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Eine andere Welt
Der Friseur hat wieder einen Hocker herangeholt. So kann ich sitzen, während er meinem Bruder die Haare schneidet. Unter dem Umhang sucht Andreas Hand nach meiner und hält sie fest. Ich spüre, wie er sich entspannt. Mir fällt sein allererster Friseurbesuch wieder ein. Eigentlich war es keiner. Er hatte den Friseur nicht an sich herangelassen. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er weinend, die Knie bis ans Kinn gezogen, in einer Ecke des Salons hockte.
Andreas beobachtet mich ganz genau im Spiegel. Bei allen bisherigen Besuchen hatte er nur ins Leere geguckt. Ich verberge mein Erstaunen und lächle ihn einfach nur an.
Ich wage es. Meine Hand gleitet aus seiner. Sofort sehe ich Angst in seinen Augen. Sein Atem wird schnell. Der Friseur wechselt die Schere und schneidet weiter. Ich halte den Blickkontakt aufrecht. Noch hält Andreas still. Der Friseur ist nun auf der anderen Seite angekommen. Andreas Atem beruhigt sich. Er blinzelt nicht mal. Schlagartig wird mir klar, was gerade passiert. Ich kriege Angst, dass er auch dann die Augen nicht schließt, wenn der Friseur bei seinem Pony ankommt. Ein einziges Haar in seinen Augen würde reichen, um ihn wie wild um sich schlagen zu lassen.
Doch sein Pony ist längst geschnitten. Vorsichtig lasse ich die Luft aus meiner Lunge entweichen. Bloß nicht den Blickkontakt abbrechen.
„So, der junge Mann ist fertig“, verkündet der Friseur und entfernt den Umhang. Mein Bruder rutscht vom Stuhl herunter.
„Du hast es geschafft! Das ist toll, Andreas.“ Er greift nach meiner Hand und ich spüre, wie sehr er sich angestrengt hat.
„Ich hätte das nicht für möglich gehalten.“ Der Friseur zwirbelt wieder seinen Bart. „Dabei kenne ich ihn schon so lange.“
„Danke.“ Lächelnd lasse ich Andreas in seine Jacke schlüpfen. „Bis zum nächsten Mal.“
Ich bin stolz auf ihn.
Seit Andreas vier ist, geht meine Mutter nachmittags wieder arbeiten. Dafür übernehme ich das Aufpassen, sobald ich aus der Schule komme.
„Hier stand gestern ein roter Fiat. Kennzeichen OD-E-424. Und dort stand ein schwarzer Audi. Kennzeichen SFA-F-342.“
Auf unseren Spaziergängen zeigt er mir alles, was er sieht.
„Da oben in der Astgabel ist jetzt ein Nest.“
An guten Tagen berichtet Andreas mir mehr Veränderungen, als ich aufnehmen kann. Aber irgendwann klammert sich seine Hand wieder an meine. Dann wird er still.
„Möchtest du ein Eis haben?“ Die Frage nach der Sorte ist unnötig. Er mag nur Erdbeereis.
„Ja. Ein Eis.“ Andreas betrachtet einen schwarzen Mercedes am Straßenrand. Ich will mit ihm in die Eisdiele gehen, aber er rührt sich nicht.
„Es ist doch kaum jemand drin?“
Andreas schüttelt nur den Kopf.
„In Ordnung. Ich kaufe für uns Eis. Du bleibst genau hier stehen.“ Andreas Blick klebt an dem Mercedes. Die Scheiben sind getönt. „Du fasst den Mercedes nicht an, klar?“
„Ja.“
In der Eisdiele muss ich warten. Durch die große Glasscheibe kann ich ihn sehen. Er hat den Rücken zu mir gedreht und steht neben dem Mercedes. Von hier sieht er aus, wie ein ganz normaler Junge.
„Was darf es sein?“
„Oh, zweimal eine Kugel Erdbeereis, bitte.“
Der Verkäufer steckt zwei Eishörnchen in einen Ständer. Ein Schrei trifft mich bis ins Mark. Sofort drehe ich mich um. Ein Mann mit der Figur eines Bodybuilders hält Andreas am Arm fest und brüllt ihn an. Ich renne raus. „Hey, lassen sie meinen Bruder los. Aber sofort!“
Andreas schreit und schlägt um sich. Der Bodybuilder hält ihn mühelos auf Abstand.
