Eine (fast) erfundene Geschichte oder Als die Bilder laufen lernten
Vor vielen Jahren, ich war damals gerade neun Jahre alt geworden, wachte ich einmal mitten in der Nacht auf. Da mein Hals so fürchterlich trocken war, musste ich unbedingt etwas trinken. In meinem Zimmer war es stockfinster. Also knipste ich meine Nachttischlampe an und stieg aus dem Bett. Im ganzen Haus war es unglaublich still. Leise, um niemanden zu wecken, machte ich mich schließlich auf den Weg in die Küche. Irgendwie war es mir unheimlich, als ich durch unseren großen, langen Flur schlich; es war so unsagbar still im Haus, ...viel zu still! Nicht einmal das Ticken der Wecker und der großen Wanduhr drang an meine Ohren.
In unserer Küche angekommen, drückte ich den Lichtschalter nach unten und - es knackte gefährlich! Klack! Die Birne war geplatzt und am liebsten wäre ich wieder in mein Zimmer zurückgelaufen, aber da war dieser große Durst in mir. Ganz langsam tastete ich mich zum Kühlschrank vor, öffnete die Tür, holte mir eine Flasche Milch heraus, nahm das sauber gespülte, große Bierglas, das auf der Spüle stand und schenkte mir bis oben hin ein. Ich setzte das Glas an den Mund und trank es auf einmal aus - solchen Durst hatte ich! Um wenigstens etwas zu sehen, ließ ich die Kühlschranktür sperrangelweit offen stehen und setzte mich auf die Küchenbank, schüttete noch ein zweites und sogar ein weiteres halbes drittes Glas Milch in mich hinein.
Das spärliche Licht, das der offenstehende Kühlschrank spendete, ließ die Gegenstände in der Küche bizarre Formen an die Wände werfen. Beim dritten, halbvollen Glas Milch, versuchte ich, meine Augen nicht wieder über die verdächtigen Schatten an den Wänden gleiten zu lassen, aber meine Augen hingen wie gebannt an den "Monster-gesichtern", die mir aus allen Ecken und Enden entgegengrinsten.
Doch dann auf einmal, blieb mein Blick an einem Bild hängen. Meine Mutter hatte es gerade erst auf dem Flohmarkt gekauft. Sie hatte so merkwürdig gelächelt und etwas von "Schnäppchen" und einem "ganz besonderen Bild" gesagt und davon, dass der Mann, der dieses Bild verkaufte, "überhaupt keine Ahnung hat, wie wertvoll es ist".
Es war ein ganz gewöhnliches Landschaftsbild mit einer Mühle und einem Wassermühlrad, umgeben von einem kleinen gepflegten Vorgarten, auf dem allerlei bunte Blumen wuchsen. So saß ich noch immer in unserer Küche und um mich von den furchterregenden Schattenfratzen an den Wänden abzulenken, betrachtete ich mir die Mühle intensiver.
Doch da war mir auf einmal, als ob ich einen Schatten hätte huschen sehen. - War da nicht eben etwas hinter dem Haus im Gebüsch? Und da! Ich erkannte doch wahrhaftig noch etwas Anderes! Beinahe wäre mir doch tatsächlich das Glas aus der Hand gefallen. Schnell stellte ich es ab und trat ganz nah an das Bild heran. Ungläubiges Staunen ließ meinen Mund sehr weit offen stehen, sicher fast so, als ob ich gähnen würde.
Das Mühlrad bewegte sich! Wirklich und wahrhaftig! Ich sah ganz deutlich, wie sich das Wasser nach oben rollte und es auf der anderen Seite wieder hinabfiel. In diesem Moment sah ich auch den Schatten hinter der Mühle wieder. Er wurde immer deutlicher und auf einmal war da ein kleiner schwarzer Hund, der aus den Hecken hervorkam und in den Vorgarten lief. Zuerst überlegte ich mir, ich müsste unbedingt meine Mutter wecken, um ihr das hier zu zeigen. Dann aber dachte ich, sie würde mich ganz gewiss für überdreht halten und mir Fernsehverbot erteilen, und das auf unbestimmte Zeit! Vielleicht jedoch, fing ich ja wirklich an, vor lauter Schatten an den Wänden, Gespenster zu sehen.
Aber gleich schaute ich wieder genau hin und nun hörte ich sogar den Hund bellen. Ganz leise und irgendwie fiebsig. Er war ja auch ganz winzig auf dem Bild, nein, eher in dem Bild. - Und dann das Wasser! Ich vernahm jetzt auch das Rauschen des Wassers, welches die Mühle in den Bach zurückwarf!!!
Nein, um nichts auf dieser Welt hätte ich jetzt meinen Platz verlassen. Meine anfängliche Angst verwandelte sich in pure Neugierde. Was geschah da? Was war nur mit unserer Küche los? Ich wusste darauf keine Antwort.
