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Eine andere Sichtweise

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02.04.2003
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Eine andere Sichtweise

Die Welt hat sich verändert. Vielleicht nicht die Welt anderer, aber meine Welt, denn meine Wahrnehmung ist eine andere geworden. Hatte ich mir immer schon eingebildet, mehr oder auf eine andere Art sehen zu können, als meine Umgebung es kann – nur eingebildet? –, so ist es jetzt Wahrheit geworden.

Der Blickwinkel hat sich verändert, die Perspektive, die Proportionen.

Sehe ich hinauf zu den Gipfeln der mich umgebenden, manchmal bedrängenden, mich einschließenden, einladend-abweisenden Berge, so erschließt sich mir ein neues Panorama. Umfassender, weiträumiger, mehr beinhaltend.
Sie sind näher gekommen, versuchen, meinen Blick zu begrenzen, in seine Schranken zu weisen, aber das gelingt ihnen nicht, darf ihnen nicht gelingen.
Ich sehe mehr von ihnen, ein Blick genügt, um sie wie durch ein Weitwinkelobjektiv zu erfassen, um mir erneut schmerzlich zu verdeutlichen, dass sie nichts anderes sind als eine Mauer. Eine Mauer, die mich einsperren will, die es mir verwehrt, die Sonne über den Horizont sich erheben zu sehen in ihrer frühmorgendlichen Pracht und Großartigkeit. Eine unüberwindliche Grenze, die verhindert, dass ich meinen suchenden Blick wandern lassen kann, rastlos, begierig darauf, etwas Neues zu entdecken, etwas Unbekanntes.
Aber diese Mauer ist nicht vollkommen, fehlt ihr doch der sie sichernde Stacheldraht. Und sie weist Lücken auf, unbarmherzig in sie hineingegraben durch Kräfte, denen sie nur scheinbar widerstehen konnte, die sich ihren Weg suchten, unaufhaltbar.
Diese Lücken werde ich suchen, werde die Pfade beschreiten, die mich aus ihrer Umklammerung führen.

Betrachte ich Dinge, die mir näher sind, so bedarf es eines zweiten Blickes, um sie klar erkennen zu können in ihrer scheinbar realen Gestalt, in der äußeren Form, die mir vertraut ist.
Vertraut? Was ist vertraut? Ist es nicht nur Gewohnheit, alles immer gleich wahrzunehmen, immer das Gleiche darin erkennen zu wollen? Feigheit davor, eine vielleicht andere, fremde Wirklichkeit zu erkennen? Aber was hindert mich, was wird geschehen, wenn ich diese Angst abstreife, achtlos hinter mir lasse wie einen wärmenden Mantel an einem heißen Sommertag? Was werde ich sehen?

Blicke ich nach unten, trübt sich das Bild. Alles wird unscharf, verschwommen, Linien und Kanten werden zu Kurven und Bögen, die verzerren, Schwindelgefühl verursachen.
Soll ich mich fallen lassen in dieses ungewohnte Empfinden, soll ich zulassen, dass die Welt um mich ihr Eigenleben entwickelt? Soll ich das Bewusstsein, dass sie sich dreht, dass nichts statisch ist, an die Oberfläche gelangen lassen? Was wird dann sein? Werde ich aufhören, den Mittelpunkt darzustellen?

Gedanken, die mich ängstigen. Ich werde nicht mehr nach unten sehen.

Selbst die Farben haben sich verändert. War der Bergwald bislang nichts anderes als eine konturlose watteartige Schicht, alle schroffen Kanten und schartigen Einschnitte verbergend, so erschließt er sich mir nun in all seiner Farbenvielfalt; seine unzähligen Varianten des Grüns spielen mit meinen Augen, verwirren sie.
Wie viele Farben nehmen wir wahr?
Ich weiß es nicht, aber mein Spektrum hat sich erweitert. Manches, was zuvor nur durch seine Form definiert war, erschließt sich mir jetzt durch seine Farbe, durch Nuancen der Tönung und der Schattierung.

