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Eine andere Liga
Die anderen Trauergäste hatten die Gastwirtschaft bereits verlassen, als sie plötzlich vor mir stand. Es war ihr Freund und mein Sturmpartner gewesen, der zu Grabe getragen wurde. Ich versuchte an ihren Augen abzulesen, ob sie geweint hatte. Dann schenkte ich ihr einen Kaffee ein, zu schnell als dass sie ablehnen konnte. Sie setzte sich, hielt die Tasse mit beiden Händen vor den Mund und schlürfte. Mir gefiel dieses Bild sehr, mir gefiel, wie sie da saß und die Tasse hielt.
Sollte ich sie jetzt einfach in den Arm nehmen oder ihre Hand ergreifen? Plötzlich schoss es aus mir raus: „Du bist mir noch eine Antwort schuldig!“ Sie sah mich an und sagte „So?“. Ich wusste in dem Moment selbst nicht mehr, worauf ich dies bezog und ließ das Thema fallen, da ich fürchtete, Reales mit Geträumtem zu verwechseln. Nach kurzer Pause fragte ich sie, ob sie mit mir noch wohin ginge, "ins Kino vielleicht? Ich weiß, was du jetzt denkst. Wie kann man jetzt an Kino denken, wo einem der Sinn ganz anders steht. Ich sehe das nicht so. Man sollte jetzt nicht zwei Wochen lang Betroffenheit heucheln und so tun als könne man an nichts anderes denken. Mich drängt es förmlich weg von diesem Thema, muss was anderes denken. Es ist eher wie eine wunde Stelle im Mund, kommt man mit der Zunge nicht dran ist alles schmerzfrei, aber immer mal wieder beim Reden oder Essen kommt man eben doch dran und dann sticht der Schmerz auf. Drückt man absichtlich dauerhaft die Zunge gegen die Stelle, so wird sie taub, man empfindet nichts mehr, man ist nur noch tumb. Ich glaube so geht es dir auch gerade. Das ist ganz normal.“
Wieder mal nicht glücklich mit meinen Worten und zu mir selbst sagend, Junge, so wird das nichts, entschloss ich mich - Feingefühl hin oder her - alles auf eine Karte zu setzen und sagte Folgendes: „Weißt du, was ich denke, ich denke, hey Junge, was interessiert dich der andere, der hat seine Entscheidung getroffen. Ich aber will leben, habe Hunger und Durst, habe Ziele, bin noch lange nicht fertig, im Gegenteil: Die Beerdigung heute hat mich regelrecht wachgerüttelt, wenn man etwas will, so muss man es angehen, sein Glück versuchen, man kann dann nicht sagen, okay, aber nicht heute, heute muss ich Trauer tragen. Wenn man das nämlich macht und wartet, bis man meint, die Trauerarbeit sei erledigt, dann ist man längst wieder im Alltagstrott drin und nichts ist gewonnen, man lebt weiterhin wie vorher. Jetzt aber ist man hellwach und hat die Kraft es umzusetzen und anzugehen.“
Da sie abermals nicht reagierte und mein Vorhaben, sie irgendwie auf mich zu fixieren, zu scheitern drohte, legte ich noch einen nach und stieß sie dabei an: „Hey nun sag was dazu, verstehst du denn nicht? Willst du keine Lehren daraus ziehen, willst du weitermachen wie bisher oder endlich, endlich leben und frei sein und machen, was man wirklich will.“
Sie sagte einfach nichts, reagierte nicht einmal. Schweigen.
„Was kann man denn schon groß machen, man kann doch nicht aus seiner Haut.“
„Sieh mich an, bin ich jetzt wie immer. Sicher nicht, vielleicht denkst du, der labert sich in Wahn, ich sei im Augenblick von Sinnen. Schön, ich bemühe mich, will was bewegen und das kann man nicht, wenn man gleichmütig sitzen bleibt. Nein, ich habe Ziele und sie sind zu erreichen, scheinen sie auch auf den ersten Blick utopisch, aber es geht; ich bin noch jung, nur muss man in Wallungen kommen. Mach ich mich lächerlich, bin ich nicht mehr normal? Scheißegal: Ich will es und will es jetzt.“
„Was willst du denn?“
„Was ich will ?!? Das weißt du nicht? Ich will dich, will dich meinen Eltern vorstellen, meinen Freunden, ich will dich lieben, deine Erregung spüren, ich will mit dir leben, weinen, lachen, ich will mit dir was aufbauen, eine große Sache, ich will, dass sich mein Leben lohnt und ich will, dass du dabei an meiner Seite bist.