Und dann wurde mir wahrhaftig klar, dass der kleine schwarze Hund tatsächlich 'mich' meinte mit seinem Bellen. Ja, mich! Er stand mir direkt gegenüber - mittendrin im ordentlich aneinander-gereihten Blumenbeet des Vorgartens der alten Mühle und wuffte mich an. Ich stand vor der Wand, einige Zentimeter nur trennten meine Nasenspitze von dem lebendig gewordenen Bild in unserer Küche und ich zuckte zusammen, denn mit einem Mal ging die kleine Haustür auf und eine minikleine, uralte Frau lugte heraus. Zuerst sah ich nur ihr Gesicht, es hatte tausend Runzeln, doch dann hob sie den Arm und bewegte den zitternden Zeigefinger so, als ob sie mich herbeiwinken wollte. "Komm', komm' liebes Kind. Du darfst ruhig näher kommen. Der Hund tut dir nichts!" ...doch ehe ich mich versah, war ich mittendrin - im Bild!
Ich stand vor einem weißen Gartenzaun und starrte über den Vorgarten hinweg die alte Frau, die immer noch zwischen Tür und Angel stand, fassungslos an. Der weiße Gartenzaun war auf dem Bild wohl nicht drauf, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, einen solchen vor der Mühle gesehen zu haben. Aber dann erfasste mich urplötzlich eine Art Panik, denn ich wandte mich um und - nein, aber das gab's doch gar nicht!!!? - Unsere Küche! Ich sah direkt in unsere Küche hinein! Sie war riesengroß! -Ich kam mir vor wie ein Floh! Die Kaffeemaschine in der Ecke auf dem Tisch war größer als ein Elefant!
Vor Schreck vergaß ich das Weinen und die Stimme der Frau ließ mich wieder in ihre Richtung schauen. "He, kleiner Mann, komm' ruhig herein! Die Gartentüre ist offen. Komm' herein, ich gebe dir was zu trinken, hier draußen ist es viel zu heiß! Wenn du da weiter so stehen bleibst, bekommst du ja noch einen Sonnenstich!" Und erst jetzt spürte ich die heißen Sonnenstrahlen auf meinem Kopf, meinem Gesicht und - auf meinem Schlafanzug! Oh Gott, ich hatte ja noch meinen Schlafanzug an!
Ich verstand die Welt nicht mehr. Aber da es mir wirklich allmählich zu heiß wurde und die ersten Schweißperlen über meine Stirn liefen, öffnete ich das Gartentor, durchschritt den Weg, der durch den Vorgarten der alten Mühle führte, vorbei an dem nun nicht mehr bellenden Hund - und stand direkt vor der uralten Frau! Nun sah ich auch ihren ganzen Körper, den die Tür zuvor verborgen hielt. Diese Alte war von sehr zarter Gestalt, sie wirkte fast zerbrechlich, aber ihr Rücken war sehr gekrümmt. Ihr Gesicht war rosig und zart, ihre Hände waren so schmal, dass sie meine hätten sein können, so klein und feingliedrig, wie sie erschienen. Aus der Nähe betrachtet sah die uralte Frau auf einmal gar nicht mehr so alt aus. Und irgendwie wirkte sie jünger, als gerade eben noch - vom Gartenzaun aus. Die junge alte Frau legte ihren Arm um mich und geleitete mich mit sanfter Bestimmtheit in die Mühle hinein. Hinter uns fiel die Tür ins Schloss. Ich zuckte zusammen, aber die Frau drückte meine Schultern ein wenig und sprach:
"Musst nicht erschrecken, 's ist so, wie es ist! Hab' keine Angst, hier tut dir niemand etwas Böses! Hier ist alles friedlich und schön. Ich bin froh, dass du endlich gekommen bist. So lange Zeit habe ich auf dich gewartet! Nun ist es gut. Jetzt bist du da."
Sie brachte mich in die große, gemütliche, etwas ältlich wirkende Küche und deutete mir an, mich auf einen Stuhl zu setzen. Das tat ich dann auch. Während sie Milch aufsetzte, schaute ich mich genauer um. Ganz plötzlich kam mir die Unglaublichkeit dieses Erlebnisses in den Sinn, sodass ich meine vorherige Verwirrtheit jetzt gänzlich verlor. Bestimmt würde ich gleich aufwachen und bestimmt würde meine Mutter mir gleich mit einem "Guten-Morgen-Kuss" die heiße Tasse Schokolade an mein Bett stellen, so, wie sie es jeden Morgen tat. - Aber nichts dergleichen geschah!
Stattdessen saß ich in meinem Schlafanzug in einer fremden großen Küche und eine fremde Frau kochte mir Kakao. Die alte Frau, nein, die junge Frau - irgendwie wirkte sie noch ein wenig jünger als zuvor an der Tür - sah so zart und zerbrechlich aus, dass es mir ganz warm ums Herz wurde. Ich spürte geradezu körperlich ihr liebes, friedvolles Wesen, dass ich sie einfach mögen musste. Richtig doll mögen. So 'was Komisches aber auch!
