo ab und kümmerte mich am nächsten Morgen um sie und die Folgen ihres Absturzes und so begann der Kreislauf von Neuem.
Ich möchte jetzt gerne sagen, dass sie Schuld daran war, dass das Folgende geschah. Dass sie mir keine Wahl ließ. Dass ihre Alkoholsucht unsere Beziehung zerstörte. Dass ich ein anderes Mädchen sicher hätte lieben können. Vielleicht eines, das weniger Probleme hatte, dafür aber hübscher war. Doch das ist nicht wahr. Rückblickend betrachtet veränderte es sich genau zu dem Zeitpunkt, an dem es ihr besser zu gehen schien. Nicht, dass sie nicht mehr trank, aber sie stürzte nicht mehr so tief. Sie sprach mehr. Sie fing an zu lesen. Sie redete sogar davon, ihren Schulabschluss nachzuholen. Ich hätte mich für sie freuen sollen. Doch ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sogar sie es schaffen konnte. Ich fühlte mich von ihr verraten. Das erste Mal waren Blumen der Auslöser. Sie hatte Blumen auf die Fensterbank gestellt. Und ich wurde wütend. Ich schrie sie an. Ich sagte ihr, sie sei das Letzte. Und ich schlug sie. Ja, das tat ich. Ich war wie von Sinnen. Ihre Hilflosigkeit und ihr verzweifelter Versuch zu vergessen, ekelten mich an. Dieses Mal stürmte ich hinaus und betrank mich. Da ich sonst nie trank, ging das deutlich schneller als bei ihr und schon nach zwei Stunden lag ich in irgendeinem Hauseingang. Als ich schließlich wieder zu mir kam und mir bewusst wurde, was ich getan hatte, ging ich zurück zu ihrer Wohnung. Ich ging eigentlich nicht. Ich rannte, ich torkelte. Ich hatte Angst. Ich konnte nicht begreifen, wie ich sie hatte schlagen können. Die Türe zu ihrer Wohnung war offen, wie eigentlich immer. Ich betrat den Raum und sah sie auf ihrer Matratze sitzen, dem einzigen Möbelstück in der Wohnung, mal abgesehen von der kleinen Kochnische. Aus dem Augenwinkel konnte ich das dreckige Senfglas sehen, in das sie die Blumen gestellt hatte. Ich atmete tief ein und mit dem Ausatmen ging ich weiter in den Raum hinein. Ich kam mir schäbig vor, meine Kleidung durchtränkt mit meiner eigenen Kotze und Pisse. Den fettigen schulterlangen Haaren. Barfuß – meine Schuhe hatte mir in der Nacht jemand geklaut oder ich hatte sie verloren. Ich erinnerte mich nicht. Sie hob den Kopf und ich konnte ihre bereits violett angeschwollene Wange sehen. Sie hatte geweint, natürlich. „Wo warst du?“ ihre Stimme rau und nur ein Flüstern. Doch ihre Wut und ihr Schmerz schrien mich förmlich an. Sie sah meinen Blick und obwohl sie alle Kraft aufwendete, konnte sie nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Du bist der Strahl meiner Sonne“. Ja, so hatte ich mich ausgedrückt. „Wir schaffen es“, das hatte ich ihr versichert. Monatelang. Und dann hatte ich sie geschlagen. Sie war verletzt, das war deutlich zu sehen. Aber es war nichts, was sie nicht schon hundert Mal erlebt hätte. Und sie brauchte mich. Sie wollte, dass ich mich entschuldigte. Ihr Blick war so flehend und ich fühlte mich elend bei dem Gedanken daran, was ich ihr angetan hatte. Also blieb ich. Ich ging zu ihr, zog sie hoch und nahm sie in den Arm. Sie vergrub ihr Gesicht an meinem Hals. So standen wir lange da. So lange, bis ihr Schluchzen und ihre Umklammerung nachließen und ich sie vorsichtig hinlegen konnte. Ich bettete ihren Kopf in meinen Schoß und strich ihr die strähnigen Haare hinters Ohr. Immer wieder bis sie eingeschlafen war. Ich sagte mir, dass es ein Ausrutscher war. Dass meine Erinnerungen nicht so tief vergraben waren, wie ich angenommen hatte. Dass meine Gefühle mich überrascht und ich in dem Moment gar keine Chance gehabt hatte. Dass ich wie in Trance gewesen war. Und das sagte ich auch ihr. Sie glaubte mir. Dieses Mal und auch jedes Folgende in den nächsten zwei Jahren.
