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Eine Frage der Moral

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17.02.2013
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Eine Frage der Moral

Eine Frage der Moral

Ich setze einen Schritt hinaus aus meiner Wohnung und bin nach zwei Minuten, in denen ich die Straße entlanglaufe schon klitschnass. Es regnet und ist kalt. Hoffentlich bin ich bald da. Ich will doch nur schnell zum Magnusplatz. Ein paar Brötchen holen. Ich seh den Bäcker schon. Da hinten. Noch 500 Meter. Doch was passiert davor? Liegt da jemand? Ja. Ganz klar. Da drüben liegt jemand am Bordstein. Er wird von einem kleinen etwas dicklichen Mann zusammengeschlagen. Jemand muss ihm helfen! Soviel steht fest. Aber ich bin so weit weg. Zum Glück ist der Magnusplatz so belebt. Viele Menschen betreten ihn täglich, wenn sie zum Bahnhof wollen. Sicher wird dem armen Kerl einer helfen. Warum ihm das wohl angetan wird? Wahrscheinlich hat er sich schlichtweg mit den Falschen angelehnt. Ist in der Stadt ja auch eigentlich nichts Besonderes. So was passiert doch täglich. Ist das doch gar nichts Ungewöhnliches. Interessieren würde es mich trotzdem. Sicher hat er den kleinen Mann schief angeguckt. Oder seine Frau angefasst. Was auch immer es ist, es muss etwas gewesen sein, was den kleinen mächtig in Rage gebracht hatte. So wie der auf den Mann eindrischt…
Langsam komme ich näher ans Geschehen ran. Vielleicht noch 300 Meter. So langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Warum hat dem Mann denn noch keiner geholfen? Wie weit ist es mit unserer Gesellschaft gekommen? Wenn ich den näheren Umkreis des stattfindenden Verbrechens betrachte, fällt mir auf, dass die Leute ihn einfach zu ignorieren scheinen. Die einen schauen sich gar nicht erst um und beschleunigen ihren Schritt etwas, um nicht in Verlegenheit kommen zu müssen, Schwäche zu zeigen, wenn sie die ihnen auferlegte Last der Zivilcourage auf den nächsten Vorbeigehenden unbewusst abwälzen. Sie tun einfach so, als hätten sie nichts gesehen. Das ist dann ja schließlich weder moralisch verwerflich noch ein Verbrechen oder? Ich kann das nicht verstehen. Ich kann sie alle nicht verstehen. Wahrscheinlich trösten sich diese Hunde mit dem Gedanken, dass bald ihr Zug zur Arbeit fährt oder sie noch einen dringenden Zahnarzttermin haben. Diese Schweine sind doch die ersten, die an des Mannes Stelle um Hilfe schreien würden! Wie tief ist unsere Gesellschaft gesunken? Wir können uns einander nicht einmal in höchster Not Selbstlosigkeit beweisen. Wie können wir dann einander täglich freundlich einen Guten Morgen wünschen? Früher hat es das nicht gegeben. In meiner Schulzeit bin ich auch schon mal in einer Schlägerei eingeschritten. Da bin ich mir sicher. Ich bin doch nicht unmoralisch! Um Gottes Willen. Ich habe noch nie etwas Unrechtes getan. Wegschauen tun doch eh nur die Feigen, diejenigen, die der charakterlosen und eigennützigen Sorte Mensch angehören. Denen, die schon in ihrer Jugend diese Killerspiele an ihrem Computer gespielt. Abstumpfen tun die. Die sind der Grund, warum unsere Jugend so gewaltbereit ist und sich einen Dreck darum schert, was mit dem eigenen Umfeld geschieht. Niemand besitzt mehr ein Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Mitmenschen. Der grauen Masse von uns ist das alles egal. Aber ich gehöre ja wohl nicht dazu!
Mittlerweile befinde ich mich kurz vor den beiden. Noch immer schlagen sie sich. Der Mann liegt in seinem eigenen Blut und ist völlig hilflos. Ein flaues Gefühl macht sich in mir breit. Mir ist bewusst, dass ich in meiner verdammten Bürgerpflicht gezwungen bin, dem Mann zu helfen. Auch wenn die restlichen Bürger die ihre wohl schändlich abgelegt zu haben scheinen, so ist das für mich keine Entschuldigung. Im Gegenteil. Auch wenn es schwer fällt habe ich keine Wahl. Ich muss und ich werde einschreiten, koste es was es wolle. Wie sagte schon Kurt Tucholsky:

„Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen:
Nein.“

Nein, Ich kann das nicht. Ich blicke herab. Drei Meter von mir entfernt liegt ein nunmehr bewusstloser junger Mann, der brutal misshandelt wurde. Der Täter scheint gar nicht mehr aufzuhören. Inmitten seiner Schläge schaut er mich für den Bruchteil einer Sekunde mit hasserfülltem Blick an. Dann schlägt er weiter zu. Mir wird ganz anders. Ich stehe nun unmittelbar am Ort des Verbrechens und bin außerstande zu handeln. Es kostet soviel Überwindung. Und wer weiß: Vielleicht hat es der Mann auch verdient? Nietzsche sagte einmal, dass es unser aller Verbrechen sei, Verbrecher wie Schufte zu behandeln. Ich bin sicher, darin steckt ein Stückchen Wahrheit. Muss ja. Hat schließlich ein schlauer Mensch gesagt.
Ehe ich mich versah, ließ ich den Schauplatz hinter mir. Nun schreit mir ein alter Mann hinterher: „So unternehmen sie doch etwas, junger Herr! Sehen sie denn nicht, was hier geschieht?“
Ich tu so, als hätte ich es nicht gehört und betrete die Bäckerei.

 
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Hallo alle Richtungen, nur zurück fehlt ja noch,

erst einmal wünsch ich dich hier herzlich Willkommen.

Du hast ein ernstes und schwieriges Thema gewählt, das natürlich heutzutage absolut aktuell ist.
Mir gefällt es auch, dass du aus der Sicht eines Unhelden schreibst. Aus diesem Stoff kann man was machen. Kompliment, dass du dich das getraut hast. Auch deine Schreibe ist flüssig.
Es ist die Umsetzung des Themas, die mir nicht gefällt.
Ich verstehe zwar sehr gut, was du beabsichtigt hast, das kommt alles schon raus, aber der innere Monolog in seiner Länge und in seinen Themen, da finde ich vieles total unrealistisch und furchtbar konstruiert.

Mein erstes Gefühl beim Lesen war: Meine Güte, der denkt ja für zehn, und was für ein Zeug, da hätte er schon lange mal auf seinem Handy die Polizei rufen können.
Lass ihn das wenigstens vergessen haben oder so. EWenn der moderne Mensch das Handy vergisst, dann ist er hilflos und dann setzen vermutlich ohnehin die Urimpulse ein. :D
Was der Mann sich da alles einfallen lässt, ich glaub es einfach nicht, dass man an Tucholsky und Nietzsche denkt, wenn man in einer solchen Situation steckt. Vielleicht hinterher, wenn man vorbeigelaufen ist, da rechtfertigt man sich. Und die Rechtfertigungen, die sind in allererster Linie doch Angst um sich selbst. Warum kommen ihm nicht aktuelle Fälle in den Sinn? Was mir auch überhaupt nicht gefällt, das ist, dass er relativ schnell daran denkt, dass der auf dem Boden Liegende seine Lage selbst verursacht haben könnte. Auch der Hinweis, er habe sich mit dem Falschen angelegt, geht ja schon in diese Richtung. Du beschreibst zwar einen Helfensimpuls, aber nur kurz. Und so schnell denkt man dann nicht um. Vor allem kann man es als Leser nicht nachvollziehen, wenn ich nichts darüber weiß, wie die beiden Männer, Täter und Opfer, aussehen. Es wäre da zum Beispiel interessant gewesen, wenn das Aussehen der beiden Kontrahenten nicht in die übliche Schiene passt, also eine Frau den Mann auf dem Boden traktiert oder wie bei dir ein kleiner Mann einen großen. Aber übe den schreibst du dann gar nichts. Aber wie auch immer, wenn du da nichts Erklärendes einbaust, warum er sofort im inneren Monolog auf die Schuldfrage kommt, dann folgt dem "ich will helfen" mit Sicherheit erst einmal die Angst. Also dass du sein Herangehen an den Ort des Geschehens mit seinem Gedankenstrom begleitest, find ich gut, dass erst dann die Angst wirklich zuschlägt und ihn gehen lässt, das find ich ja auch in Ordnung, kann man so machen, es ist einfach die Art seiner Gedanken.

Was ich dir auch noch dringend empfehlen würde, das ist, dass man was von den körperlichen Symptomen des Monologisierenden erfährt. Du hast das mit dem flauen Gefühl angedeutet. Das finde ich aber zu knapp. Und vor allem setzt es nicht erst dann ein, wenn man einem hasserfüllten Schläger gegenübersteht, sondern schon dann, wenn man die Situatione erfasst. Ich hab solche Situationen, wo jemand verprügelt wurde oder einen schweren Unfall schon erlebt, da kochen auch beim Unbeteiligten die Stress-Hormone und damit die Emotionen hoch. Oft kann man sich ihrer nur durch Handlung entledigen. Und ich weiß, dasss es vielen Leuten so geht, denn man spricht schließlich darüber.

