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Eine Frage der Erziehung
Als der Mann die Gaststätte betrat, wusste ich sofort, dass es Ärger geben würde. Sein gehetzter Blick, die hochgezogenen Schultern, der kleine Junge, der hinter ihm mit herausgestreckter Brust ins Lokal marschierte – alles zusammen ließ die Alarmsirenen in meinem Kopf schrillen.
Die beiden, vermutlich Vater und Sohn, setzten sich an einen Ecktisch. Die wenigen anderen Gäste, zwei ältere Damen bei ihrem sonntäglichen Nachmittagsschwätzchen und eine Familie, die in irgendeiner fremdländischen Sprache parlierte, beachteten die Neuankömmlinge nicht. Ich war gewarnt und beobachtete.
Eine Kellnerin fragte den Mann nach seinen Wünschen. Auf die Frage, welches Eis sie hätten, musste sie zugeben, dass nur Bananensplit im Angebot sei, leider, wie sie mit einem Schulterzucken hinzufügte.
„Ich will aber Schokoladeneis!“, rief der Junge und erst nach langem Zureden ließ er sich dazu erweichen, das Bananensplit zu versuchen.
Als die Kellnerin verschwunden war, gefiel es dem Jungen, auf den Stuhl zu klettern und seine Schuhe an dem Polster zu reinigen. Ich konnte sehen, wie jetzt auch die anderen Gäste allmählich aufmerksam wurden. Die Ausländer waren verstummt und sandten irritierte Blicke in Richtung der Beiden. Die Damen schüttelten die Köpfe.
„Komm da runter“, sagte der Vater. Den Atem hätte er sich sparen können. Der Junge begann auf dem Stuhl herumzuhopsen und der Vater sah in den Raum und hob die Schultern, als wollte er sagen: Ja, so sind sie eben. Da kann man nichts machen.
Was der Vater nicht schaffte, bewirkte das Eis, das die Kellnerin nun brachte. Sohnemann kam von seinem Stuhl herunter und machte sich darüber her. Eine Weile war nur Schlürfen und Schmatzen zu hören. Ich entspannte mich etwas.
„Pappi, welches Tier ist größer, eine Giraffe oder ein Wal?“ hörte ich den Jungen mit durchdringender Stimme fragen. Ich überlegte kurz. Natürlich ein Wal.
„Ein Wal“, sagte der Vater.
„Stimmt ja gar nicht, stimmt ja gar nicht!“, trompetete der Sohn und lachte darüber, dass er seinen Vater mit dieser Fangfrage hinters Licht geführt hatte.
„Die Giraffe hat doch einen viel längeren Hals“, erklärte er.
„Da hast du auch wieder Recht“, sagte der Vater.
Hast du nicht, dachte ich rechthaberisch.
Das Söhnchen begann sich nun offensichtlich zu langweilen. Es stand auf und rannte durch die Gaststätte. Hin und zurück. Hin und wieder zurück. Mit ausgebreiteten Armen. Dazu machte es Geräusche. War er jetzt ein Flugzeug? Wenn ja, dann war der Pilot noch ein Anfänger. Eine der Tragflächen kam der Kaffeekanne auf dem Tisch der alten Damen zu nahe und streifte sie. Die Kanne geriet aus dem Gleichgewicht, überlegte eine Weile und gab dann dem Werben der Schwerkraft nach. Ein brauner See ergoss sich über das blütenweiße Tischtuch.
„Aber Denni“, flüsterte der Vater entsetzt, während sein Sohn an ihm vorbeisauste.
„Die armen Lehrer, die können einem Leid tun, bei solchen Kindern“, giftete eine der Damen, und tupfte hektisch mit einer Serviette an sich herum. Der Vater bekam einen roten Kopf. Die Kellnerin wechselte das Tischtuch, während der Junge sie umkreiste als wäre sie der Tower eines Flugplatzes.
„Das macht doch nichts“, sagte die Kellnerin, doch ihr Gesicht strafte ihre Worte Lügen. Die Mundwinkel waren verbittert nach unten gezogen und ich konnte geradezu hören, was sie dachte: Wenn ich die Mutter von diesem Bengel wäre, dem würde ich zeigen, wo der Hammer hängt. Was ist der Vater bloß für eine Pfeife?
Ich war der gleichen Meinung wie sie, um so mehr, als ich jetzt mit ansehen musste, wie das Kronsöhnchen zwar seine Flugmanöver abgebrochen und sich wieder hingesetzt hatte, jedoch entschlossen den Salzstreuer ergriff und Tisch und Umgebung großzügig würzte. Dabei beobachtete es mit schalkhaftem Augenaufschlag seinen Papi. Was würde der wohl jetzt tun? Ärgerte er sich?
„Lass das“, sagte Papi vage.
So angespornt schüttelte der Junge den Salzstreuer als wäre es eine Rassel und zappelte im Rhythmus imaginärer heißer Rhythmen dazu. Ein Strahl feiner weißer Körnchen rieselte über Tisch und Fußboden.
Das Wunder geschah. Dem Vater riss der Geduldsfaden. Er machte etwas Unerhörtes. Er packte die Hände seines Sohnes und hielt sie fest.
Das hätte er nicht tun sollen. Vor lauter Schreck über diese nie dagewesene Behandlung begann der Sohn zu plärren und seine Stimme war so kraftvoll und durchdringend, dass auch der letzte Koch in der hintersten Ecke der Küche und die taube Oma in ihrem Dachstübchen drei Etagen über der Lokalität aus ihrem Dösen aufschrecken mussten.
Augenblicklich ließ der Vater seinen Sohn los und hob beschwörend die Hände, seine Stimme zu erheben hätte vermutlich wie das Piepsen einer Maus gegenüber den Posaunen von Jericho gewirkt.
Seine Zaubergesten hatten jedoch nichts Magisches an sich. Sein Sohn plärrte weiter.
Nichts erregt mein Mitgefühl so sehr wie ein erfolgloser Zauberer. Ich ging hin und schlug den Jungen k.o.
Er hatte es verdient und der dankbare Blick des Vaters war mir Lohn genug.