Nun sag was, lass mich nicht so stehen. Verdammt noch mal, sag etwas! Sei jetzt nicht feige“. Bei diesen Worten fasste ich sie an die Oberarme und rüttelte sie. Doch sie blieb lethargisch.
„Och Scheiße Mensch, jeder kennt das, nachts, wenn man empfänglich ist dafür. Für Ängste, für den Tod, wenn man plötzlich weiß, was man will, Bilder vor Augen hat. Sicher, in der Realität schmeckt es dann nicht so wunderbar wie in den Vorstellungen, wo gedanklich alles passt. Dennoch sollte man es tun, seinen Körper nehmen und so einsetzen wie man es sich vorher ausmalte. Was hat man zu verlieren, hier kennt uns keiner, strafbar ist es nicht und Lächerlichkeit? Wenn man an den Tod denkt, ist alles lächerlich. Ich hatte vergangene Nacht eine seelische Erschütterung: Angst vorm Altwerden, vor versäumten Leben, Unzufriedenheit darüber, das Leben nicht zu nutzen. Und da malte ich mir aus, wie es wäre, wenn ich dir einfach sagte, welche Vorstellungen ich habe, was ich will, dass ich auch dich will, dass ich es alles angehen will. Und dann der Praxisschock, Situationsschock. Ich sitze hier mit dir und alles ist so normal, nichts von der Empfindung der vergangen Nacht ist übriggeblieben, nur die gedankliche Erinnerung an mein Vorhaben, was ich dir sagen wollte, wie ich dich mitreißen wollte. Und eben dann dachte ich, dann tu es einfach, du bist es dir und deinem Leben schuldig, du bist es dir der vergangenen Nacht wegen schuldig, nimm sie beiseite und sag es ihr, vielleicht kommt über die Tat auch die ersehnte Empfindung dazu und vielleicht fühlt sie wie du, vielleicht ist sie gar nicht kalt, vielleicht kennt sie das auch von sich und versteht dich und vielleicht ist sie sogar froh, dass sich mal einer zu erkennen gibt, einer der ihr sagt, ja mir geht es auch so, einer der sich geschworen hat, sich nichts mehr peinlich sein zu lassen, einer, der es ab jetzt immer so macht, wie er will. Nadine, es ist so einfach, so einfach, man muss es nur tun. Lass es uns tun! In der Gegenwart ist alles immer normal, in der Erinnerung aber nicht. Wie komisch und unsicher ich mich auch gerade fühle, ich bin mir sicher, schon morgen, wenn ich mich an diese Situation erinnere, werde ich mich großartig fühlen, in etwa so wie vergangene Nacht, als ich es mir in schönsten Bildern ausmalte. Ich bin jung, ich bin stark. Ich will meine Jugend nicht nur absitzen. Nadine, ich lese es an deinen Augen und wahrscheinlich hast du Recht, mein Auftritt jetzt ist vulgär, aber meine Sehnsucht ist es nicht. Gib dir einen Ruck und lass uns heute gemeinsam etwas beginnen, womit wir nicht wieder aufhören.“
„Weißt du, so hat noch keiner versucht, mich rumzukriegen. Ich meine, ich hatte schon viele Anträge, und alle versuchten es immer irgendwie mit Liebe, damit, wie gut ich aussehe, dass sie nur noch an mich denken könnten und an nichts anderes, seitdem sie mich kennen. Ich weiß nicht, wie oft ich von verschiedensten Typen das Gleiche hörte, so als gäbe es irgendwo ein Buch, in dem steht, wie man sich bei mir zu bewerben habe. Mich widerten all diese Typen nur an. Immer sprachen sie von Liebe, von Einzigartigkeit und es war doch immer nur das gleiche Geschwätz. Dass sie liebten, nahm ich ihnen jedenfalls nicht ab, vielmehr war es bei ihnen genauso wie bei dir, so wie du es eben sagtest, möchtest mich haben, mich besitzen, mich deinen Freunden vorstellen. Und“ sie lachte dabei“ „ich weiß wirklich nicht was peinlicher ist, diese hilflose Liebesheuchelei oder das aggressive Auftreten von dir eben. Fruchten tut bei mir jedenfalls beides nicht. Gerade weil ich an jedem Finger zehn Männer haben kann, kommt für mich nur in Frage, wen ich mir selbst aussuche. Denn was ist denn mit den Typen, die dir ewig große Liebe schwören, und dann, wenn sie dich einmal gehabt haben, werden sie schon normaler und bald behandeln sie dich wie jede andere auch, meist sogar schlechter und fühlen sich ganz groß dabei. Liegt es an ihren Erwartungen? Ob sie enttäuscht darüber sind, dass man auch nur eine normale Frau ist? Es ist jedenfalls immer dasselbe. Bei IHM und mir war das anders. ER hatte mich nicht angebaggert. Auch gab er sich nicht überlegen souverän: auf diese Typen bin ich nur zweimal reingefallen, die, weil sie schon 25 waren und ich selbst erst 17/18, irgendwie selbstverständlich mit einem umgingen, leider waren sie einem dann auch voraus, und nutzten einen nur viel geschickter aus, sie standen meist auf merkwürdige Dinge im Bett und verkauften es einem als etwas völlig Normales und man selbst macht dann so allerhand mit, da man denkt, so funktioniert nun mal interessannter Sex und man muss es eben alles erst noch lernen. Also glaube mir, ich bin kein unbeschriebenes Blatt mehr.
