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Eine dumme Geschichte (evtl. kein guter Titel für ne Kindergeschichte...)
In einem Ort, der mit D beginnt, steht ein Haus, das alt ist, und die Räume sind leer.
Einmal, es war gerade Herbst, lagen die Ahornblätter gelb und rot im Vorgarten. Eine
Frau mittleren Alters, wir nennen sie Frau mittleren Alters, kam durch den Vorgarten
und ein offenes Fenster in das Haus. Mit ihrem blauen Kleid und nach oben
gesteckten Haaren setzte sie sich auf einen Stuhl, den einzigen, der sich in dem Haus
befand, zog aus ihrer Tasche ein Buch und begann zu lesen. Sie kam bis Seite
hundertachtzig, als sie bemerkte, dass sie schon recht lange las, und sie stand auf und
vertrat sich die Beine. Nach einer Weile nahm sie wieder Platz und widmete sich dem
Buch und die Zeit verstrich und ihr knurrte der Magen. Endlich packte sie das Buch in
die Tasche und zwängte sich durch das Fenster zurück in den Garten. Ein andermal
spazierte die Frau mit einer Leiter durch das Dorf, lehnte sie an die Eiche vor der Schule
und kletterte in den Baum. Als sie bequem saß und ihre Beine nach unten baumelten,
holte sie aus ihrer Tasche ein Buch und begann zu lesen. Nach einer Weile wurde es kalt,
sodass die Frau den Baum hinunterstieg und sich nach Hause auftat. An einem weiteren
Tag ging sie mit einem Buch in der Hand im knietiefen Seeufer auf und ab. Einmal stand
sie den ganzen Vormittag in der Bäckerei, ein andermal in Mathe ganz hinten im
Klassenzimmer der Siebten und sie las. Man muss wohl zugeben, die Frau hatte ein
seltsames Hobby. Dreimal die Woche sah man sie beim Lesen an
merkwürdigen Orten. Und im Dorf sprach man über die Frau, obwohl sie nicht ernsthaft
störte, nur leise in ihrem Buch blätterte und manchmal beim Lesen kurz
kicherte. Man nannte sie die Frau im blauen Gewand. „Die ist eine Hexe“, sagte Frau
Müller und da nickte die Wacholderlise, die Wacholderlise hieß, weil sie den
Wacholderschnaps so gerne mochte. „Mit ihrem blauen Kleid und diesen Haaren. Die ist
sicher eine Hexe“, sagte Frau Müller und hob ihre Stimme bei Hexe und die
Wacholderlise nickte. „Was die da überhaupt liest!“, sagte Frau Müller. „Was liest die
denn da?“ fragte die Lise und Frau Müller schnaubte. „Die Bäcker, die backen, die
Lehrer, die lehren“, sagte Frau Müller, „Die Menschen arbeiten und die Frau im blauen
Gewand mit diesen Haaren da, die liest.“ So redeten die Leute im Dorf und was die
Leute redeten, entging auch den Kindern nicht. Die Kinder flüsterten und warfen
misstrauische Blicke, als die Frau auf der Eiche saß. „Meine Mama sagt, die ist
gefährlich“, meinte Max, „wir dürfen nicht spielen, wenn die da ist.“ Und Edeltraud
schaute ängstlich drein. Und als die Frau in Mathe war, lauschten die Kinder, wie sie in
ihrem Buch blätterte, anstatt dem Unterricht zu folgen. Nun kam es, dass man das
Hobby der Frau im Dorf nicht länger dulden wollte. Zuerst war es die Lehrerin, die beim
Rektor sagte, die Frau müsse raus, weil die Kinder nicht mehr lernen könnten. Der
Rektor hatte Verständnis und er sprach mit dem Arzt und dem Pfarrer und auf der
Dorfversammlung war man sich einig. Die Frau durfte im Dorf nicht mehr lesen und die
Leute freuten sich, weil die Sache so schnell vom Tisch war. Doch freuten sie sich zu
früh. An einem Mittwoch sollte der Drogeriejakob zur großen Brücke gehen, wo die Frau
ihre Füße ins Wasser hängte. Er nahm all seinen Mut zusammen und sagte im Namen
der Gemeinde, die Frau dürfe im Dorf nicht mehr lesen. Das sei Gesetz. Und die Frau
sagte: „Nein.“ Da ging der Drogeriejakob zurück und berichtete, die Frau würde nicht
aufhören, im Dorf zu lesen, und die Leute waren bedrückt. „Verbrennen muss sie!“
flüsterte Frau Müller und „Verbrennen muss sie!“ sagte die Lise. Doch die
Krankenschwester meinte: „Am besten ist es, wenn ich mit ihr rede.“ Da ging die
Krankenschwester an die große Brücke und setzte sich neben die Frau. Besorgt meinte
sie, die Kinder könnten nicht mehr lernen, weil sie das Lesen der Frau irritiere und die
Kundschaft des Bäckers sei ganz verstört. Dabei seien Bildung und Brot doch so wichtig
und sie bat die Frau, im Dorf nicht mehr zu lesen. Diese überlegte und als die
Krankenschwester schon siegessicher war, da sagte die Frau: „Nein.“ Die Dorfbewohner
waren enttäuscht, manche tief erschüttert, andere so entrüstet, dass sie zu fluchen
begannen. Die Wacholderlise sprach von Hexenverbrennung und der Bäcker schüttelte
den Kopf. Wie sollte er sein Brot verkaufen, wenn die Frau in der Bäckerei stand und las!