Das eine Mal versicherte ich ihr, dass es nun wirklich das letzte Mal gewesen sei, dass andere Mal war die Situation besonders schwierig für mich und ein drittes Mal stimmte sie mir zu, dass sie auch mit Schuld gewesen sei. Sie verzieh mir und sie nahm mich jedes Mal wieder auf. Irgendwann fand ich an jeder Ecke einen Anlass, um auszurasten. Jedes Wort von ihr, jede Handlung konnten ein Auslöser sein. Vor allem Eifersucht entdeckte ich als Quelle unsäglichen Hasses. Wann immer ich mitbekam, dass sie sich bei einem Mann bedankte, der ihr die Tür auf hielt oder an der Supermarktkasse einen schönen Tag wünschte, loderte die Wut in mir auf und ich war kaum mehr zu bremsen. Proportional zu der Häufigkeit meiner Taten schwand mein schlechtes Gewissen, bis ich schließlich einen Zustand erreichte, an dem ich glaubte im Recht zu sein.
--
Einer meiner Gelegenheitsjobs bestand darin, Parkuhren zu kontrollieren. Nicht wie eine Politesse mit Strafzettel. Ich wurde dafür bezahlt, in der Stadt herumzulaufen und zu überprüfen, welche Parkuhren defekt waren und zu reparieren bzw., wenn mir das nicht gelang, darüber zu berichten. Meistens lag es jedoch bloß daran, dass sich eine Münze verkeilt hatte. Ich brauchte die Parkuhr nur aufzuschließen, die Münze zu entfernen und das Rad einmal herumzudrehen. Die Münze sah ich als mein Eigentum an. Von diesem „Finderlohn“ kaufte ich mir mein Mittagessen und verbrachte den Rest des Tages im Park. Dort sah ich Joan eines Tages, wie sie sich mit einem Mann unterhielt, der auf einer Parkbank saß. Er war gut gekleidet und sie lachte über irgendetwas, das er zu ihr sagte. An diesem Abend wartete ich auf Joan als sie von ihrer Schicht nach Hause kam. Ich schaute mich im Zimmer um. Sie hatte Haken in den Boden des Hängeschranks in der Küchennische geschraubt und die drei Tassen, die sie besaß, daran aufgehängt. Die Risse in den Türen des Schranks hatte sie vergeblich versucht mit Dekorationsfolie zu überkleben. An den Stellen, an denen sie sich immer wieder ablöste, hatte sie mit Klebestreifen nachgeholfen. Doch die gesamte Folie rollte sich an den Kanten immer wieder ein und dort sammelte sich der Schmutz, der nicht aus der Wohnung zu bekommen war. Das alles führte dazu, dass der Schrank schmuddeliger aussah als vorher. Das galt für all ihre Verschönerungsversuche in der Wohnung. Ein auf ein normales Blatt Papier ausgedrucktes Foto von uns hatte sie über ein Loch in der Wand geklebt und mit Filzstiften Blumen darum gemalt. Nun konnte sie ja viel, aber Malen gehörte bestimmt nicht dazu. Eigentlich konnte sie überhaupt nicht viel. Wenn ich genau darüber nachdachte, so konnte sie eigentlich gar nichts. Sie konnte nicht Malen, nicht Kochen, nicht Putzen, sie konnte noch nicht einmal verfickte Folie ordentlich auf einen Schrank kleben. Apropos ficken, das konnte sie auch nicht. Dieses elende Herumtasten und vorsichtig Annähern, diese wahrscheinlich nur vorgespielte Schüchternheit, mit der sie jede Leidenschaft, jedes Brennen im Keim erstickte. Wahrscheinlich war ihre gesamte Lust schon aufgebraucht, wenn sie zu mir kam, weil sie während ihrer Mittagspause irgendwelche Bonzen in ihren Autos besinnungslos fickte. Stöhnte und schrie und sich an ihren Schwänzen rieb bis sie…in dem Moment hörte ich sie im Hausflur. Ich ging zur Tür und öffnete sie direkt vor ihr, sah in ihre Augen, die mich zuerst erstaunt, aber freudig anblickten, um dann in Sekundenschnelle ihr Entsetzen widerzuspiegeln, das sie ergriff, als ich sie am Hals packte und in die Wohnung zerrte. Ich trat und hieb mit meinen Fäusten auf sie ein. Ich spuckte und rotzte ihr ins Gesicht. Ich hörte ihr Schreien, ich hörte ihre Worte, die sich entschuldigten, ohne zu wissen wofür. Ich nannte sie Hure und Schlampe und schrie ihr ins Gesicht, ich wüsste, dass sie es hinter meinem Rücken mit der halben Stadt treibe, ich hätte sie gesehen, heute im Park. Ihre Tränen interessierten mich nicht. Ihr Schluchzen, ihre Schreie interessierten mich nicht. Es interessierte mich nicht, dass es ihr Therapeut war, den sie zufällig im Park getroffen hatte. Sie log doch ohnehin die ganze Zeit. Blut tropfte aus ihrem Mund und ich stieß ihr Gesicht mit meinem Fuß hinein. Sie hatte sich unter meinen Tritten zusammengekrümmt und versuchte ihren Kopf hinter ihren Armen zu verbergen. Ich ging neben ihr in die Hocke, verrieb mit meinen Händen ihr Blut auf dem Fußboden und schrie sie an, sie sei Dreck, genau wie diese Wohnung und ihr ganzes Leben. Sie sei selbst schuld an all dem. Mit diesen Worten erhob ich mich und verließ die Wohnung. Nicht erstarrt vor Schreck wie bei den ersten Malen, gehetzt und ungläubig darüber, was ich getan hatte. Sondern langsam. Ich drehte mich an der Tür noch einmal um, um sie anzusehen und ich empfand so viel Abscheu, so viel Hass, dass ich gehen musste oder ich hätte sie umgebracht.