Aber noch immer ist mein Blick eingesperrt, kann nicht die Ziele erfassen, die er sucht. Suche ich in der falschen Richtung, wird auch die Überwindung der Berge mir keine neue Einsicht verschaffen?
Müde und angestrengt verberge ich meine brennenden Augen hinter den Lidern, aber immer noch nehme ich das Licht wahr. Licht und Farbenspiele, die mich locken, ihnen zu folgen.

Ist das Ziel in mir selbst? Losgelöst und unabhängig von den Signalen, die der Sehnerv an mein rastloses Gehirn schickt? Habe ich mich in die Irre leiten lassen, verführt von vergänglichen Farben, verschwimmenden Formen? Habe ich endlich das System durchschaut, den Irrweg erkannt, der mich daran hinderte, die wirkliche und unveränderliche Sicht zu erreichen?

Ist all das, was ich sehe, und noch viel mehr das, was ich sehen will, nicht in mir selbst? Erschaffe ich nicht meine Wunschbilder vor meinem geistigen Auge? Kreiere ich nicht meine eigenen Welten, immer wieder neu, von Stunde zu Stunde andere, sich manchmal im Sekundentakt verändernd?
Ist all die Suche nach einer wahren, unverrückbaren Realität, der Traum von einer anderen Wirklichkeit nichts anderes als Gaukelei, eine Phantasie mit dem einzigen Zweck, mich in meinen Grenzen zu halten?
Und habe ich nicht jederzeit die Macht, diese Grenzen zu überwinden?
Liegt es nicht nur an mir?

Gestern bekam ich eine neue Brille, über die der Optiker sagte, die Augen würden zwei Wochen benötigen, um sich daran zu gewöhnen.

Lieber Gott, lass diese zwei Wochen niemals enden!

 

Hallo Existence!

Interessant ist auch die aufgeworfene Frage, ob es sich bei der konformen menschlichen Wahrnehmung um einen Schutzmechanismus handelt ("Ist es nicht nur Gewohnheit, alles immer gleich wahrzunehmen, immer das Gleiche darin erkennen zu wollen? Feigheit davor, eine vielleicht andere, fremde Wirklichkeit zu erkennen?"), aber eigentlich ist es ja so, dass der Mensch alles, was er sieht, in der von ihm wahrgenommenen Form zu begründen versucht, daher denke ich, dass es genau umgekehrt ist.
Eigentlich wollte ich genau das ausdrücken! Vielleicht muss ich es umformulieren, mal sehen, was andere vielleicht noch dazu sagen.

Aufgefallen ist mir, dass der den Blick beschränkenden Mauer ein Stück Stacheldraht fehlt, der aber doch gar nicht den Blick zu behindern vermöchte. Hier wäre vielleicht ein "Gesteinsfragment" o.ä. angemessener.
Hier meinte ich auch nicht die Beschränkung des Blickes, sondern das Gefühl des Eingesperrtseins. Und wenn einer Mauer der Stacheldraht auf der Mauerkrone fehlt, wird sie leichter überwindbar.

Der Satz "eine Phantasie mit dem einzigen Zweck, uns in unseren Grenzen zu halten?" ist zu allgemein formuliert für diese Geschichte. Da der Protagonist ohnehin das Bild für irgendeinen von uns ist, kann dieser Satz sich, wie der Rest der Erzählung auch, allein auf seine Person beschränken.
Das werde ich ändern, da hast Du Recht.

Und danke für die "starken Bilder"!

LG
Aragorn

 

Hi Bo!

Danke für Dein Lob, freut mich, dass Dir die Geschichte und die darin enthaltenen Fragen gefallen haben.

LG
Julia

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Julia!

Deine Geschichte gefällt mir im Großen und Ganzen :), allerdings sind da auch zwei Punkte, die mir nicht so ganz zusagen.

Wie Du aus dem durch die Berge beschränkten Blick philosophische Überlegungen über verschiedene Sichtweisen ableitest, die Farben mit einbringst, das hat mir gefallen. Über den Schluß war ich allerdings enttäuscht, da er alles so darstellt, als hätte die Protagonistin ihre Erkenntnisse nicht von sich aus, sondern nur deshalb, weil sie eine neue Brille bekommen hat. Das verzerrt die Optik für meinen Geschmack zu viel, es wirkt auf mich auch sehr nach „eine Pointe muß her“.

