Eine Autofahrt
Eine Autofahrt
Hellen wohnt in einer größeren Stadt, die man in einer guten Stunde mit dem Auto erreichen kann. Den größten Teil der Strecke fährt man über gähnend, langweilige Landstrassen. Wir reden die ganze Fahrt über kaum ein Wort. Ich fragte sie zu Anfang, ob sie etwas dagegen hätte, wenn ich das Radio etwas lauter stellen würde, weil dort ein Lied gespielt wird, welches mir momentan sehr gut gefällt. Als sie keine Einwände erhob, stellte ich die Lautstärke auf den Pegel ein, mit dem ich das wirklich rockige Lied zu meiner Zufriedenheit genießen konnte. Kurzweilig vertiefte ich mich in den Song, achtete auf die Rhythmik, den Bass, die Stimme, und gutlaunige Wogen durchfluteten meinen Geist. Doch als das Lied endete, fand mein Bewusstsein sehr schnell den Weg zurück in den Alltag. Das darauffolgende Lied war eine Katastrophe, ich rang mich jedoch nicht dazu, die Lautstärke zu verringern. So saßen wir nebeneinander, schweigend und der Musik zuhörend. Es ist jetzt Vormittag, und die Sonne erwärmt die Erdoberfläche immer mehr, genauso, wie das motorisierte Gefährt, in dem ich mich momentan befinde. Fahrer- und Beifahrerfenster sind geöffnet, und der dadurch entstehende Wind dröhnt in meine Ohren.
Musik, Straßenlärm, der durch die offenen Fenster noch besonders betont wird, eine feindlich gesinnte Aura, die neben mir ihre Strahlen versprüht, vergleichbar mit den Wärmestrahlen der Sonne, und das stetig ansteigende komische Gefühl, ich hoffe immer noch es als ein Zeichen der Müdigkeit zu deuten, lassen mich langsam aber sicher, immer mehr in eine Art Trancezustand verfallen.
Meine Augen zwinkern nicht mehr, fangen langsam an ihre Flüssigkeit zu verlieren und starren verschwommen auf die in regelmäßigen Abständen vorbeikommenden Bäume. Mein optischer Wahrnehmungssinn lässt die Bäume zu mehr werden, als zu einer Strassendekoration. Jeder Baum gibt mir das Gefühl, als wandere er durch meinen Körper in seiner kompletten Form. Der dicke Stamm durchläuft ihn entsprechend von meinen Füssen bis zu meiner Brust, das Geäst mit den dazugehörigen Blättern meinen Hals und meinen Kopf. Jedoch ist mein Kopf zu klein, weshalb die sanften, leicht behaarten Blätter zart über das Gesicht streichen. Ist ein Baum vorbeigeschossen, kommt auch schon wieder der nächste und der nächste. Eine endlose Kette, die in mir eine hypnotische, tranceverfallende Wirkung auslöst.
Meine Ohren nehmen die in großer Anzahl auftretenden Geräusche meines Umfelds nicht wirklich wahr. Die Vielzahl der akustischen Laute wachsen zu einem großen Bündel Ton in meinen Hörnerven zusammen. Eine seltsame, knisternde Mischung, die sich wie ein Wurzelgeflecht eines tausend Jahre alten Baumes in meinem Kopf festsetzt, und eine Wirkung des Stillstandes hinterlässt. Eine bewusste Unterscheidung der vielen Klangwellen erscheint unmöglich, da meine Konzentration unter den gegebenen Umständen völlig abhanden gekommen ist.
Ich rieche ein absolutes nichts, da ich meinen Mund geöffnet halte, und lange, kratzige Atemstöße von mir gebe.
Meine Zunge vergräbt sich bewegungslos, wie ein fast trockenes Stück Fleisch, in meinen Gaumen. Der fade Geschmack von Dürre, altem Tabak und miefenden Resten meines Speichels schleicht sich langsam, unscheinbar und unbemerkt in meinen Verstand. Eine eiskalte Limonade würde meiner Zunge wieder ein wenig Leben einhauchen, aber von mir unbemerkt, lasse ich sie in diesem jämmerlichen Zustand.
Meine Finger sind nass. Der salzige Schweiß trieft sichtbar aus den Poren hervor, und frisst sich in kleine Wunden an meiner Hand. Die Finger sind auf nicht beschreibbare Weise ineinander verknotet, und bewegen sich in einem undefinierbarem Rhythmus.
Ich sehe Sex in meinen Gedanken. Bilder überhäufen mich damit, engen mich ein, rauben mir den Verstand. Sie und ich fanden zusammen, vereinigten uns unzählbar oft, erlebten Gefühle der ganz besonderen Art. Gegenseitig berauschten wir unsere Körper mit intimsten Leidenschaften. Dabei fühlte man sich abgehoben von der Welt, sah nur noch sich und die gemeinsame Glückseeligkeit. Man zeigte seine Freude in der Öffentlichkeit, war stolz, zufrieden und frei.