Da hatte die Lehrerin eine Idee. Wenn die Frau in der Bibliothek las, dann konnte sie
niemanden stören. Die Frau musste nur überzeugt werden. Um nichts zu überstürzen,
ließ man sie in den Folgetagen in Frieden. So las die Frau im Gasthaus und in der Post,
einmal stand sie am Bahnhof und am Sonntag neben dem Mesner, der am Ausgang nach
der Messe das Geld einsammelte. Schließlich war es die Lehrerin, die mit der Frau
redete, als diese im Gemüseladen stand. „Ich müsste sie kurz stören, wenn es recht ist“,
sagte sie und die Frau, die sich tatsächlich gestört fühlte, blickte von ihrem Buch auf. „Es
geht um diese Sache. Sie wissen schon. Weil sie doch eigentlich im Dorf nicht lesen
dürfen“, sagte die Lehrerin und lächelte. Und die Frau sagte: „Nein“ und drehte sich
weg. „Hören Sie. Wir wollen Ihnen einen Vorschlag machen. Sie kennen doch gewiss
unsere Bibliothek. Wenn Sie dort lesen würden...“ Und bevor die Lehrerin fertig war,
verließ die Frau den Laden und las draußen weiter. Die Lehrerin musste die Sache
anders lösen und bald hatte sie einen Plan. An einem Montagmorgen, als die Frau erneut
vor der Schule saß, legte sie ihr drei Bücher ins Gras. Die seien ein Geschenk aus der
Bibliothek, sagte sie und später stieg die Frau vom Baum und nahm die Bücher mit. Als
die Frau am Mittwoch auf dem Steg neben dem Angler saß, da legte ihr die Lehrerin
zwei Bücher auf die Bretter und sagte, die seien ein Geschenk aus der Bibliothek und die
Frau packte die Bücher in ihre Tasche. Auch am Sonntag, als die dreiste Frau in der
Messe neben dem Pfarrer stand, legte ihr die Lehrerin ein Buch vor die Füße und
flüsterte, es sei ein Geschenk aus der Bibliothek und die Frau lächelte und schnappte sich
das Buch. Als sie am Montag in der Post war, kam die Lehrerin nicht, als sie am
Mittwoch im Gasthaus saß, war die Lehrerin nicht da und als die Lehrerin auch am
Sonntag lange nicht auftauchte, war die Frau im blauen Gewand schon etwas wütend.
Doch dann nach der Messe zog die Lehrerin sie zur Seite und sagte, wenn sie in der
Bibliothek lesen würde, bekäme sie jede Woche drei Bücher geschenkt und die Frau
willigte ein. So kam es, dass sie jeden Montag, Mittwoch und Sonntag in der Bibliothek
war, um zu lesen. Einmal stand sie vor der Damentoilette, ein andermal vor der
Herrentoilette. Am dritten Tag befand sie sich auf der Mitte der Treppe zum zweiten
Stock. Aber niemand störte sich daran, denn alle, die da waren, lasen selbst und für ein
paar Wochen waren alle glücklich. Die Kinder konnten lernen, der Bäcker verkaufen und
die Frau konnte ungestört lesen. Doch bald lief die Sache erneut aus dem Ruder. An
einem Montag fragte Herr Mayer aus dem Nachbardorf, was mit der Frau geschehen sei,
die mit dem schönen blauen Kleid, wegen der er so gern im Dorf war. Da sagte der
Bäcker, die sei jetzt in der Bibliothek und Herr Mayer sagte: „Schade.“ Und einmal, als
die Lehrerin Hausaufgaben stellte und die Kinder ein Buch lesen sollten, meinte Max,
das Lesen im Dorf sei verboten und machte sich lustig. Die Lehrerin war empört. Auch
Frau Müller vermisste die Frau im blauen Gewand. An einem Mittwoch sagte sie zur
Wacholderlise, die Frau würde nicht mehr im Dorf lesen und die Lise sagte ja und Frau
Müller wusste keine Antwort. So musste sie sich eingestehen, dass es ohne die Frau im
Dorf doch etwas langweilig geworden war. Aber nicht nur die Dorfbewohner waren
unglücklich, bald war es auch die Frau im blauen Gewand. Still war es um sie geworden.
Wie hatte sie es genossen, wenn sie auf der Eiche saß und die Kinder tuscheln hörte und
einmal stand die kleine Edeltraud unter dem Baum und fragte, warum sie dort oben
sitzen und lesen würden und da musste die Frau lachen. Sie mochte auch den frischen
Brotgeruch beim Bäcker und das Stimmengewirr im Gasthaus. Nicht zuletzt vermisste
sie die Lehrerin, die sie zwar beim Lesen störte, aber das tat sie immer freundlich. Und
als wieder Versammlung war und die Leute beschlossen, das Lesen im Dorf nun doch zu
erlauben, da stimmte auch die Frau zu und am Montag saß sie wieder auf der Eiche und
am Sonntag stand sie während der Predigt neben dem Pfarrer und still für sich las sie ihr
Buch.