Es war bereits dunkel draußen und es war eine Gegend, in der sich jeder nur um sich selbst kümmerte und so erregte ich mit meinen blutverschmierten Händen nur wenig Aufsehen. Die, die es bemerkten, sahen schnell weg und beschleunigten ihre Schritte, um außer Sichtweite zu kommen. Ich betrat die nächstbeste Kneipe und ging in dem spärlich beleuchteten Raum zur Toilette, um das Blut abzuwaschen. Dabei sah ich in den verdreckten Spiegel und in meine Augen, wie schon häufiger. Die ersten Male konnte ich meinem eigenen Blick kaum stand halten, stürzte aus dem Waschraum und trank mich besinnungslos. Doch jedes Mal fiel es mir schwerer über das, was ich getan hatte, erschrocken zu sein. Dann dachte ich, vielleicht stehe ich unter Schock. Schock würde es erklären. Die Ruhe, die ich seit einiger Zeit nach meinen Ausrastern verspürte. Meine Hände zitterten nicht. Mir war nicht schlecht und ich bereute auch nichts. Ich war nicht geschockt. Dieses Mal betrank ich mich nicht. Ich brauchte nichts, um meine Nerven, um mein Gewissen zu beruhigen. Ich war ruhig. Ich fühlte mich nicht schuldig. Sie hatte es verdient. Ich saß einfach nur an der Theke. Jemand stellte ein Bier vor mich hin, das ich jedoch nicht anrührte. Irgendwann wurde ich müde und weil ich nicht wusste wohin ich sonst gehen sollte, ging ich zurück zu Joan. Als ich die Türe öffnete, erhob sie sich von der Matratze. Dieses Mal sah sie mich lange an, als ich in der Tür stand und mit einem Mal sah sie etwas, das ihr bisher entgangen war. Sie sah mich. Und mein Blick war nicht der eines Liebenden, der zurückkehrte. Das war kein reumütiger Blick, der auf Vergebung hoffte. Der hoffte, wieder aufgenommen zu werden. Ich war nicht ihretwegen hier. Ich war nicht hier, weil ich sie liebte. Die Wut, die sich in ihrem ganzen Leben in ihr aufgestaut hatte, brach mit solcher Wucht aus ihr hervor, dass es sie aus dem Gleichgewicht brachte. Sie schrie. Sie formte keine Worte. Sie schrie wie von Sinnen. Halb rannte sie, halb stürzte sie mit erhobenen und zu Fäusten geballten Händen auf mich zu. Sie fiel, bevor ich sie ergreifen konnte und im Sturz übermannte sie plötzlich der Schmerz. Die Wut verschwand und aus den Tiefen ihrer Seele bahnte sich der Schmerz seinen Weg durch ihre Eingeweide. Wie ein Parasit hatte er über all die Jahre hinweg in ihrem Innersten gesessen, sich in sie hineingefressen und sich Tentakeln gleich in jede Faser ihres Körpers und ihrer Seele geschlängelt. Nun brach er mit aller Macht frei und entlud sich in einem Tränensturm, der kaum dass er losgebrochen war, bereits ihr Shirt durchnässte und sie in markerschütterndem Schluchzen vor mir auf die Knie sinken ließ. Ich fühlte nichts. Nach einer Weile hob ich sie auf und legte sie auf ihre Matratze. Sie schlief fast augenblicklich ein. Zerschunden und zerstört. Ich blieb über Nacht bei ihr. Selbst völlig erschöpft. Als ich erwachte, war sie tot. Der Notarzt sagte etwas von Lungenembolie, von multiplem Organversagen aufgrund exzessiven Alkoholkonsums. Ich behauptete, ich hätte sie so zugerichtet auf der Straße gefunden, wie schon viele Male. Keiner stellte weitere Fragen. Und das war das Ende der einzigen Beziehung zu einer Frau, die ich je geführt habe. Diese Version erzähle ich nie, wenn mich jemand nach meiner Vergangenheit fragt.