In unserem dritten gemeinsamen Urlaub flogen wir auf eine sonnige Insel. Das Meer war kristallklar und der Sand des Strandes pulverweich. Wir liebten uns in der Brandung, genossen die gemeinsamen Stunden der Zärtlichkeit, auch wenn wir uns nur in den Armen lagen, uns aneinander schmiegten und uns gegenseitig die Wärme der Liebe gaben.
Schöne Gefühle durchströmen mich, fest verankerte Erinnerungen, die das Zusammenleben rechtfertigen. Der Beweis der gegenseitigen Liebe war vorhanden. Die Übereinkunft beider Gedanken, das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Symbiose natureller Attraktivität, stellten die Fundamente unserer Beziehung. Es lohnt sich mit dieser Frau alt zu werden, nur für sie zu leben, neues Leben mit ihr zu schenken. Morgens aufzuwachen und ihr schlafendes Gesicht bewundern. Das Lachen zu hören, das man geschenkt bekommt, weil man es wie so oft zuvor mit dem selben Witz erzwungen hat, nur um genau dieses Lachen zu hören. Ihr Trost zu geben, wenn sie welchen braucht, ein Ohr hinhalten, wenn sie eins zum zuhören benötigt, sogar zwei, wenn sie eigentlich nur eins bräuchte. Ihr einen Gefallen tun, damit sie besser zurecht kommt. In ihre Augen schauen, und darin erkennen, warum sie glücklich ist, weil man selber der Grund dafür ist. Ihren kleinen Fingernagel zu bewundern und zu küssen, und anerkennen, dass es der schönste Fingernagel auf der ganzen Welt ist. Jeden Tag in dem Bewusstsein leben, dass man nicht auf sich allein gestellt ist, weil man alles teilt, einen Menschen hat, mit dem man seine Leben teilt. Die Wogen der Liebe haben einen nicht blind gemacht, sie haben vielmehr den Horizont erweitert. Die Erfahrungen der Liebe lassen einen die Welt aus neuen Augen erleben. Augen, die aussagen, als wachsen sie vor Begeisterung, wollen immer größer werden, sich ausdehnen, bis ins Unendliche. Und sie sehen weiter und weiter, und versprühen einen Glanz, von dem man meinen könnte, dass alle Künstler der Weltgeschichte sich versammelt hätten, nur um genau für diese Augen ihrer schöpferischen Genialität gerecht zu werden. Diese Augen schauen auf die eine Frau, die Frau, die es wert ist so angeschaut zu werden. Die Frau, die nicht nur einfach angeschaut wird. In sie wird hineingeschaut von Kopf bis Fuß. Von der Seite und von Vorne und von Hinten. Eine Frau mit der man lacht, sich so gibt wie man denkt. Eine Frau, die sich wie ein gutes Buch liest. Man liest in ihr, und findet nicht enden wollenden Genuss, allerdings mit dem Unterschied, dass dieses Buch niemals endet. Genauso wenig wie man an das Ende einer Beziehung denkt, wenn man glücklich in dieser lebt. Wichtig ist, dass man zusammen lacht. Frei ist von allen Bedenken, sich sicher fühlt, und nichts im Kopf existiert was sich komisch anfühlt und Unbehagen sich ausbreitet.
Doch jetzt kommt dieses Dröhnen. Dieses nicht nachlassende Dröhnen. Ein steiler Sturz vom schönen, himmlischen ins tiefe Bodenlose der Verzweiflung.