„Der Idiot gehört zu dir?“
„Das ist mein Bruder! Was fällt Ihnen ein! Lassen Sie ihn los!“ Ich atme schnell und flach. „Sie tun ihm weh!“
„Er hat an meinen Reifen gepinkelt. Da!“ Mit der freien Hand zeigt der Bodybuilder auf eine nasse Stelle.
„Lassen Sie ihn endlich los!“ Alle Augen sind auf uns gerichtet. „Oder ich hole die Polizei!“
Der Bodybuilder ist unbeeindruckt. „Der braucht keine Polizei! Ein paar hinter die Ohren. Das braucht er!“
Ich möchte auf ihn einschlagen, aber ich weiß, dass ihn das nur provozieren wird.
Andreas wehrt sich nicht mehr. Weinend hängt er wie ein Sack am ausgestreckten Arm. Es tut so weh, ihn leiden zu sehen.
„Bitte! Mein Bruder ist anders.“ Ich spüre, wie meine Augen feucht werden. „Er erträgt es nicht, wenn man ihn anfasst. Das tut ihm weh. Bitte!“
Tatsächlich lässt der Bodybuilder los. Er wischt sich die Hand an seiner Hose ab.
„Sieh zu, dass der unter Verschluss kommt. Der ist ja gemeingefährlich.“ Er steigt in seinen Mercedes. „Es gab Zeiten, da lief so was nicht frei rum.“ Er fährt davon. Einen Moment starre ich hinterher.
Andreas kauert auf dem Bürgersteig. Ich hocke mich vor ihn und warte, strecke ihm meine Hand entgegen. Wenn er bereit ist, wird er sich festhalten. Etwas anderes kann ich jetzt nicht für ihn tun.
„Hier euer Eis.“ Der Eisverkäufer steht auf einmal neben mir. „Geht aufs Haus. Zum Trost.“
„Danke. Das ist sehr nett.“ Ich nehme die beiden Eistüten. Andreas wird heute kein Eis mehr wollen. Da bin ich sicher.
Endlich wenden sich auch die neugierigen Blicke von uns ab und wir sind unter uns. Ich hasse es, wenn ich mit ihm im Rampenlicht stehe. Mein Bruder kann nichts für seine Art. Deswegen müssen wir auch nichts rechtfertigen. Aber das lässt die fragenden Blicke nicht verschwinden.
Ich sehne mich nach meinen Kopfhörern. Ich möchte wieder auf meinem Bett liegen und Bachs Cello Suiten hören. Der warme Klang wird mich durchdringen und mich auf Wolken schweben lassen. Ich werde dann alles um mich herum vergessen. In meiner Welt aus Musik gibt es keinen Streit und kein Leid. Nur Musik.
Ich schüttele den Gedanken aus meinem Kopf. Andreas braucht mich jetzt hier. Der Gedanke an meine Welt flackert nochmal kurz auf und entlockt mir ein Seufzen.
Wir gehen auf den Abenteuerspielplatz. Ein paar Kinder spielen und ihre Mütter sitzen plaudernd auf den Bänken. Ich setze mich abseits auf einen Baumstumpf.
Andreas klettert die Leiter der kleinen Rutsche hoch und rutscht herunter. Er klettert wieder hoch und rutscht herunter. Hoch. Und runter. Immer wieder. Hoch. Und runter. Hoch. Und runter. Auf ihn hat das die gleiche beruhigende Wirkung, wie auf mich. Hoch. Und runter. Mein Blick schweift über den Spielplatz. Nachher könnten wir das verrückte Labyrinth spielen. Anders als bei Memory habe ich da wenigstens eine Chance. Allerdings nur, weil er mir immer sagt, welches Ziel er als Nächstes hat. Ich sage ihm meine Ziele auch. Fair ist fair. Sein irritierter Blick erinnert mich dann jedes Mal daran, dass er nicht erkennen kann, was andere Menschen vorhaben.
Andreas Schrei lässt mich aufspringen. Eine Mutter versucht, ihn von der Leiter der Rutsche zu trennen. Doch Andreas klammert sich fest. Daneben steht ein kleines Mädchen mit Zöpfen.
„Hey, was ist denn los?“ Sofort stehe ich neben der Mutter.
„Er rutscht schon die ganze Zeit.“ Sie stemmt einen Arm in die Hüfte. „Außerdem ist er viel zu alt dafür.“
„Na und?“
„Kleine Kinder möchten vielleicht auch mal rutschen.“ Mit der einen Hand deutet sie auf das Mädchen. Mit der anderen greift sie nach Andreas Handgelenk. Bevor ich etwas sagen kann, reißt Andreas seine Hand zurück. Voller Wucht stößt sein Ellenbogen gegen das Geländer. Das kleine Mädchen hält sich entsetzt die Ohren zu.
