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Eine Frage der Moral
Eine Frage der Moral
Ich setze einen Schritt hinaus aus meiner Wohnung und bin nach zwei Minuten, in denen ich die Straße entlanglaufe schon klitschnass. Es regnet und ist kalt. Hoffentlich bin ich bald da. Ich will doch nur schnell zum Magnusplatz. Ein paar Brötchen holen. Ich seh den Bäcker schon. Da hinten. Noch 500 Meter. Doch was passiert davor? Liegt da jemand? Ja. Ganz klar. Da drüben liegt jemand am Bordstein. Er wird von einem kleinen etwas dicklichen Mann zusammengeschlagen. Jemand muss ihm helfen! Soviel steht fest. Aber ich bin so weit weg. Zum Glück ist der Magnusplatz so belebt. Viele Menschen betreten ihn täglich, wenn sie zum Bahnhof wollen. Sicher wird dem armen Kerl einer helfen. Warum ihm das wohl angetan wird? Wahrscheinlich hat er sich schlichtweg mit den Falschen angelehnt. Ist in der Stadt ja auch eigentlich nichts Besonderes. So was passiert doch täglich. Ist das doch gar nichts Ungewöhnliches. Interessieren würde es mich trotzdem. Sicher hat er den kleinen Mann schief angeguckt. Oder seine Frau angefasst. Was auch immer es ist, es muss etwas gewesen sein, was den kleinen mächtig in Rage gebracht hatte. So wie der auf den Mann eindrischt…
Langsam komme ich näher ans Geschehen ran. Vielleicht noch 300 Meter. So langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Warum hat dem Mann denn noch keiner geholfen? Wie weit ist es mit unserer Gesellschaft gekommen? Wenn ich den näheren Umkreis des stattfindenden Verbrechens betrachte, fällt mir auf, dass die Leute ihn einfach zu ignorieren scheinen. Die einen schauen sich gar nicht erst um und beschleunigen ihren Schritt etwas, um nicht in Verlegenheit kommen zu müssen, Schwäche zu zeigen, wenn sie die ihnen auferlegte Last der Zivilcourage auf den nächsten Vorbeigehenden unbewusst abwälzen. Sie tun einfach so, als hätten sie nichts gesehen. Das ist dann ja schließlich weder moralisch verwerflich noch ein Verbrechen oder? Ich kann das nicht verstehen. Ich kann sie alle nicht verstehen. Wahrscheinlich trösten sich diese Hunde mit dem Gedanken, dass bald ihr Zug zur Arbeit fährt oder sie noch einen dringenden Zahnarzttermin haben. Diese Schweine sind doch die ersten, die an des Mannes Stelle um Hilfe schreien würden! Wie tief ist unsere Gesellschaft gesunken? Wir können uns einander nicht einmal in höchster Not Selbstlosigkeit beweisen. Wie können wir dann einander täglich freundlich einen Guten Morgen wünschen? Früher hat es das nicht gegeben. In meiner Schulzeit bin ich auch schon mal in einer Schlägerei eingeschritten. Da bin ich mir sicher. Ich bin doch nicht unmoralisch! Um Gottes Willen. Ich habe noch nie etwas Unrechtes getan. Wegschauen tun doch eh nur die Feigen, diejenigen, die der charakterlosen und eigennützigen Sorte Mensch angehören. Denen, die schon in ihrer Jugend diese Killerspiele an ihrem Computer gespielt. Abstumpfen tun die. Die sind der Grund, warum unsere Jugend so gewaltbereit ist und sich einen Dreck darum schert, was mit dem eigenen Umfeld geschieht. Niemand besitzt mehr ein Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Mitmenschen. Der grauen Masse von uns ist das alles egal. Aber ich gehöre ja wohl nicht dazu!
Mittlerweile befinde ich mich kurz vor den beiden. Noch immer schlagen sie sich. Der Mann liegt in seinem eigenen Blut und ist völlig hilflos. Ein flaues Gefühl macht sich in mir breit. Mir ist bewusst, dass ich in meiner verdammten Bürgerpflicht gezwungen bin, dem Mann zu helfen. Auch wenn die restlichen Bürger die ihre wohl schändlich abgelegt zu haben scheinen, so ist das für mich keine Entschuldigung. Im Gegenteil. Auch wenn es schwer fällt habe ich keine Wahl. Ich muss und ich werde einschreiten, koste es was es wolle. Wie sagte schon Kurt Tucholsky:
„Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen:
Nein.“
Nein, Ich kann das nicht. Ich blicke herab. Drei Meter von mir entfernt liegt ein nunmehr bewusstloser junger Mann, der brutal misshandelt wurde. Der Täter scheint gar nicht mehr aufzuhören. Inmitten seiner Schläge schaut er mich für den Bruchteil einer Sekunde mit hasserfülltem Blick an. Dann schlägt er weiter zu. Mir wird ganz anders. Ich stehe nun unmittelbar am Ort des Verbrechens und bin außerstande zu handeln. Es kostet soviel Überwindung. Und wer weiß: Vielleicht hat es der Mann auch verdient? Nietzsche sagte einmal, dass es unser aller Verbrechen sei, Verbrecher wie Schufte zu behandeln. Ich bin sicher, darin steckt ein Stückchen Wahrheit. Muss ja. Hat schließlich ein schlauer Mensch gesagt.
Ehe ich mich versah, ließ ich den Schauplatz hinter mir. Nun schreit mir ein alter Mann hinterher: „So unternehmen sie doch etwas, junger Herr! Sehen sie denn nicht, was hier geschieht?“
Ich tu so, als hätte ich es nicht gehört und betrete die Bäckerei.