Meine Augen hingen am Rücken der Frau, wie sie so still und nahezu bewegungslos dastand am Herd und hingebungsvoll die Milch im Topf umrührte. Jede ihrer Bewegungen war so bedächtig und ruhig, nicht wie meine oftmals hektische Mutter, die mich morgens immer zur Eile antrieb, um nicht zu spät in die Schule zu kommen. Gar nicht so! - Jetzt glitt mein Blick über die Einrichtung und die Gegenstände in diesem Raum. Da gab es eine kleine Sitzbank mit Rüschenkissen in der Ecke, gleich neben der Tür. Oh, und in der mächtigen Vitrine, an der gegenüberliegenden Wand, standen eine Menge buntes, altes Geschirr und ganz kleine alte Püppchen und Tierchen aus Holz. Meine Mutter sammelte damals auch altes Geschirr und alte Sachen, mit vielen Schnörkeln und so. Sie fuhr oft auf Flohmärkte und sagte mir immer, dass diese Dinge heute einen großen Wert hätten.
Überall standen Kerzenleuchter, keine einzige Lampe, wie ich sie kannte, konnte ich entdecken. Nirgends war eine Steckdose zu sehen, da kam mir auf einmal der Gedanke, dass es hier überhaupt keinen Strom hier gibt. Doch meine holpernden Gedankengänge wurden unterbrochen:
"Hier hast du deinen Kakao, und ess' auch was von dem guten Kuchen, den habe ich heute Morgen extra für dich gebacken! Er schmeckt dir bestimmt."
Ganz lieb schaute mich die wieder um einige Jahre jünger gewordene Frau dabei an und schob mir einen Teller mit diesem herrlich duftenden Kuchen zu. Ich konnte nicht widerstehen, er roch einfach zu köstlich! Und wie der schmeckte! Hmmmm, noch heute läuft mir das Wasser im Munde zusammen, wenn ich daran denke. Und der Kakao! Richtig supergut! Bis heute habe ich niemals wieder einen derartigen Geschmack genossen!
Die Frau hatte sich auch eine Tasse Kakao eingeschenkt und neben mir auf dem Stuhl niedergelassen. Und so saß sie da: Sie hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, hielt mit beiden Händen ihre Tasse umfangen und nippte vorsichtig an dem heißen Getränk. Dabei sah sie mich die ganze Zeit an.
"Frag' mich ruhig, was du willst, ich werde dir ganz gewiss antworten."
Mein Teller war geleert und auch meine zweite Tasse Kakao ausgetrunken und so kam ich ihrer Aufforderung nach. "Wie alt bist du denn? Wie kommt es nur, dass du vorhin so alt aussahst?", war dann auch gleich meine erste Frage.
Die junge Frau schaute mich lächelnd an, dann erwiderte sie mir: "Du hast Recht, vorhin sah ich nicht nur alt aus, ich war es auch! Jetzt bin ich wohl cirka dreiunddreißig Jahre alt. Aber bevor du zu mir kamst, war ich uralt. Wenn du es genau wissen willst: einhundertsiebenundsechzig Jahre! Weißt du, als du endlich vor meinem Gartenzaun standest, vergingen die Jahre rückwärts - wie im Flug. Warte noch ein wenig, denn ich werde noch jünger!"
Erschreckend durchfuhr mich ein absonderlicher Gedanke: "Wirst du etwa ein Baby?"
"Nein,", lachte sie, "das nun nicht gerade. Aber habe keine Angst, ich werde aufhören, jünger zu werden, wenn ich sechzehn Jahre alt bin, beziehungsweise in meinem siebzehnten Lebensjahr stehe. Dann endlich werde ich wieder ganz normal älter - so wie du. Und ich kann wieder nach Hause zurückkehren! Mein Gott, wie lange habe ich darauf gewartet!"
Diese Erklärung war doch ein bisschen zuviel für mich und ich fragte sie: "Träume ich das alles hier nur oder geschieht es in Wirklichkeit?"
Die Antwort, die sie mir dann gab, vermag ich wohl heute erst zu verstehen, denn ein neunjähriger, wenn auch sehr aufgeweckter Junge, kann eben nicht über seinen Intellekt hinaus. Die junge Frau antwortete mir:
"Tja, wie soll ich dir das erklären? Was ist Traum und was Wirklichkeit? Weißt du, manchmal denkt man, man träumt etwas, weil es unwirklich erscheint - und dann ist es doch die absolute Realität, in der es erlebt wird. Ein anderes Mal denkt man, das Erlebte wäre Wirklichkeit, weil es so vollkommen wirklich und "spürbar" scheint. Und dann stellt man fest, dass man aufgewacht ist, und das gerade so wirklich erschienene Geschehen war 'bloß' ein Traum. So, wie du im Traum alles siehst, spürst, miterlebst, ja, sogar denkst - jedenfalls für die Spanne eines Traumes - kannst du dir die Wirklichkeit vorstellen. Eigentlich gibt es nur eine einzige Wirklichkeit, alles andere ist Schein ohne Basis. Sind es doch nur flüchtige Augenblicke, vergänglich und ohne jeglichen tieferen Wert und Sinn. Verstehst du das ein wenig?"
