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Eine Belanglosigkeit
Und die Fliegen, wie auf Geheiß ihres Herrn, feierten ein bemerkenswert obszönes Fest. Ein Maskenball und alle kamen als Insekt, tanzten ausgelassen, speisten gut und tranken viel und waren gänzlich enthemmt und wild und gierig nach allem. Es war ein Fest ohne Scham, denn ein jeder Gast hörte gänzlich und allein auf den Ruf der Natur, lauschte dem Rhythmus, den sie vorgab und konnte sowohl als wollte auch nicht anders, als zu gehorchen.
An einem Tisch, ganz in der Nähe des geselligen Treibens, saß ein Mann und er war so alt wie das Leben selbst und schaute langsame, friedvolle Blicke aus Augen, die nur das Gute kannten. Doch so manch einer, nicht die Insekten, sondern der Mensch, mochte diesen Blick missverstehen und Grausamkeit darin erkennen, rohe Gewalt oder –lachhaft! – reinen, unverhohlenen Hass, absurde Freude an der Grausamkeit. Nichts war weiter von der Wahrheit. Und so schaute der alte Mann und lächelte traurig da er wusste, dass er sich nichts vorzuwerfen hatte, war es denn nicht der Lauf der Dinge und trug er nicht alle Liebe der Welt in sich?
„Eine Belanglosigkeit“, erklärte der alte Mann und deutete mit seiner Hand, die einer knorrigen Wurzel glich, tausende und mehr Jahre alt, auf einen Brief, der dort auf dem Tisch lag. Das Papier war vielleicht einmal weiß gewesen, wie der Schnee, der in diesem Moment in der Gestalt dicker Flocken gegen die Fenster des Raumes schlug und die Scheiben Stück für Stück verdeckte. Schon jedoch war das Papier gelb und verkrümmt, an den Rändern braun und eingerissen und die Worte, die in verdorbener Handschrift auf dem Blatt saßen, waren halb verblasst. Die Tinte hatte schon damit begonnen, sich aufzulösen. Wohin die Tinte ging, wenn ihre Zeit gekommen war, vermochte der alte Mann nicht weiter zu sagen, hatte er sich schließlich nicht darum zu kümmern. Die Tinte war nicht sein Geschäft.
„Eine Belanglosigkeit?“, schimpfte ein anderer Mann. Er war noch jung, sogar unbeschreiblich viel jünger, als der alte Mann, der ihm da gegenüber saß und stets einen jeden mit seinen seligen Blicken drängte. „Wie kann es nicht von Belang sein, was hier drauf geschrieben steht, wenn es in Wahrheit doch alles bedeutet?“ Der junge Mann war wütend und konnte es nur schwer verbergen. Er griff sich den Brief und wedelte ungeduldig damit vor den Augen des alten Mannes hin und her. „Eine Belanglosigkeit“, wiederholte er noch einmal die Worte des Alten und schüttelte missbilligend den Kopf. „Wie kann es?“
Auf dem Tisch, unweit der Stelle, an welcher der Brief gelegen hatte, stand eine Schale aus schwerem Glas und die Zitronen, die dort faulten, waren vor einer Minute noch prächtig und gelb gewesen und hatten frisch und verführerisch geduftet. Jetzt labten sich Insekten in dem verwesenden Fruchtfleisch; Fliegen legten ihre Eier und immer mehr Tiere schlüpften, um sich an der Fäule gütlich zu tun.
„Ich entschuldige mich nicht, das tue ich nie“, sagte der alte Mann weise mit tiefer, väterlicher Stimme.
„Das ist grausam“, tobte der andere. „Was weißt du schon über diesen Brief? Spar dir deine Worte, Greis. Du kennst sie nicht. Sie war alles was ich hatte. Sie war mein Leben. Und jetzt? Du ahnst es schon. Und das noch nicht einmal aus freien Stücken. Wie kannst du dich erdreisten! Eine Belanglosigkeit? Wenn du das ernst meinst, bist du der Teufel.“
Ganz zur Überraschung und mehr noch zum Missfallen des jungen Mannes lächelte der Alte leise.
„Der Teufel? Pfui! Und sie war dein Leben, sagst du? Nun, das Leben kenne ich gut. Und liest du nicht in dem Brief, wie sie dir meinetwegen ihr Herz ausschüttet? Auch deine Liebste kenne ich gut.“
Warmes Sonnenlicht fiel in den Raum. Draußen vor dem Fenster war die Luft schwer von Gerüchen, die nur der Frühling kennt. Vögel sangen ihre Lieder und irgendwo plätscherte aufgeregt ein kleiner Bach.