Aber diese Mauer ist nicht vollkommen, fehlt ihr doch der sie sichernde Stacheldraht. Und sie weist Lücken auf, unbarmherzig in sie hineingegraben durch Kräfte, denen sie nur scheinbar widerstehen konnte, die sich ihren Weg suchten, unaufhaltbar.
Diese Stelle paßt meiner Meinung nach nicht, ich würde sie andersherum betrachten... Die Mauer bzw. der Berg ist ja nicht erst vollkommen, wenn ein Stacheldraht oben drauf ist. Daß dem Berg, der Mauer, ein Stacheldraht fehlt ist in meinen Augen nicht richtig. Ist es nicht vielleicht so, daß die Protagonistin sich bisher einen Stacheldraht gedacht hat und jetzt draufkommt, daß da ja gar keiner ist? Wenn ja, dann würde ich das eher als erstaunte Feststellung schreiben, in der eben das zum Ausdruck kommt. ;)

Noch drei Kleinigkeiten:

»Ist das Ziel in mir selbst, losgelöst und unabhängig von den Signalen, die der Sehnerv an mein rastloses Gehirn schickt?«
- der Beistrich nach „selbst“ schaut mich irgendwie deplaziert an

»Habe ich mich in die Irre leiten lassen, verführen lassen von vergänglichen Farben, verschwimmenden Formen?«
- hier würde ich das erste „lassen“ streichen ;)

»Habe ich endlich das System durchschaut, habe ich den Irrweg erkannt, der mich ewig daran gehindert hätte, die wirkliche und unveränderliche Sicht zu erreichen?«
- „der mich ewig daran gehindert hätte“ klingt für mich ein bisschen negativ, was hältst Du von „der mich bisher daran gehindert hat“?
- das zweite "habe ich" würde ich auch streichen


Und wie wäre es, wenn Du die Protagonistin gar noch auf die Berge hinaufsteigen und sie alles auch noch von oben sehen ließest? :)

Hast Dir eigentlich schon mal eine Verschiebung nach "Philosophisches" überlegt? ;)

Liebe Grüße,
Susi

 

Hallo Susi!

Zunächst mal vielen Dank, dass Du den Text gelesen und Dich so ausführlich damit auseinandergesetzt hast!

Es war nicht so, dass "eine Pointe her musste"; tatsächlich war es so, dass ich an jenem Tag eine neue Brille bekommen hatte, die mich alles verzerrt sehen ließ, bis die Augen sich daran gewöhnt hatten, und während ich damit kämpfte, auf dem Monitor auch zu erkennen, was da stand, kam mir die Idee zu diesem Text, der im eigentlichen Sinne keine Geschichte ist.
Deshalb würde ich den Schluss nur ungern streichen.
Andererseits hast Du natürlich Recht, dass der Leser diesen Hintergrund nicht kennt - ich denke noch darüber nach.

Die unvollständige Mauer werde ich ändern, mir muss nur erst die richtige Formulierung einfallen.

Die nächsten drei von Dir angesprochenen Punkte habe ich bereits geändert, danke für den Hinweis!

Die Protagonistin auf die Berge hinaufsteigen lassen möchte ich nicht; ich befürchte, dass der ganze Text dann in zwei Teile zerfällt, denn ich weiß, wie anders alles von oben aussieht. Daraus werde ich eher eine eigene Geschichte machen.

Und das Ganze in "Philosophisches" verschieben - hm, es fällt mir schwer, zu beurteilen, wo rein persönliche, meist auch autobiographisch geprägte Gedanken aufhören und wo Philosophie beginnt.
Vielleicht habe ich auch nur Angst, ausgelacht zu werden, wenn ich durch eine solche Verschiebung behaupte, philosophisches Gedankengut von mir zu geben.

Liebe Grüße,
Julia

 

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