Sie hatte so lange geredet und soviel von dem, wovon ich doch zuwenig verstand, sodass ich etwas verwirrt zurückgab: "Hm, ein wenig weiß ich schon, was du meinst, aber das war nicht die Antwort auf meine Frage. Kannst du mir eine Antwort geben, die ich auch richtig verstehen kann? Träume ich denn nun, dass ich hier bei dir sitze? Und vor allem: Träume ich, dass ich durch das Bild in unserer Küche gegangen oder irgendwie da hinein gekommen bin?"
Egal, was sie mir im nächsten Moment sagen wollte, ihr unsagbar liebes Gesicht mit diesem zärtlichen Lächeln auf den Lippen, berührten mich tief. Es war mir tatsächlich fast egal, welche Antworten sie mir auf meine Fragen geben würde. Doch sie flüsterte nur:
"Nun, diese Antwort kannst du dir nur selber geben. Denke doch mal nach: Was fühlst du? Bin ich hier und bist du auch hier oder nicht?" Ihre großen dunklen Kulleraugen blickten mich erwartungsvoll an und ich war gezwungen etwas zu erwidern. Ich kramte in den vielen Schubladen meines vollkommen neben mir stehenden Hirns nach einer Antwort.
"Ja, das schon, aber es ist so schwer zu verstehen! Wenn ich also wirklich hier bin, hier bei dir in der alten Mühle, dann bitte, erkläre mir doch, wie du das gemacht hast, dass ich in das Bild, das in unserer Küche an der Wand hängt, hinein- gegangen bin."
Das war wirklich das, was mich in jenem Augenblick am Meisten interessierte. Die junge Frau, die fast schon wie ein Mädchen aussah, sprach: "Das hast du selbst gemacht! Du hast dich ganz allein - wie du es auch nennen magst - hinein- begeben!"
"Was meinst du denn, mit "wie du es auch nennen magst"?, fragte ich zurück.
"Fühlst du dich denn in einem Bild oder fühlt du dich, als wärst du in einem Haus, in einer wunderschönen Gegend? Schau' nur hinaus aus dem Fenster. Schau', wie weit man hier blicken kann!"
Und ich schaute hinaus. Was ich sah, war eine wirklich atemberaubende, unberührte Landschaft. Die sanften wiesenbewachsenen Hügel, auf denen kreuz und quer kunterbunte Blumen wuchsen, wirkten wie auf einem Gemälde. So wunderschön. Hie und da erspähte ich einen Apfelbaum an den leicht abfallenden Hängen und ganz weit hinten am Horizont konnte ich ein hübsches, lichtes Birkenwäldchen erkennen.
"Ja, schön, richtig schön ist es hier!", murmelte ich vor mich hin.
Das Mädchen lächelte mir zu: "Möchtest du denn noch mehr wissen? Frag' nur zu!" Ich dachte einen Moment lang nach: "Wieso wirst du jünger?"
Und sie antwortete prompt: "Das ist eine lange Geschichte. Aber ich möchte mich so kurz fassen, wie es geht. Ich möchte nämlich endlich nach Hause gehen. Gut, dann beginne ich: Ich bin alt geworden, weil ich dazu verdammt wurde, alt zu werden. Doch ein kleiner Junge, wie du, so wurde mir einst prophezeit, würde mich endlich von diesem Los befreien und mich wieder jung machen. Weißt du, vor genau einhunderteinundfünfzig Jahren, in meinem siebzehnten Lebensjahr, traf ich hinter meinem Elternhaus eine alte, hässliche Frau. Ich wusste damals nicht, dass sie Kräfte hatte, von denen ich nichts verstand. Aber irgendwie hatte ich bei ihr gleich ein ungutes Gefühl, wusste es aber nicht zu deuten. Die alte Frau sprach mich also bei meinem Namen an und sagte mir, ich sei ein recht hübsches, junges Mädchen und dass sie Gefallen fände an meinem Anblick. Auch redete sie ganz merkwürdig davon, dass ich meine Schönheit und Jugend nicht zu schätzen wüsste. Mich überraschten ihre Worte, konnte ich mir doch keinen Reim darauf machen. Ich wollte mich gerade schon abwenden und weggehen, doch sie hielt mich am Ärmel fest und mit traurigem Blick bat sie mich darum, in einen Spiegel zu schauen, den sie auf einmal in der Hand hielt. Irgendwie tat mir die Alte leid und als sie mir erklärte, dies sei ein Zauberspiegel, wurde ich neugierig. Sie sagte zu mir, wenn ich da hinein schauen würde, würde mein Spiegelbild darin verhaftet bleiben. Inständig bat sie mich darum, da hinein zu blicken. Den Grund hierfür nannte sie mir auch: Jedesmal, wenn die alte Frau dann in den Spiegel sehen würde, könnte sie sich somit mein Spiegelbild anschauen und sich dabei vorstellen, dass sie selbst das junge Mädchen wäre, das ihr daraus entgegen blicken würde."