Also Fazit:
Gutes Thema, interessante Herangehensweise
Anmerkungen, wie ich persönlich überarbeiten würde, aber das sind natürich nur Vorschläge:
- äußere Welt stärker einbauen (das Aussehen der beiden Kontrahenten, andere Passanten)
- inneren Monolog besser steigern vom ersten abrupten Helfenwollen zum Weitergehen (nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen)
- körperliche Reaktionen des Protagonisten schildern

Ich setze einen Schritt hinaus aus meiner Wohnung und bin nach zwei Minuten, in denen ich die Straße entlanglaufe KOMMA schon klitschnass.

Ich seh den Bäcker schon. Da hinten. Noch 500 Meter. Doch was passiert davor? Liegt da jemand? Ja. Ganz klar. Da drüben liegt jemand am Bordstein. Er wird von einem kleinen etwas dicklichen Mann zusammengeschlagen. Jemand muss ihm helfen! Soviel steht fest.
Hier wäre Gelegehnheit, ein bisschen das Außenrum zu beschreiben und natürlich auch die Situation, wie dein Protagonist die beiden Männer entdeckt. Weißt du, das dauert ja fast ein bisschen, bis man das als normaler Mensch erfasst, was da passiert. Man glaubt es gar nicht, dass man das wirklich sieht.

Oder seine Frau angefasst. Was auch immer es ist, es muss etwas gewesen sein, was den kleinen mächtig in Rage gebracht hatte. So wie der auf den Mann eindrischt…
Wo ist dann die Frau?

Wenn ich den näheren Umkreis des stattfindenden Verbrechens betrachte, fällt mir auf, dass die Leute ihn einfach zu ignorieren scheinen. Die einen schauen sich gar nicht erst um und beschleunigen ihren Schritt etwas, um nicht in Verlegenheit kommen zu müssen, Schwäche zu zeigen, wenn sie die ihnen auferlegte Last der Zivilcourage auf den nächsten Vorbeigehenden unbewusst abwälzen.

So soll er denken? Meinst du das ernsthaft? Sorry, ich finde das total unrealistisch, klingt wie ein Soziologieprofessor, der eine Fallstudie betreibt.
Auch später empfinde ich das als unrealistisch. Diese Stelle hier soll einfach ein Beispiel dafür sein.

Mittlerweile befinde ich mich kurz vor den beiden. Noch immer schlagen sie sich. Der Mann liegt in seinem eigenen Blut und ist völlig hilflos.
Sie schlagen sich doch nicht, wenn einer bereits auf dem Boen liegt. Dann schlägt nur noch der andere. Das kommt später noch mal, das würde ich abändern.
Zu dem Geschehen passt so ein Wort wie mittlerweile auch nicht. Das hat was Gemächliches und in dem Mann tobt es doch. Jedenfalls suggerierst du es mit der Darstellung dieses unaufhörlichen Gedankenstroms.

Soweit mal, vielleicht kannst du ja was anfangen mit meinen Anmerkungen, auch wenn sie dieses Mal nicht durchweg positiv sind, sondern eher kritisch.

Ich wünsch dir viel Spaß hier.
Noch einen schönen Sonntag
Novak

 
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Hallo linksrechtsgeradeaus,

willkommen auf kg.de. Du lieferst uns ein SOC (die Fachbezeichnung habe ich gerade durch eine andere KG gelernt). Oder aber, in meinen Worten ausgedrückt: Ich darf nahezu die ganze Story über in den Kopf bzw. die Gedankenwelt deines Prots eintauchen.

Dein Konzept ist simpel aber Wirkungsvoll. Du hast dir das Thema "Zivilcourage" ausgesucht, ein Thema, mit dem nahezu jede/r von uns schon mal auf die eine oder andere Weise in Berührung gekommen ist. Wer hat sich z. B, noch nicht mal gefragt, was man wohl tun würde, wenn ein Mitmensch in einer bedrohlichen Situation stecken würde, und man selbst hätte die Chance zu helfen.