Alle Blicke sind auf uns gerichtet. Niemand spielt. Niemand plaudert.
Andreas sinkt zu Boden und umklammert mit der anderen Hand seinen Ellenbogen.
„Das hat er jetzt davon, wenn er so rücksichtslos ist.“ Sie schüttelt den Kopf. „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Mit dem Mädchen an der Hand zieht sie davon. „Komm Anna. Du kannst auch später rutschen.“
Ich kann es nicht lassen, ihr eine Fratze hinterher zu schicken.
Andreas Gesicht ist schmerzverzerrt und voller Tränen. Ich setze mich neben ihn in den Sand und warte. Vögel zwitschern.
Die anderen Kinder spielen weiter, als wäre nichts gewesen.
Als seine Tränen nachlassen, strecke ich ihm wortlos meine Hand entgegen. Er klammert sich daran fest.
Zu Hause öffnet uns meine Mutter die Tür. „Was hast du mit Andreas gemacht? Er ist ja fix und fertig. Und was ist mit seinem Arm?“
Während ich mir in der Küche ein Glas Saft einschenke, fasse ich den Nachmittag zusammen. Den Erfolg beim Friseur behalte ich für mich.
„Du musst besser auf ihn aufpassen.“
„Ich gucke doch schon die ganze Zeit hin.“ Gierig leere ich das Glas.
„Dann wäre das ja wohl nicht passiert, oder?“
Ich stöhne auf. „Zweimal, Mutti. Nur zweimal habe ich ihn für einen Moment nicht im Blick gehabt. Was soll ich denn noch tun?“ Ich knalle das Glas auf den Tisch. Ein mahnender Blick trifft mich.
„Du siehst, was passieren kann. Du darfst ihn nie aus den Augen lassen, wenn ihr draußen seid.“ Sie nimmt das Glas und trägt es zum Spülbecken. „Auch nicht für einen kleinen Moment.“
Ich gehe die Treppe hoch zu meinem Zimmer. „Ich werde zukünftig besser aufpassen.“
Die Kopfhörer liegen griffbereit auf meinem Bett. Ich setze sie auf und tauche ab in meine Welt aus Musik. Endlich. Das tut so gut.
Andreas steht im Pyjama in meiner Tür. In der Hand hält er sein Lieblingsbuch. Auf seinem Gesicht liegt die gleiche unausgesprochene Frage, wie jeden Abend.
Wenn er so da steht, will ich ihn in den Arm nehmen. Ihn ganz fest an mich drücken. Ihm zeigen, wie sehr ich ihn doch trotz allem liebe. Aber das wäre mehr, als er ertragen kann.
„Da vorne unter dem Baum liegen Kastanien.“
„Der Sturm heute Nacht muss sie herunter gerissen haben.“ Ich befreie eine von der stacheligen Schale und drehe sie in der Hand. „Wir können daraus Männchen basteln.“
„Ja.“ Andreas geht ein Stück weiter. „Hier liegen jetzt auch Kastanien.“
Mit zwei vollen Händen kommt er zu mir zurück und stopft sie in meine Jackentasche. Ich kenne ihn zu gut, als dass ich mich noch fragen würde, warum er nicht seine eigene Jackentasche nimmt.
Wieder zu Hause stürzt sich Andreas sofort auf sein Puzzle. Ich würde gerne mitmachen, aber er lässt mich nie. Vielleicht funktioniert seine Art zu puzzeln nur, wenn er nicht abgelenkt wird.
Andreas nimmt einfach ein Teil aus dem Karton, betrachtet das Bild und legt es exakt an die Stelle, an die es gehört. Auch wenn es keine angrenzenden Teile gibt. Nur selten legt er ein Teil wieder zurück.
Selbst heute bin ich immer noch fasziniert, wenn ich ihn dabei beobachte. In solchen Momenten würde ich mit ihm gerne tauschen.
„Kommst du bitte mal?“, ruft mein Vater aus der Küche.
„Gleich.“ Ich nehme die Kastanien mit. In der Küche haben wir Streichhölzer in der abgeschlossenen Schublade.