Gespannt lauschte ich ihrer Stimme. Während sie redete, bemerkte ich die Veränderung in ihrem Gesicht. Jetzt war sie sicher sechzehn Jahre jung. Das Mädchen machte eine kurze Pause und fuhr dann fort, noch etwas leiser, also zuvor:
"Tja, und weil mir die alte Frau richtig leid tat, tat ich ihr gern den Gefallen und schaute in den Spiegel. Doch als ich hineinsah, blickte mir eine uralte, schrumpelige Frau entgegen. Ich erschrak fürchterlich und die Alte, die mir den Spiegel hinhielt, lachte höhnisch. Und als ich sie dann ansah, hatte sie mein Gesicht! Sie schrie mich mit ihrer irrsinnig hohen Stimme verfluchend an: Du sollst leben in einem Haus. Das Haus soll sein eine Mühle. Die Mühle wird haben ein Mühlrad davor. Ganz allein soll sie stehen in einer einsamen Landschaft. Zur Gesellschaft geb' ich dir einen Hund. Er soll sein klein und schwarz. Und das alles soll sein in einem Bilde. Du wirst alt werden, sehr alt, uralt. Alt und allein. So wie ich.
Voller Verzweiflung rief ich der Hexe zu: 'Warum, was hab' ich dir getan?' Und sie antwortete mir nur: Weil du jung und schön bist - und weil du sterben kannst! Ich kann nicht sterben! Ich muss immer leben! Dafür bin ich aber durch deine Hilfe jetzt jung und schön und zwar so lange, wie du alt und älter wirst in deiner Mühle. Erst dann werde ich wieder alt und ich selber sein, wenn du erlöst werden solltest. Doch das wird niemals der Fall sein! Hahahahahaha! Es wird wohl nie geschehen, dass ein kleiner Junge dich im Bild besucht und du dann immer jünger und jünger wirst, bis du schließlich so jung wie heute bist. Du wirst dann wieder in deine alte Welt zurückkehren, aber dies wird niemals geschehen! Hahahahaha!
Schrecklich, mir gellt noch jetzt das furchtbare Lachen der bösen Hexe in meinen Ohren. Und wie sie dann noch sagte: Du wirst für immer in einem Bild bleiben und ich bin für immer jung und schön! Ihr entsetzliches Lachen höre ich in meinen Ohren, als wäre es erst gestern gewesen. Und dann auf einmal, ganz plötzlich, stand ich vor einem Gartenzaun, genau so, wie du vorhin..." In diesem Moment durchfuhr ein Rütteln das junge Mädchen und sie bemerkte: "Oh, ich glaube, es ist soweit. Jetzt bin ich sechzehn Jahre alt."
Sie stand auf, ging zur gegenüberliegenden Wand und betrachtete sich in dem dort aufgehängten Spiegel. Zufrieden sah sie aus, als sie sich nun zu mir umwandte.
"Na, gefalle ich dir jetzt besser? Jetzt siehst du mich, wie und wer ich wirklich bin! Und was ich immer war in all den Jahren."
Mit Bewunderung schaute ich die junge Dame an, sie war wirklich ausgesprochen hübsch. "Die alte Hexe hatte Recht! Du siehst wirklich wunderschön aus!", musste ich ihr erwidern und weiter: "Wie heißt du eigentlich? Jetzt sitze ich schon so lange hier und kenne immer noch nicht deinen Namen."
"Ich heiße Mandala", lächelte mir das Mädchen zu. "Komm', kleiner Mann. Ich möchte dir so gerne meine Welt zeigen, in der ich so lange Zeit gelebt habe. Hast du dazu Lust?"
"Aber natürlich, es interessiert mich, was es hier so alles gibt!", sprang es aus meinem Mund.
Und Mandala zeigte mir alles. Sie führte mich durch das große, geräumige Haus, ging mit mir durch sämtliche Zimmer und erklärte hier und da, was sie in den vielen, vielen Jahrzehnten so alles gebastelt und gewerkelt hatte. Schließlich gingen wir nach draußen, am Wassermühlrad vorbei, wanderten einmal rund um die ganze Mühle herum, spazierten durch den Vorgarten und schließlich streichelte ich den kleinen schwarzen Hund, der auf einmal ganz zutraulich zu mir war.
Die Sonne brannte jetzt nicht mehr so heiß und so setzten wir den Weg fort, gefolgt von dem Hund, dicht an Mandala's Fersen. Als wir über die Hügel liefen, wirkte alles so friedlich und schön, wie ich es noch niemals in meinem Kinderleben zuvor erlebt hatte. Vor lauter innerer Zufriedenheit schlug ich auf einmal einfach so einen Purzelbaum. Als ich wieder hochkam, wurde mir mein kindisches Benehmen bewusst und ich wurde ganz sicher rot. Doch Mandala lachte und tat es mir nach. So rollten wir die Hügel hinab und der Hund sprang laut bellend hinter uns her.
