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Eine andere Nacht
Eine andere Nacht
Eine Geschichte über Vertrauen, Orientierung und Adrenalin
Hältst du es für möglich, einen einzelnen Moment aus der Zeit auszuklammern? Einfach alles, was vor einer Minuten war und in einer Minuten sein wird, zu vergessen und dich nur auf den Moment zu konzentrieren, sich einfach in dieses Zeitloch hineinfallen zu lassen? Und nicht nur die Konsquenzen nicht zu scheuen, sondern eine mögliche Konsequenz gar nicht erst aufkommen zu lassen, sie nicht einmal im Keim zu ersticken, sondern von vornherein bewusst zu machen, dass es gar keine geben kann, weil dieser Moment ja von der Gegenwart losgelöst ist, gar nichts damit zu tun hat.
***
"40 für Französisch, 70 für Verkehr. Beides für 90."
Ihre Falten sah er nicht. Nicht dass er sie übersah, nein, er sah sie einfach nicht. Ebenso wenig, wie das viel zu üppig aufgetragene Makeup, mit der sie ihren blassen Teint zu übertünchen versuchte. Sie wirkte älter als sie vermutlich war, aber sie wusste worauf es ankam. Sie legte ihm die Hand auf seinen rechten Arm, als würde sie seine Aufregung spüren und rang sich ein liebevoll gemeintes Lächeln ab.
"Ist das dein erstes mal?"
"Mit einer Professionellen ja."
"Na dann schlag ich vor, wir machen Verkehr, hm?"
"Okay."
Sie stand von ihrem Barhocker auf und ging langsam, aber routinierten Schrittes Richtung Separée. Er folgte ihr zögernd. Hastig tastete er noch einmal seine Geldscheine in seiner Hosentasche ab, die er sich vorher extra aus seiner Brieftasche genommen und eingesteckt hatte. Sie öffnete die Tür zu einem kleinen, rot tapezierten Zimmer, in dessen Mitte ein grosses Bett stand.
"Ich muss leider vorher kassieren. Also willst du Verkehr? Dann 70."
"Vielleicht doch lieber Französisch."
"Sicher?"
"Ja."
Als die Scheine den Besitzer gewechselt hatten, begann sie sich auszuziehen. Sein Spiegelbild sah ihm dabei zu, wie er das gleiche tat.
***
Tim trat das Gaspedal durch. Ihr Weg führte sie durch die schlecht asphaltierten, unbeleuchteten Strassen der Vorstadt, vorbei am Bahnhof, eine kurze Strecke neben den Schienen entlang, dann bogen sie ab und blieben auf einer, um diese Uhrzeit kaum befahrenen Stelle, am Strassenrand stehen. Tim schnaufte tief durch, als er den Motor abstellte. Er starrte auf die Armaturen, seine Hände umklammerten das Lenkrad. Dann entfuhr ihm ein kurzer hysterischer Lacher. Alex sah ihn fragend an.
"Was ist?"
Tim grinste zu ihm hinüber, sah ihn einige Sekunden lang an, dann schwenkte sein Blick auf die gegenüber liegende Strassenseite.
"Der Alte ist da, siehst du?"
"Mhm."
Sie starrten für ein paar Augenblicke aus dem Seitenfenster, weniger um die Lage abzuchecken, als viel mehr vielleicht doch noch einen Grund zu finden, es nicht zu tun. Aber es gab keinen. Als Tim seinen Kopf wieder zu Alex drehte, sah er, wie dieser seine Augen geschlossen hielt. Er sagte nichts. Gab seinem Freund einfach diese paar Sekunden. Er wusste, dass er auf ihn zählen konnte. Er spürte es einfach.
Die Autotüren fielen ins Schloss und die beiden jungen Männer marschierten quer über die Strasse, vorbei an den Zapfsäulen und hinein in den kleinen Tankstellenshop.
Der Alte saß auf seinem Stuhl und starrte in einen kleinen S/W-Fernseher. Er warf den beiden nur einen flüchtigen Blick zu und ließ sie dann in aller Ruhe durch die kurzen, engen Gänge seines Geschäfts schlendern. Als er ihre Schritte näher kommen hörte, wandte er sich von seinem Programm wieder ab. Es ging so schnell, dass er im ersten Moment nicht einmal das Entsichern des Feuerlöschers hörte, dessen weisser Schaum ihm augenblicklich den Atem raubte, sich ihm in die Augen brannte und ihn rücklings von seinem Sessel stürzen ließ. Sein Hinterkopf knallte hart gegen das Regal.
Alex ließ erschrocken den Taster los. Dann kicherte er fast auf, verdutzt über die eigene Kaltschnäuzigkeit und die Eile, in der die Aktion scheinbar schon wieder beendet war. Der Alte rührte sich nicht mehr. Tim schlich um den Verkaufstisch, kniete sich neben ihn und strich ihm mit den Händen den Schaum aus dem Gesicht. Er legte ihm zwei Finger auf den Hals und tastete nach seinem Puls. Dann nickte er seinem Freund zu.
"Er ist okay."
Alex atmete erleichtert auf und stellte den Feuerlöscher neben sich auf den Boden. Wortlos nahm Tim dem Alten den Schlüssel ab, öffnete die Kasse und packte sich alles was da war in die Taschen. Alex kletterte über den Tisch und schnappte sich vier Stangen Marlboro.
