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Eine dieser Selbstmordgeschichten, aber eine mit Happy-End
Der Schweinebraten wäre ganz okay, wenn es nicht meine Henkersmahlzeit wäre. Für das letzte Abendmahl ist er ein wenig gewöhnlich, ein wenig trocken und ein wenig zäh. Aber ich bin nicht wegen dem Essen hier.
Marie huscht an mir vorbei. Ich versuche ihre Schürze zu greifen, aber meine Hände sind zu langsam und zittrig wegen dem Alkohol.
Deshalb bin ich hier.
Genau hinter mir sitzt eine Bilderbuchfamilie. Weil die Frau schlecht einskommavier Kinder werfen kann, hat sie sich für zweikommanull entschieden. Der Junge stochert in einem Kinderteller Wiener-Schnitzel herum, das Mädchen wetzt über den Dielenboden des Gasthauses und kollidiert fast mit Marie.
Marie stellt ihr Tablett ab – neben den Schweinebraten eines Gastes -, schaut das Kind an, streicht ihm über die Haare und geht.
Ich will ihr doch nur sagen, dass es mir Leid tut. Warum kann sie nicht den Anfang machen? Warum kann sie nicht mit mir sprechen? Warum kann sie mir nicht über das Haar streichen? Tut man das nicht an Heiligabend? Vergeben? Oder war das Silvester?
Sie stellt mir wortlos das Kristallweizen auf meinen Deckel. Sie hat sich viel Zeit gelassen, um es mir zu bringen. Aber jetzt fertigt sie mich ganz schnell ab, husch, husch, hingestellt, runtergebückt, Strich gezogen, aufgestanden - und schon ist sie wieder weg. Und die Worte bleiben mir im Halse stecken. Ich kipp es runter. Die Zitrone stößt gegen meine Zähne.
Der Braten ist schon kalt, die Klöße matschig von der braunen Soße. Soße soll die Gäste an zu Hause erinnern, an früher. Aber die meisten hier müssen nicht an früher erinnert werden. Sie essen hier, damit Mama nicht kochen muss. Für sie ist früher. Für mich nicht. Ich muss essen gehen, um meine Schwester zu sehen. Und sie sieht mich nicht.
Mein Deckel sagt, dass ich acht Weizen getrunken habe. Alles läuft nach Plan. Marie stellt mir das Neunte hin, endlich erwische ich ihr Handgelenk.
„Ich hab viel zu tun.“
Ich wünsche ihr frohe Weihnachten.
„Du siehst doch, wie voll hier alles ist.“
Ich wünsche ihr frohe Weihnachten.
„Du trinkst zu viel.“
Sie reißt sich los.
Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie von mir als Selbstmörder denken würden. Als Versager. Von der Brücke gesprungen, unter einen Zug geworfen, in der eigenen Garage erstickt, Pillen, Pistolen, oder so. Nein, das könnte ich nicht ertragen.
Betrunken gegen einen Baum gefahren. Das ist ein guter Plan. Und Marie wird schon sehen, was sie davon hat. Was sie davon hat, nicht mit mir geredet zu haben. Sie wird es sehen. Selbstvorwürfe ein Leben lang. Das ist mein Abschiedsgeschenk an dich, Schwesterherz. Hättest für mich da sein sollen, als ich dich gebraucht habe, du kleine Schlampe.
Ich nehme einen Fünfziger aus meiner Brieftasche, falte ihn zusammen und lege ihn unter den Deckel. Dann übertreibe ich ein wenig und halte den Autoschlüssel zwischen Zeigefinger und Daumen und klimpere damit, während ich mich hochstemme.
„Okay“, sagt sie. „Lass uns reden.“
Sie lächelt mir zum Abschied zu, hält meine Hand und drückt sie leicht. Ein Händedruck, ein Anfang.
Ich nicke und der Wind bläst mir in den Nacken, ich schwanke ein wenig, so als wäre die Brise eine Böe, aber das Weizenbier und der Plan lassen mich schwanken, nicht die Böe.
Also gut. Ein Händedruck muss genügen. Das ist so eine Art Versprechen, dass alles wieder in Ordnung kommt. Früher hat unser Vater mit dem Kopf genickt, wenn er dieses Versprechen gab.
Ich wandere zum Wagen und klappe den Mantelkragen hoch. Der Bürgersteig ist glatt, meine Beine sind müde und ich falle zwei Mal fast hin. Niemand kommt mir entgegen. Alle sitzen in ihren warmen Stuben unter ihren Bäumen.
Mein Wagen liegt unter einer Puderschicht, ich streiche über die Motorhaube und genieße es, den Schnee auf meiner Handfläche zu spüren.
Ich brauche fünf Versuche, um den Schlüssel ins Schloss zu bringen, aber nur drei, um ihn ins Zündschloss zu bugsieren. Vielleicht ist das ein Zeichen?
Ich lehne meinen Kopf gegen die Nackenstütze. Mein Wagen riecht nach altem Rauch. Nein, jetzt kein Risiko eingehen. Jetzt, wo Morgen ein Versprechen birgt.
Ich steige aus dem Wagen und rufe mir ein Taxi.
Es ist eine lange Fahrt und weil ich genug getrunken habe, um erhobenen Hauptes zu sterben, wird mir schon kurz nach dem Einsteigen schlecht. So ein Student fährt mich, Typ fetter, hungernder Künstler, Stiernacken, Strickjacke. Jemand, der an Heiligabend arbeiten muss, weil das progressiv ist, oder so. Ich werde immer weinerlich, wenn ich zu viel trinke, aber so viel getrunken, dass ich ihn jetzt vollheule, hab ich noch nicht, nur schlecht ist mir, ganz furchtbar schlecht.
Vielleicht sollte ich ihm einfach gegen den Stiernacken kotzen? Aber das tut man ja auch nicht. Also sage ich ihm, dass er anhalten soll.
„Wir sind doch gleich da.“
Ich sage ihm, würgend, Anhalten, sofort.
Er fährt an den Randstreifen, ich falle aus der Tür auf die Straße, vor den Graben, hocke auf allen Vieren wie ein Tier vor dem puderbezuckerten Straßengraben, würge sauren Rinderbraten hoch, aber kotzen, kotzen kann ich nicht, weil ich mich schäme.
Also wuchte ich mich hoch, stütze mich am Kofferraum ab und torkle über die glatte Fahrbahn auf die andere Seite, um aufrecht brechen zu können. Mit Würde. Dabei muss ich an Marie denken und dass sie vielleicht nur darauf gewartet hat, dass ich mal den Anfang mache und irgendwie geht es mir besser, aber ich weiß nicht, ob es an Marie liegt oder an der Würde oder an der frischen Nachtluft oder am Kotzen.
Ich drehe mich wieder um, gehe vier Schritte auf das Taxi zu und stehe mitten im Scheinwerferlicht, wie ein Reh auf der Fahrbahn. Ich drehe meinen Kopf noch ins Licht und sehe die beiden Scheinwerfer, aber es ist zu spät.