Weiter führte unser Weg, vorbei an dem malerisch anzuschauenden stummen Birkenwäld-chen. Mitten aus dieser lautlosen Stille drang ganz plötzlich Vogelgezwitscher von überall her zu uns hin, und ich sagte: Mandala, hörst du das? Da sind ja auf einmal überall Vögel!" Sie nickte nur und die kleine Träne, die ihr dabei die Wange hinab lief, begleitete ihr Flüstern: "Ja, tatsächlich. Die Vögel sind wieder da!"
Schweigend und lauschend schritten wir Drei weiter, bis ein helles Kinderlachen in unser Bewusstsein drang. Wir folgten der glockenhellen Stimme und kamen zu den ersten Häusern einer wohl uralten Ortschaft. "Dort, dort...", entfuhr es meiner Begleiterin und ihre Stimme vibrierte dabei leicht. Auch schien es mir, als finge ihr Körper etwas an zu zittern.
"Ich bin heimgekehrt, mein lieber, lieber Junge. Endlich, endlich wieder zuhause...!" Mandala deutete auf ein Haus am Ortsanfang. "Mein Elternhaus! Da, da steht es! Oh Mutter! Da ist ja auch - meine Mutter!", stotterte sie und rannte mit großen Sprüngen, so schnell ihre Füße sie trugen, auf die Frau zu, die gerade dabei war, den Weg vor dem drittletzten Haus zu fegen. Abrupt blieb das Mädchen vor der älteren Frau stehen und warf sich in deren Arme. "Mami, liebe Mami, ich bin wieder zuhause...!" Tränenbäche rannen der Sechzehn-jährigen jetzt übers Gesicht und völlig verdutzt fragte die Frau mir dem Kehrbesen in der Hand: "Ja, was hast du denn, mein Kind? Du bist doch eben erst aus dem Haus gegangen! Du tust ja gerade so, als seist du schon jahrelang von zu Hause weg gewesen! Was ist nur mit dir?"
Mir war natürlich sofort klar, dass hier die Zeit stehen geblieben war oder so. Die liebe, hübsche Mandala kehrte also genau zu jenem Zeitpunkt wieder zurück, an dem sie vor weit über hundert Jahren einst von der bösen alten Hexe weggehext wurde.
Mensch, da war ich ja wahrhaftig in einer anderen Zeit! In genau diesem Augenblick kam mir das erst da so richtig in den Sinn. Und die Häuser, wie die aussahen! Wie in Filmen über längst vergangene Zeiten. Ängstigen konnte mich diese Überlegung jedoch nicht, zumal mir bewusst wurde, dass ich die liebe Mandala, die ehemals alte Frau, vor ihrem Schicksal des ewigen Älterwerdens bewahrt hatte. Ich war sogar sehr stolz darüber, vielleicht auch als einziger Junge auf dieser Welt in Bilder gehen zu können! Gleichzeitig dachte ich daran, dass ich wohl auch als einziger Mensch unserer Welt in der Vergangenheit herum spazierte. Das war einfach phantastisch!
Als Mandala los gerannt war, war ich stehen geblieben; den schwarzen kleinen Hund zu meinen Füßen: Von jener Stelle aus beobachtete ich das Geschehen. Nun kam sie wieder zu uns zurück, noch immer mit Tränen in den Augen. "Na, mein Erretter! Es ist geradezu so, als wäre ich niemals weg gewesen!" Das Mädchen fuhr sich mit der Hand übers Haar und sprach: "Ich danke dir! Ich danke dir unendlich für alles. Mein Leben lang werde ich an dich denken! Und ich hoffe, auch du vergisst mich nicht! Jetzt aber ist es an der Zeit, auch du musst nun nach Hause zurückkehren!"
Mit diesen Worten nahm sie mich bei der Hand und führte mich wieder in die Richtung, aus der wir gerade erst gekommen waren. Auf dem Rückweg erzählte mir Mandala von der Zeit, als sie ganz alleine in ihrer Welt nur mit ihrem kleinen schwarzen Hund lebte. Jetzt erst erfuhr ich auch den Namen ihres treuen Begleiters. Sie nannte ihn Aisha, er war gar kein er, sondern eine uralte Hundedame, und jedesmal, wenn sie ihren Namen aussprach, bellte die Hündin kurz, so, als ob sie den Erzählungen ihres Frauchens zustimmen würde.
Irgendwann schließlich gelangten wir wieder bei der alten Mühle an. Es war so friedlich hier wie eh und je. "So, mein junger Freund, hier trennen sich nun unsere Wege. Aber nur scheinbar. Im Herzen werde ich immer an dich denken, werde dich stets begleiten und beschützen. Du weißt doch noch, was ich dir erzählt habe über Traum und Wirklichkeit. Vergiss das nie! Du gehst jetzt wieder in deine Welt und ich werde in die meinige zurückkehren. Diesmal für immer. Wenn du gegangen sein wirst von diesem seltsamen Ort, dann wird sich die alte Mühle hier samt Vorgarten und Mühlenrad auflösen, ganz so, als hätte es nichts von all dem je gegeben. Du musst nicht traurig sein, denn auch mein kleiner Hund, meine treueste Freundin all die vergangenen Jahrzehnte, die mir soviel gegeben hat, all die endlos lange Zeit, wird verschwinden."