„Das könnt ihr nicht machen!“ Tränen schießen mir in die Augen. Ich sinke auf den Stuhl neben mir. Vor mir liegen die Kastanien auf dem Tisch. „Warum? Passe ich denn nicht gut genug auf ihn auf?“
„Wir haben das durchgerechnet.“ Mein Vater zeigt mir ein Blatt Papier und schiebt dabei die Kastanien zur Seite. „Wir können uns gerade eben einen Heimplatz leisten.“ Zwei Kastanien rollen vom Tisch.
„Es geht euch nur ums Geld?“ Meine Worte ertrinken fast in Tränen. „Was ist mit ihm? Wollt ihr ihm alles wegnehmen, was ihm vertraut ist?“ Ich muss schlucken. „Die werden ihn mit Psycho-Tabletten abfüllen. Er wird nur noch vor sich hindämmern.“
„Ich weiß, wie viel Andreas dir bedeutet. Aber du hast dir ein eigenes Leben verdient.“ Meine Mutter legt eine Hand auf meinen Arm. „Wir alle haben ein eigenes Leben verdient.“
„Fass mich nicht an!“ Ich ziehe den Arm so ruckartig zurück, dass ich fast mit dem Stuhl nach hinten kippe. Die restlichen Kastanien fallen herunter und kullern durch die Küche. Meine Mutter verbirgt ihr Gesicht in den Händen. Sie murmelt etwas. Ich will es gar nicht verstehen.
„Sei nicht undankbar! Deine Mutter und ich arbeiten viel, um das hier möglich zu machen.“ Mein Vater wirft einen Prospekt zu mir rüber.
Ich schnappe nach Luft. „Undankbar?“ Ich stehe auf. Ich will nicht mit ihnen an einem Tisch sitzen. Meine Knie sind weich. Ich muss mich an der Stuhllehne festhalten. „Und was ist mit mir? Jeden Tag nach der Schule passe ich auf ihn auf. Ich gehe mit ihm raus. Ich höre zu, was er erzählt. Ich spiele mit ihm. Ich rette ihn, wenn er sich in Schwierigkeiten gebracht hat. Ich tröste ihn. Jeden Abend lese ich ihm vor.“
Ich stoße mich von der Lehne ab. „Seit ich auf ihn aufpassen kann, mache ich das auch. Deswegen habe ich kaum Freunde. Das mache ich alles für ihn. Er hat sonst niemanden!“
Wackelig gehe ich aus der Küche. Kastanien zerbrechen knirschend unter meinen Schuhen. In der Tür drehe ich mich um. Erst jetzt fällt mir auf, dass meine Mutter schluchzt. Nur mein Vater starrt mich fassungslos an.
Ich will gegen den Türrahmen schlagen. Aber meine Faust stupst nur dagegen. „Nein, ich habe kein eigenes Leben! Ich will auch keines! Wenn ihr ihn wegsperrt, müsst ihr mich mitschicken!“
Mein Vater setzt an, etwas zu erwidern. Er stoppt und schüttelt nur den Kopf.
Als Kind bin ich die Treppe zu meinem Zimmer hoch gerannt, wenn ich wütend war. Das möchte ich jetzt auch. Aber es geht nicht. Ich muss aufpassen, dass ich nicht stolpere.
Ich hocke immer noch auf dem Boden vor meinem Bett. Die Knie habe ich bis ans Kinn gezogen. Mein Gesicht ist nass. Alles fühlt sich taub an.
Andreas steckt schon im Pyjama. Mit seinem Buch in der Hand steht er in meiner Tür.
Ich strecke meine Hand zu ihm aus. Sie zittert ein wenig. Ich warte. Er ergreift sie nicht. Enttäuscht lasse ich sie zu Boden fallen.
Er guckt mich unverändert fragend an.
„Heute Abend kann ich nicht vorlesen“, möchte ich ihm antworten. Doch ich bringe kein Wort heraus.
Ich angele die Kopfhörer von meinem Bett. Ich möchte sie aufsetzen und wieder abtauchen. Ich möchte alles ausblenden, auf Wolken schweben. Die Kopfhörer hänge ich mir um den Hals. Ich möchte Andreas mitnehmen. Dorthin, wo er keine Angst haben muss; wo alles in Ordnung ist; wo er einfach anders sein kann.
Ich atme tief durch. Einmal. Zweimal. Irgendetwas lässt mich Husten.
Ich wechsle in den Schneidersitz. Mit der flachen Hand klopfe auf den Teppich. Wie jeden Abend.
Andreas setzt sich neben mich und gibt mir sein Buch.
Ich wische mir die Tränen aus den Augen. „Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern.“ Meine Stimme schwankt etwas.
Andreas schließt die Augen und atmet tief und langsam.