Nein, ER war anders. Erstmal sah er selbst umwerfend gut aus. Und wir kamen wegen unseres Aussehens zusammen. Nicht so wie du jetzt denkst, nein Aussehen war uns beiden nicht das Wichtigste. Wir suchten nur bei unseren Partnern das gleiche, eben nicht Aussehen, sondern etwas anderes, was ich jetzt nicht aussprechen mag, etwas wo wir unsere Defizite hatten und wonach wir uns deshalb sehnten. Aber wir beide hatten es nicht gefunden, ER wie ich traf auch nie auf wirkliche Liebe, obwohl man sie auch IHM immer schwor. Man hat uns einfach immer nur belogen, gemeint, man müsse uns die fantastischsten Geschichten erzählen, und nichts davon stellte sich dann als wahr heraus. Hinter dem Geheuchel war nur Egoismus und Boshaftigkeit und Besitzdenken. Und so brachte uns schließlich doch unser Aussehen zusammen, da wir die gleichen Erfahrungen gemacht haben, weil wir es satt hatten. Es war zwischen IHM und mir nicht mal die große Liebe: wir kamen zusammen, weil wir uns das geben wollten, was wir von anderen nicht kriegen konnten. Wir sprachen viel und offen über unsere Sehnsüchte und Wünsche und stellten fest, wir wollten das gleiche. Das war auch der Grund, warum es mit uns ganz gut funktionierte. Und dann die Außenwirkung: Wo wir auch hinkamen, wurden wir als Traumpaar begrüßt und mit offenen Armen empfangen, man schmückte sich wieder gern mit uns, und es war für alle Beteiligten leichter, denn beide waren unerreichbar vergeben.“
„Es liegt also am Aussehen?“
„Nicht nur."
"Woran dann, am Timing?"
"Auch. Aber da ist noch ein anderer Grund, der für sich alleine stehend schon genügt. Ich habe doch eben versucht, es dir zu erklären. Es würde nicht gut gehen. Glaube mir, ich habe das alles schon durch. Wir stehen einfach nicht auf einer Stufe.“
Da gingen bei mir die Lichter aus. Sie traf mitten hinein in meinen Komplex, nie eine Frau zu bekommen, die ich wirklich wollte, die ich lieben könnte. Ich fühlte mich erkannt und gedemütigt.
Obwohl der Schlag hart war, fing sie sich schnell und lachte. Ja, sie lachte mich aus. Dann aber musste sie meine Verzweiflung bemerkt haben, denn in ihrer Stimme klang Verständnis mit: „Siehst du, es fängt doch schon an, es würde nicht gut gehen. Es tut mir leid.“
Bei diesen Worten fasste sie mich an den Arm und sah mir in die Augen. Das war das Letzte, was sie tat, bevor sie ging und mich einfach stehen ließ. Ich erinnere mich nicht mehr an alles, was ich damals dachte. Was mir aber unvergesslich blieb, sind die bitteren Gefühle, die in mir aufstiegen. Sie war sich ihrer Wirkung sicher. Und sie hatte ihr Ziel nicht verfehlt: Am Ende hatte ich es verstanden.