Mandala bückte sich herunter zu ihrem kleinen schwarzen Hund. Zärtlich leckte er ihr die Hand, als sie sagte: "Liebe, gute Aisha! Du hast nun lange genug gelebt. Du führtest ein prächtiges Hundeleben. Du hast es bei mir wirklich gut gehabt, stimmt's, meine Freundin? Wir haben so unendlich viel Spaß miteinander gehabt!"
Wieder liefen Tränen aus ihren Augen und ganz sanft umarmte sie das alte Tier. "Für mich wirst du immer und ewig bei mir sein, denn in Gedanken haben wir uns...", hauchte Mandala ihrem treuen Gefährten zu, blickte zu mir herauf und zog mich am Schlafanzugärmel zu sich und dem Hund herunter. "Auch du gehörst zu uns! Wir drei sind zusammen - unauslöschlich! Verabschieden wir uns nun voneinander, wer weiß, eines Tages, irgendwann, sehen wir uns wieder. Ich wünsche dir alles Glück der Erde, mein kleiner Junge im Schlafanzug - und denke stets daran: in meinem Herzen wirst du sein - für alle Zeit!"
Erst jetzt spürte ich die heißen Tränen, die mir in Sturzbächen über mein Gesicht liefen, liebe, liebe Mandala. Und ich sagte ihr, dass auch ich sie niemals vergessen würde und wünschte ihr Glück. Die kleine schwarze Aisha schaute mich ganz lieb an und ich drückte und herzte sie wieder und wieder. In verschwörerischer Einigkeit hockten wir drei auf diese Art und Weise so zusammen, eng umschlungen.
"So, jetzt ist es aber soweit! Spring' über den Gartenzaun! Na los, spring' und mach`s gut! Ich stellte mich auf, wischte mir mit dem Hemdsärmel über die Augen, schaute Mandala ein letztes Mal an und nahm Anlauf. Mach's auch gut", schrie ich so laut ich konnte und - sprang...
Hoppla! Etwas unsanft landete ich und fand mich auf unserem heimischen Küchenboden wieder. Zuerst konnte ich nur schemenhaft erkennen, dass ich wirklich zuhause sein musste - es roch vielmehr nach unserer Küche - denn anfangs war es stockfinster um mich herum, doch allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich nahm mehr und mehr wahr. Die Kühlschranktür stand sperrangelweit offen und ich zog mich am Tischbein hoch. Als ich vor dem Bild stand, starrte ich es an. Darauf war eine hügelige, wunderschöne Landschaft zu sehen, ganz weit hinten am Horizont erkannte ich das Birkenwäldchen und einige Vögel umkreisten den Hain. Doch die Mühle mit dem Mühlrad und dem Vorgarten war weit und breit nicht auszumachen!
Heute weiß ich nicht mehr, wie lange ich wohl so dagestanden sein mag. Als es draußen schon hell wurde und mir die Füße weh taten vom langen Stehen, begab ich mich irgendwann in mein Zimmer und legte mich auf mein Bett: Noch sehr lange lag ich in jener Nacht, beziehungsweise an jenem Morgen wach und dachte über all das Erlebte nach, bis mir wohl irgendwann die Augen zugefallen sein mussten. Ich erinnere mich noch heute, dass meine Mutter damals kurz nach dem Einschlafen in mein Zimmer gekommen war und mich wecken wollte, doch ich war so hundemüde und wirkte derart fiebrig, sodass sie mich den ganzen restlichen Tag ausschlafen ließ.
Nun sind schon viele Jahre ins Land gezogen, doch die Gedanken an diese eine einzigartige Nacht ließen mich bis heute nicht los. Ich wohne noch immer im Haus meiner Mutter, habe im Anbau meine eigene kleine Wohnung und an den Wochenenden frühstücken wir oft gemeinsam bei ihr in der Küche, so wie früher, als ich noch klein war.
Bisher habe ich noch mit niemanden über jenen nächtlichen Ausflug gesprochen. Manches Mal habe ich an mir selbst gezweifelt und alles doch für einen Traum gehalten. Einer jener Träume, die wirklich scheinen und doch bloß ein Traum sind. Aber heute weiß ich, dass alles wahr gewesen ist. Dass ich nicht geträumt, sondern dies alles wirklich und wahrhaftig erlebt habe. Ziemlich genau in dem Moment nämlich, als meine Mutter und ich heute Morgen wieder einmal gemeinsam beim Frühstück in ihrer Küche saßen. Ich bemerkte, wie sie - scheinbar seit langer Zeit das erste Mal wieder einmal - das Bild betrachtete, das an ihrer Küchenwand hing. Das Bild, vor dem ich selbst heimlich unzählige Male gestanden und gezweifelt habe.