Was du sehr gut darstellst, ohne es zu benennen, ist der Zeitfaktor. Je mehr man Zeit hat, darüber nachzudenken, ob man helfen soll oder nicht, desto größer wird die Spannweite der Möglichkeiten und desto geringer wohl auch die Bereitschaft, am Ende wirklich beherzt einzuschreiten. Ich halte diese Gedankenentwicklung deines Prots für authentisch und nachvollziehbar. So wird es vermutlich in vielen Köpfen zugehen, wobei das natürlich eine sehr umfassende Sammlung aller denkbaren Optionen ist, aber das halte ich für literarisch vertretbar. Also insofern hat das, was du mit einem Text beabsichtigen wolltest, sicherlich funktioniert.

Was mich dennoch irgendwie stört, ist die Tatsache, dass du damit etwas längst Bekanntes und wenig Überraschendes einfach noch einmal bestätigst, ohne diesem Thema neue Blickwinkel und Nuancen abzugewinnen. Ich finde aber, genau das wäre ein viel größerer Reiz gewesen, eine Frage zur Moral zu stellen.

Ich versuche, das mal etwas genauer zu erklären.

Dein Text behandelt das Thema in schwarz und weiß, weil du allein durch dein Grundkonzept keinen Raum für Grautöne einplanst. Grautöne hättest du erzielen können, wenn du beispielsweise deinen Prot tatsächlich in das Geschehen hättest eingreifen lassen. Er packt sich den Schläger und rettet den am Boden liegenden jungen Mann vor weiteren Schlägen und Fußtritten. Und dann hättest du beispielsweise den Schläger eine Geschichte erzählen lassen können, an deren Ende man als Leser dem am Boden liegenden Typen am liebsten auch noch einen Fußtritt verpasst hätte.

Also, ich finde, du hast mit deiner KG schon einen sehr guten Ansatz gewählt, und das ist auch - mit Ausnahme von einigen Flüchtigkeitsfehlern - schriftlich angemessen gestaltet. Aber für eine Story, die sich mal so ein bisschen vom Üblichen abgrenzt, und einen etwas feineren und facettenreicheren Ansatz bietet, fehlt nach meinem Empfinden der Mut zu Grautönen.

Trotzdem ist dir ein interessanter Einstieg mit einem Thema gelungen, dass eine sehr große und sicher auch zunehmende gesellschaftliche Relevanz hat. Ich wünsche dir weiterhin viel Spaß in dieser kreativen und angenehmen Umgebung ;-)

Rick

 
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Servus linksrechtsgeradeaus,

Novak (edit: und Rick) haben in ihren klugen Kommentaren schon so ziemlich alles gesagt und dir viele Verbesserungmöglichkeiten aufgezeigt, eine Kleinigkeit möchte ich trotzdem noch ergänzen:

Ich seh den Bäcker schon. Da hinten. Noch 500 Meter. Doch was passiert davor? Liegt da jemand? Ja. Ganz klar. Da drüben liegt jemand am Bordstein. Er wird von einem kleinen etwas dicklichen Mann zusammengeschlagen.

Aus einem halben Kilometer Entfernung solch eine Szene zu erkennen, scheint mir sehr unrealistisch. Ich würde an deiner Stelle die Entfernungsangaben nicht verändern, sondern gänzlich weglassen, bzw. umschreiben, auch die 300 Meter, die später noch auftauchen.

offshore

 

Hallo lrg,

ich möchte kurz anmerken, dass mir ein wichtiger Gedanke bei dem Erzähler gefehlt hat: Die Angst, selbst angegriffen zu werden.

Natürlich könnte man per Handy die Polizei rufen, aber bis die vor Ort ist, könnte das Opfer schon tot sein. Deswegen ist ihm im Unterbewusstsein klar, dass er tatsächlich einschreiten müsste, den Schläger packen, ihn wenigstens ansprechen/anschreien sollte - da steckt die Angst dahinter, selbst eine übergebrezelt zu bekommen.

So langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Warum hat dem Mann denn noch keiner geholfen? Wie weit ist es mit unserer Gesellschaft gekommen?

Der hat nur Angst, in der falschen Gesesllschaft zu leben.
Für mich geht das (leider) auch dadurch ein Stückweit in Richtung Satire, weil ich den Erzähler mit seinen moralischen Gedanken nicht ernst nehmen konnte.

Von daher, wie die anderen schon anmerkten, gutes Thema, für mich jedoch in den Feinheiten noch nicht ausgewogen erzählt. Der Protagonist kommt für mich noch nicht gradlinieg mit seinem Nichthandeln rüber, da passen einfach ein paar Details nicht stimmig zueinander.

Liebe Grüße, und auch noch von mir ein herzliches Willkommen,
bernadette

 

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