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Eine andere Sichtweise
Die Welt hat sich verändert. Vielleicht nicht die Welt anderer, aber meine Welt, denn meine Wahrnehmung ist eine andere geworden. Hatte ich mir immer schon eingebildet, mehr oder auf eine andere Art sehen zu können, als meine Umgebung es kann – nur eingebildet? –, so ist es jetzt Wahrheit geworden.
Der Blickwinkel hat sich verändert, die Perspektive, die Proportionen.
Sehe ich hinauf zu den Gipfeln der mich umgebenden, manchmal bedrängenden, mich einschließenden, einladend-abweisenden Berge, so erschließt sich mir ein neues Panorama. Umfassender, weiträumiger, mehr beinhaltend.
Sie sind näher gekommen, versuchen, meinen Blick zu begrenzen, in seine Schranken zu weisen, aber das gelingt ihnen nicht, darf ihnen nicht gelingen.
Ich sehe mehr von ihnen, ein Blick genügt, um sie wie durch ein Weitwinkelobjektiv zu erfassen, um mir erneut schmerzlich zu verdeutlichen, dass sie nichts anderes sind als eine Mauer. Eine Mauer, die mich einsperren will, die es mir verwehrt, die Sonne über den Horizont sich erheben zu sehen in ihrer frühmorgendlichen Pracht und Großartigkeit. Eine unüberwindliche Grenze, die verhindert, dass ich meinen suchenden Blick wandern lassen kann, rastlos, begierig darauf, etwas Neues zu entdecken, etwas Unbekanntes.
Aber diese Mauer ist nicht vollkommen, fehlt ihr doch der sie sichernde Stacheldraht. Und sie weist Lücken auf, unbarmherzig in sie hineingegraben durch Kräfte, denen sie nur scheinbar widerstehen konnte, die sich ihren Weg suchten, unaufhaltbar.
Diese Lücken werde ich suchen, werde die Pfade beschreiten, die mich aus ihrer Umklammerung führen.
Betrachte ich Dinge, die mir näher sind, so bedarf es eines zweiten Blickes, um sie klar erkennen zu können in ihrer scheinbar realen Gestalt, in der äußeren Form, die mir vertraut ist.
Vertraut? Was ist vertraut? Ist es nicht nur Gewohnheit, alles immer gleich wahrzunehmen, immer das Gleiche darin erkennen zu wollen? Feigheit davor, eine vielleicht andere, fremde Wirklichkeit zu erkennen? Aber was hindert mich, was wird geschehen, wenn ich diese Angst abstreife, achtlos hinter mir lasse wie einen wärmenden Mantel an einem heißen Sommertag? Was werde ich sehen?
Blicke ich nach unten, trübt sich das Bild. Alles wird unscharf, verschwommen, Linien und Kanten werden zu Kurven und Bögen, die verzerren, Schwindelgefühl verursachen.
Soll ich mich fallen lassen in dieses ungewohnte Empfinden, soll ich zulassen, dass die Welt um mich ihr Eigenleben entwickelt? Soll ich das Bewusstsein, dass sie sich dreht, dass nichts statisch ist, an die Oberfläche gelangen lassen? Was wird dann sein? Werde ich aufhören, den Mittelpunkt darzustellen?
Gedanken, die mich ängstigen. Ich werde nicht mehr nach unten sehen.
Selbst die Farben haben sich verändert. War der Bergwald bislang nichts anderes als eine konturlose watteartige Schicht, alle schroffen Kanten und schartigen Einschnitte verbergend, so erschließt er sich mir nun in all seiner Farbenvielfalt; seine unzähligen Varianten des Grüns spielen mit meinen Augen, verwirren sie.
Wie viele Farben nehmen wir wahr?
Ich weiß es nicht, aber mein Spektrum hat sich erweitert. Manches, was zuvor nur durch seine Form definiert war, erschließt sich mir jetzt durch seine Farbe, durch Nuancen der Tönung und der Schattierung.
Aber noch immer ist mein Blick eingesperrt, kann nicht die Ziele erfassen, die er sucht. Suche ich in der falschen Richtung, wird auch die Überwindung der Berge mir keine neue Einsicht verschaffen?
Müde und angestrengt verberge ich meine brennenden Augen hinter den Lidern, aber immer noch nehme ich das Licht wahr. Licht und Farbenspiele, die mich locken, ihnen zu folgen.
Ist das Ziel in mir selbst? Losgelöst und unabhängig von den Signalen, die der Sehnerv an mein rastloses Gehirn schickt? Habe ich mich in die Irre leiten lassen, verführt von vergänglichen Farben, verschwimmenden Formen? Habe ich endlich das System durchschaut, den Irrweg erkannt, der mich daran hinderte, die wirkliche und unveränderliche Sicht zu erreichen?
Ist all das, was ich sehe, und noch viel mehr das, was ich sehen will, nicht in mir selbst? Erschaffe ich nicht meine Wunschbilder vor meinem geistigen Auge? Kreiere ich nicht meine eigenen Welten, immer wieder neu, von Stunde zu Stunde andere, sich manchmal im Sekundentakt verändernd?
Ist all die Suche nach einer wahren, unverrückbaren Realität, der Traum von einer anderen Wirklichkeit nichts anderes als Gaukelei, eine Phantasie mit dem einzigen Zweck, mich in meinen Grenzen zu halten?
Und habe ich nicht jederzeit die Macht, diese Grenzen zu überwinden?
Liegt es nicht nur an mir?
Gestern bekam ich eine neue Brille, über die der Optiker sagte, die Augen würden zwei Wochen benötigen, um sich daran zu gewöhnen.
Lieber Gott, lass diese zwei Wochen niemals enden!