„Sie schreibt von dir?“, fragte der junge Mann erschrocken und beugte sich sofort tief über das Blatt, las jedes Wort zweimal, damit er ja nichts übersah. Seine Pupillen kullerten von links nach rechts, während er über die Zeilen hinwegflog. Als er ganz unten angelangt war, klatschte er den Brief auf den Tisch, dass die Obstschale fast wankte. „Ha!“, schrie er und ein seltsam triumphierendes Lächeln verzerrte sein Gesicht zu einer Grimasse. „Und ein Lügner bist du auch noch. Keine Silbe von dir in dem Brief, hässlicher Greis.“
Doch der alte Mann lächelte weiter nur geduldig und schaute jene langsamen, seligen Blicke. „Du weißt nicht, wie ich heiße“, ließ er den jungen Mann wissen.
Die Obstschale war gänzlich leer. Einzig ein dunkler Schatten, der als schwarzer Fleck in dem schweren Glas lebte, zeugte von Vergangenem.
„Du weißt nicht, wie ich heiße“, erklärte der Alte noch einmal und wusste ganz genau, was der junge Mann sah, wenn ihrer beiden Blicke sich trafen. Wie musste er auf den Jungen wirken? Entstellt! Fahle Haut, die lose über ausgemergelten Zügen hing, wie ein schmutziges Leichentuch; Ein Mund, der kaum mehr war, als ein ordinäres Loch im Gesicht, die Lippen wie fette tote Raupen und eine Zunge, schwarz und giftig; Augen, die viel zu tief in ihren Höhlen hockten, wie schwarze Spinnen, die sich fürchteten, aus ihren Löchern zu kommen; und pulsierende Schwellungen unter den Augenhöhlen, die von Sorge und Schlaflosigkeit Lieder sangen. Hässlichen Greis, hatte er ihn geschimpft und der Alte wusste, dass dem Jungen kaum ein Vorwurf zu machen war.
„Du bist der Teufel“, zischte der junge Mann abermals.
„Der Teufel? Wie kann ich? Wenngleich ich diesen Namen häufig höre.“
„Du weidest dich an meinem Leid.“
„Du kennst mich nicht. Du liebst mich nicht“, stellte der alte Mann fest.
„Dich lieben? Ein lustiger Kauz bist du. Ich denk nicht dran, Greis.“
„Deine Liebste“, der Alte zeigte mit einem Arm, der wie eine uralte Wurzel war, auf das vergilbte Blatt, das zwischen ihnen lag, „sie liebt mich sehr und ich sie. Und würde sie das, wenn ich dich verhöhnen würde, wenn dein Leid zugleich meine Freude wäre?“
Das ging dem jungen Mann zu weit. Er sprang auf, dass sein Stuhl laut scheppernd nach hinten kippte, beugte sich über den Tisch, schäumte vor Wut. Gerade in dem Moment, als er den alten Mann am Kragen packen wollte, traf es ihn wie ein Blitz. Er ließ die Arme sinken, atmete schwer. Die Wut verebbte, wandelte sich langsam in Neugier oder Verblüffung. Dann nahm er den Brief auf und las ihn noch einmal. Diesmal las er jedes Wort nur einmal und
Der Himmel vor dem Fenster war von so prächtigem Blau, dass ihm die Tränen kommen wollten. Die Sonne strahlte warm am Morgen und heiß zum Mittag und hatte viel zu lachen, denn keine einzige Wolke verunzierte das makellose Blau. Schmetterlinge jagten um die Wette und Bienen summten fröhlich, sammelten Nektar und bedrohten niemanden mit dem Stachel. Und dort, auf einer Holzbank saß jene, die diesen Brief verfasst hatte. Sie war frei von Krankheit. Wie sie strahlte!
Der junge Mann brach kurz den Blick ab, wandte sich dem Alten zu, der sehr wohl alt war, wie das Leben selbst, aber weder hässlich noch gar der Teufel.
„Ich weiß, wer du bist“, flüsterte er ehrfürchtig und schämte sich, da er sich seines Verhaltens erinnerte.
„Fürchtest du dich?“, fragte der Alte, obgleich er die Antwort wusste.
„Mein ganzes Leben“, gab der junge Mann zu. „Das Sterben, doch nicht den Tod.“ Und dann musste er lauthals lachen. „Der ganze Brief ist voll von dir“, sagte er und hob noch einmal das Papier an seine Augen. „In jeder Zeile und dazwischen.“ Er ließ den Blick nach draußen schweifen, wo seine Liebste unter den schattigen Ästen einer riesenhaften Eiche auf der Holzbank saß und ihn erwartete. Dann wandte er sich abermals dem Brief zu, las ihn, wie er sich vornahm, ein letztes Mal. Und als er geendet hatte, lächelte er das Papier an. „Eine Belanglosigkeit“, stellte er fest.