Ich lache nicht mehr. Ich fühle mich komisch. Wenn ich an sie denke, sehe ich keine Perspektive, keinen süßen Strang an den ich mich klammern könnte. Das Unvergessliche wurde erlebt, doch die Realität schockt jede Minute. Das Dröhnen in meinem Kopf lässt nicht nach. Es ist wie das Geräusch des Windes, der durch die offene Fenstertür weht und das Dröhnen in mir erzeugt. Das Auto fährt schneller und schneller. Das hämmernde Dröhnen wird immer lauter und lauter, genauso wie die Geschwindigkeit steigt, sekundentaktschnell. Mein Kopf ist nicht mehr im Wagen, er hängt draußen in der freien Luft und der Fahrtwind peitscht mir ins Gesicht. Und wir werden schneller und schneller. Entgegenkommende Fahrzeuge rasen knapp an mir vorbei. Ich sehe ihr Gesicht in überdimensionaler Größe an mir vorbeirasen, allerdings nur schemenhaft und ganz verschwommen. Ihr Mund ist weit geöffnet und ich sehe den riesigen Rachen, der mich zu verschlingen droht. Das Tempo ist so hoch, dass ich die Augen geschlossen halten muss, weil ansonsten die Flüssigkeit in der Zeit eines Wimpernschlags nicht mehr vorhanden sein würde, und die Gefahr zu groß wäre, dass meine Augen austrocknen würden. Dennoch erzittern die Augen und drücken sich kraftvoll in ihre Höhlen. Meine Nasenlöcher werden durch den Wind weit auseinander gespreizt und beginnen langsam zu reißen. Ein Stück Ast trifft die rauen Lippen und zu dem lauten Dröhnen gesellt sich ein blutender Schmerz. Sie atmet ein. Ich halte die Luft an, aber es wird nicht besser, eher noch unerträglicher, weil die Geschwindigkeit immer rasender ansteigt. Plötzlich ist mir zum lachen zumute, zu einem bösen, schallenden Lachen. Doch es bleibt beim Versuch, da meine gegen den Gaumen gepresste Zunge jeden erdenklichen Laut unterdrückt. Mein immer weniger werdendes Gefühl vermittelt mir, dass mein ganzer Leib durch den Sog des Windes immer mehr nach draußen gezogen wird. Bis zum Bauch hänge ich schon aus dem Fenster. Sie atmet immer tiefer ein. Ein vorbeikommendes Gefährt streift mein Ohr und reißt es fast ab. Ich gleite immer weiter nach draußen. Ich habe Angst, fühle mich hilflos und einer Gefahr ausgesetzt, der ich nicht entkommen kann. Das Dröhnen ist schlimm und entsetzlich. Ich denke mein Trommelfell platzt. Sie verzieht ihr Gesicht, während sie mich verschluckt. Ich höre auf zu denken und lasse alles geschehen, gebe die Kontrolle ab, und die schrecklichen Dinge passieren einfach.
„Mike“, nehme ich verschwommen meinen Namen wahr. Eine kleine Nadelspitze pickst leicht in meinen großen Zeh.
„Mike“, immer noch leise, aber schon deutlicher höre ich den Namen meines Vertrauens. Das Durcheinander, das sich in mir abspielte, beginnt langsam dahin zurückzukriechen von wo es hergekommen war.
„Mike“, vernehme ich Leonie noch nicht gerade schreiend, aber doch so laut und deutlich sagend, dass die Eindringlichkeit ihres Tonfalls bis zu meinem Unterbewusstsein vorgestoßen ist. Mit der gleichen Strenge spricht sie weiter. „Mike, dein Desinteresse zu allem gegenüber muss ich mir nicht gefallen lassen. Sprichst die ganze Fahrt kein Wort, und schläfst auch noch, während ich schwitze und die Sonne mich blendet. Musstest du gestern wieder so viel trinken? Mein Gott, ist das warm draußen. Komm, wir sind da, haben eingeparkt und können gehen.“
Automatisch öffnet meine Hand die Tür und ich gleite hinaus ins Freie. Bevor ich die Tür mit einem lauten Knall zuschlage, versuche ich mich zu sammeln, indem ich die letzte Stunde versuche zu rekonstruieren. Das gelingt mir komischerweise nicht und ich schüttele kurz, aber schnell meinen Kopf. Diesen drehe ich um und sehe schon Leonie, die wartet, dass ich zu ihr auf den Bürgersteig komme und wir gemeinsam den kurzen Fußweg zu Hellens Haus gehen können. Ich schlage die Tür mit einem lautem Knall zu und bin in drei Schritten bei ihr. Wir beginnen nebeneinander zu laufen.
Jetzt denke ich wieder an Hellen, und an das was ich mit ihr erlebt habe. Wenn ich daran denke geht es mir schlecht, ich fühle mich mies und unwohl. Ohne darüber nachzudenken greife ich Leonies Hand, und sie erwidert meinen Händedruck. Wir erreichen Hellens Haus. Ein großes, alleinstehendes Einfamilienhaus, das von einem riesigen Garten umgeben ist. Es ist eine etwas ländlichere Gegend, und hier sind nicht so viele Menschen auf einem Haufen zusammengequetscht wie in der Stadt. Die vielen dunkelgrünen Bäume spenden nicht nur im Sommer erholsamen Schatten, sondern sorgen auch für eine friedliche, urige Atmosphäre.
Wir stehen, Hand in Hand, jetzt vor dem Eingangstor, und blicken auf das Haus. „Ich war lange nicht mehr hier gewesen,“ lüge ich, obwohl ich es ernst meine. Das Gespräch, das ich mit Hellen nach unserem, verbotenen, aber dennoch reizvollen Erlebnis hatte, zählt für mich nicht als Besuch dieses Ortes.
„Deshalb nehme ich dich auch mit. Komm schon, lass den Kopf nicht so hängen, es wird sicherlich ein schöner Nachmittag,“ sagt Leo, und schenkt mir dabei ein kurzes Lächeln. Der Griff ihrer Hand wird stärker, und nachdem sie das schwere Gartentor geöffnet hatte, führt sie mich, zielstrebig mit festen Schritten den Weg in Richtung Haustür entlang. Je näher wir kommen, desto komischer fühle ich mich. Desto mehr denke ich an die Hinfahrt im Auto.