***
"Was ist das?"
Er war nicht erschrocken, eher erstaunt, dass er so ruhig blieb.
"Hast du das nicht gewusst? Normalerweise wissen die Typen die mich anquatschen, warum sie es tun. Willst du jetzt nicht?"
Er sagte nichts. Er hatte die Bar nicht gekannt, wusste nicht, welche Leute hier verkehrten. Es schien ihm aber nichts auszumachen. War es nur das? Machte es ihm nur nichts aus?
Er sah ihr auf die Brüste, berührte sie leise.
***
Tim lag flach auf dem Bauch. Das alte Eisen unter ihm war hart und kalt, aber der Luftzug den er gleich spüren würde, würde ihm sowieso alle Sinne rauben. Er übte seinen Griff an den Verstrebungen und blickte noch einmal zu seinem Freund, der seinen Platz fünf Meter hinter ihm gefunden hatte. Dann legte er seinen Kopf auf die Seite und wartete das Signal ab.
Die ersten hundert Meter zogen langsam vorbei, aber der erwartete Effekt blieb nicht aus, als der Zug auf Reisegeschwindigkeit beschleunigte. Langsam hob Tim seinen Kopf und blinzelte gegen die auf ihn einprasselnden Luftmassen. Er öffnete leicht seinen Mund und schloss seine Augen. Augenblicklich füllten sich seine Lungen und ließen ihn sich aufbäumen. Er umklammerte das kalte Eisen und hob seinen Kopf in den Wind. Die ratternden Schienen stießen hart gegen die Räder des Wagons und eine unbändige Vibration setzte ein. Alex schrie aus Leibes Kräften. Seine Laute zerrissen nur wenige Zentimeter vor seinen Lippen und explodierten lautlos in seinen Ohren. Er stand nahezu aufrecht auf dem Dach, stämmte sich gegen den urgewaltigen Druck auf seinen Körper und wehrte jeden Peitschenhieb erneut mit einem Schrei ab.
Die Brücke tauchte aus dem Nichts auf. Keine Lichter, kein Signal. Tim breitete die Arme aus, konzentrierte sich allein auf die Schläge der Weichen. Eine Sekunde zu früh und er platzte gegen den Brückenpfeiler, eine Sekunde zu spät und er würde von den Stahlseilen zerrissen. Als Alex sprang, waren Tims Beine bereits in der Luft. Der Zug fetzte von einem Moment auf den anderen unter ihren Füssen hinweg. Die Räder krächzten ihnen auf ihrem Flug nach.
Das Wasser war weder kalt noch warm. Die Härte des Aufschlags wurde nicht wahrgenommen. Sie tauchten ein, versanken. Und als ob sie die Luft während ihrer Reise zur Gänze in ihren Lungen gespeichert hätten, wehrten sie sich nicht gegen den Sog, liessen sich treiben und tauchten erst wieder auf, als sie das Wasser freizugeben schien.
***
Er legte das Kondom ab, wusch sich kurz Hände und Gesicht beim Waschbecken. Er schlüpfte in sein Gewand und setzte sich noch einmal an den Rand des Bettes. Sie war schön. Er strich ihr durchs Haar und fast hätte er gelächelt.
"Danke."
Er dachte es mehr, als er es sagte, aber noch nie zuvor hatte er ein "Danke" so direkt und unmittelbar gespürt, wie in diesem Moment. Sie lächelte.
"Du kriegst noch was drauf, hm?"
"Nicht, wenn es dir gefallen hat."
Er lachte unhörbar auf, überhörte dabei beinah den ernsten Unterton in ihrer Stimme.
"Nicht, wenn es mir gefallen hat? Sagst du das zu jedem?"
Sie war nicht beleidigt. Sie sah ihn an, stützte sich auf der Matratze auf, küsste ihn auf den Mund. Seine Lippen, seine Zunge erwiderten den Kuss, seine Gedanken schweiften ab.
"Du hast heute noch was vor, hm?"
Er sah an ihr vorbei, schien kurz zu überlegen, möglicherweise sogar eine Sekunde mit sich zu hadern.
"Kommst du mit?"
Die Frage überraschte sie, vielleicht hatte sie sie erhofft, vielleicht sogar insgeheim erwartet.
"Würdest du mitgehen, wenn ich dich bitten würde?"
"Ja."
Sie küssten sich, umarmten sich, hielten einander fest, hielten sich selbst fest.
***
Als Tim ans Ufer kroch, lag Alex bereits auf der Wiese. Er hatte sich sein nasses Hemd ausgezogen und lag nun mit nacktem Oberkörper auf dem Rücken. Er atmetet tief durch. Tim tat es ihm gleich und legte sich neben ihn. Sie starrten in den Sternenhimmel.
"Ist das das Verrückteste was du jemals getan hast?"
Tim lächelte.
"Meinst du heute Nacht?"
Alex lächelte ebenfalls, drehte seinen Kopf zu Tim.
"Hast du solche Nächte öfter?"
"Du meinst Nächte, in denen ich eine Nutte aufsuche, eine Tankstelle überfalle und von einem fahrenden Zug in einen See springe?"
Sie lachten still. Dann drehte Tim sich auf die Seite und während ihre Lippen einander suchten und fanden, legte er seine Hand leise auf Alex' Brust.