Meine Mutter schaute mich heute, an diesem wunderbaren Tag, auf einmal so merkwürdig an. Fast hätte ich mich an meinem Brötchen verschluckt, als sie sagte: "Übrigens, was ich dich schon immer mal fragen wollte, ich bin mir jedoch nicht ganz sicher, aber ich denke, du könntest mir eine Antwort geben. Damals, als du noch klein warst, in jener besonderen Nacht..., erinnerst du dich?"
Mein Herz schlug mir bis zum Halse, doch unerbittlich sprach sie weiter: "Das Licht - im ganzen Haus war es irgendwie ausgestellt. Ich hörte dich hier in diesem Raum hantieren und mein elektrischer Wecker klingelte plötzlich drauf los, als ich aufstand, um nachzuschauen, was in unserer Küche los war. Doch als ich durch die Tür sah, warst du nicht da! - Du warst auch nicht in deinem Bett! Überall habe ich dich - vom Keller bis zum Speicher - gesucht! Du warst einfach spurlos verschwunden! Ich weiß bis heute nicht, was in dieser Nacht geschehen ist, doch eine Zeitlang später, nachdem ich das ganze Haus auf den Kopf gestellt hatte, hörte ich wieder Geräusche in der Küche und ich sah selbstverständlich sofort nach. Gott, war ich aufgeregt! Da standest du im dunklen Schummerlicht, das der geöffnete Kühlschrank abgab - vor diesem Bild und schautest es an, als wäre es eine Offenbarung. Du warst nicht ansprechbar... - du hattest mich nicht gehört, nicht wahr? Ganz leise habe ich dich bei deinen Namen angesprochen, doch du reagiertest nicht! Ich sehe dich in der Erinnerung, als wäre es erst gestern gewesen, wie du da so standest in deinem Schlafanzug... Deine Nasenspitze berührte fast das Bild. Und dein Blick war so verklärt...! - Übrigens, ich habe dich in den letzten Jahren immer wieder einmal dabei beobachtet, wenn du hier in unserer Küche ganz nah vor der Wand standest und die Landschaft anstarrtest! Du brauchst nicht zu erschrecken! - Ja, wir zwei haben damals nicht darüber gesprochen, niemals - bis heute! Ich wollte dich früher nicht noch mehr belasten, du wirktest irgendwie so völlig verändert - irgendwie auch reifer. Doch du warst immer noch ein Kind. Aber immer wieder versuchte ich, mit dir darüber zu reden, doch ich konnte es letztlich nicht, hatte ich doch das ungute Gefühl, Dinge aufzuwühlen, die in dir vielleicht schreckliche Ängste ausgelöst hätten. Ich weiß, dies war ein großer Fehler. Mein lieber Sohn, heute jedoch, kann ich einfach nicht länger mitansehen, wie du dich quälst. Daher möchte ich dir unbedingt etwas sagen: Ich spüre deine innere Zerrissenheit, die dir immer wieder zu schaffen macht, stimmt`s? Mir zerreißt es fast das Herz! Was für ein unausgesprochenes Geheimnis trägst du mit dir herum? Was nur um Himmels Willen ist damals mit dir geschehen??? Vergib deiner alten Mutter, dass sie erst heute zu dir spricht."
Ich war tief und tiefer eingesunken in mich selbst. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich ertappt worden bei einem Etwas, das tatsächlich unaussprechlich war. Ich fühlte eine ungeheuerliche Blamage, versank in meinem Küchenstuhl. Jetzt war ich sicher so groß wie damals mit neun Jahren. Meine Mutter stand auf, stellte sich ganz nah vor die Wand und benahm sich so, als hatte sie mein schmähliches Versinken gar nicht bemerkt. Und der Satz, der nun folgte, gab mir den letzten Funken Gewissheit, das Quentchen, das bis jetzt noch gefehlt hatte. Honigsüß war ihre Stimme, als sie nun sprach: "Weißt du, das Bild ist irgendwie so kahl, seit jener Nacht! Ich könnte schwören, damals war da ein Haus mit einem Mühlrad! Was meinst du, mein Sohn?"
Mutter, meine liebe, liebe Mutter, so schnell ich konnte, bin ich in meine eigene kleine Wohnung gerannt, setzte mich an den Schreibtisch und fing an, das Unaussprechliche, mein jahrelang bestgehütetes Geheimnis zu Papier zu bringen.
Und nun weißt du, jetzt, da du diese Zeilen in den Händen hältst, was in jener Nacht wirklich geschehen ist. Glaube mir, ich bin dir nicht böse. Im Gegenteil, ich bin so absolut glücklich, dass die Wahrheit durch dich heute endlich entschleiert wurde. Mir ist so leicht ums Herz. So unsagbar leicht! Danke Mutter! Tausendmal Dank!
Dein dich innigst liebender Sohn
© Copyright 1989 by
Rachel Violeth
(gewidmet meinem Sohn Oliver)