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Eine Ameise im Nachtzug nach Zürich

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28.12.2004
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Eine Ameise im Nachtzug nach Zürich

Die Dächer Prags glänzten im Licht der Abendsonne. Aber dafür interessierte sich Evelyne nicht. Statt Denkmäler und Kirchen fotografierte sie heute ihre Freunde. Sandra, die sich beim Anblick der Kamera in sexy Pose warf. Nils, mit der KGB-Mütze auf dem Kopf. Ramon, der nervös in die Linse zwinkerte.
Schüler um Schüler lichtete Evy die Winterthurer Maturandenklasse ab, während sie auf den Nachtzug nach Zürich wartete. Es war nicht der beste Zeitpunkt für Klassenfotos. Nach einer Woche feiern waren die Gesichter müder als sonst, das Lachen gezwungener. Es war ihr letzter Abend als Schüler, bevor sie morgen mit der Zeugnisübergabe den Status reifer junger Frauen und Männer erhalten sollten.

Einer der bald reifen jungen Männer war Timo. Er hockte auf dem Betonboden, zwischen vergilbten Zeitungen und Zigarettenstummeln. Gelangweilt kaute er auf einem Kaugummi rum. Zwischendurch kratzte er am Tattoo, das er gestern auf seine Schulter hatte machen lassen.
„Schon infiziert?“, fragte Ramon, der ihn dabei beobachtete.
„Es beisst nur etwas.“
„So fängt es an.“ Ramon war überzeugt, dass sein Kollege das Tattoo bald bereuen würde. Timo zuckte mit den Schultern. Er nahm den Kaugummi aus dem Mund und warf ihn auf den Schotter zwischen den Gleisen. „Matthias und Simone haben sich auch eins machen lassen“, erzählte er.
„Ich weiss, aber das macht es nicht besser.“ Ramon schüttelte den Kopf. „Und wieso gerade eine Ameise? Wieso machst du dir eine Ameise auf den Arm?“

Als eine Stunde später die Party im Zug anlief, hockten zehn Schüler in einem Abteil zusammen und liessen sich von Nils Plastikbecher reichen. Sandra füllte sie mit Absinth, worauf die zusammengequetschten Mädchen und Jungs auf bestandene Prüfungen und lange Ferien anstiessen. „Oh Mann, morgen haben wir den Scheiss hinter uns! Ich fass es nicht!“, grölte Nils und füllte seinen Becher bis zum Rand.
Timo ging es vorsichtiger an. Während der vergangenen Woche hatte er genug Erfahrungen mit Alkohol für zwei Leben gemacht. Nun hockte er eingezwängt zwischen Evelynes Hüften und dem Fenster. Das Mädchen trug ihre Kamera bei sich, wie eine Waffe. Mit regelmässigen Klicks dokumentierte sie das Geschehen im Abteil. „Aber nicht auf Facebook, okay?“, bat Ramon, besorgt um seine Karriere.
„Keine Angst“, versprach Evelyne. In der Zwischenzeit schloss Nils die iPod-Boxen an und liess David Hasselhoff laufen. Eine Runde roter Wodka. Eine Runde Absinth. Einmal alle zusammen: „Looking for Freedom!“ Wodka. Wein. Absinth.

„Okay, jetzt versuch mal nicht so blöd zu grinsen“, bat Evelyne. Das war schwieriger als sie wohl dachte. Timo starrte in die Kamera, aber je mehr er sich zu konzentrieren versuchte, desto betrunkener sah er aus. Sie lachte laut, als sie seine halboffenen Augen auf dem Display erkannte. „Okay, ich geb‘s auf.“
„Morgen Abend bei der Zeugnisübergabe, mach besser da ein Foto.“
„Ne, bei so einem Abschlussfest sehen eh alle anständig und brav aus. Ich will eben später das Foto anschauen und mich an einen speziellen Moment erinnern, verstehst du?“ Evy klang viel zu nüchtern für den Alkoholpegel, den sie inzwischen erreicht haben musste.
„Also gut, weisst du was: Wir müssen uns halt später wieder sehen wenn wir nicht besoffen sind. Dann kannst du ein Foto machen.“
Evelyne studierte das Bild auf dem Kameradisplay. Es wurde Timo in keiner Weise gerecht. Eigentlich sah er selbst jetzt, mit Strubbelhaaren und kleinen Pupillen, halbwegs okay aus. Aber auf dem Foto war er die Karikatur eines saufenden Teenagers.
„Hast du von allen ein Bild, jetzt?“
„Jepp. Du warst der Letzte.“
„Das Beste zum Schluss, hm?“
Sie schmunzelte. „Na ja, jetzt da du’s sagst: Von mir habe ich noch kein Foto.“
Das liess sich Timo nicht zweimal sagen: Er nahm Evy die Kamera ab und zwängte sich an Ramon vorbei in eine gute Fotografenposition. „Lächeln!“
Das Mädchen kämmte sich mit den Fingern das dunkle Haar mit den paar rot gefärbten Strähnen aus dem Gesicht und lächelte in die Kamera. Bei ihr klappte das Foto im ersten Anlauf. Die Zähne glänzten zwischen ihren Lippen. Sie strahlte.

Überraschenderweise war es nicht Sandra, die als erste kotzte, sondern Nils. Wenigstens schaffte er es rechtzeitig ans Fenster. Danach hockte er hin und verlangte einen Shot, um den Mundgeschmack zu überdecken.
„Du kotzt eh bald wieder“, meinte Sandra, die ihn halb angeekelt, halb stolz anschaute. Immerhin stand sie mit ihrem Freund zusammen im Zentrum des Geschehens.
„Wo Saufen eine Ehre ist, kann Kotzen keine Schande sein!“, verkündete Nils, grün im Gesicht. „Auf dich, meine Liebste.“
Evy nutzte die Gelegenheit, um an Timos Schulter zu tippen und vorzuschlagen, einen Moment auf den Flur zu gehen. „Bevor uns hier jemand vollkotzt.“

Im Gang sangen tschechische Hockeyfans: „Hopp Schwiiiiz!“ Sie hatten sich mit anderen Maturanden aus dem Nebenabteil vermischt und redeten aufgeregt durcheinander. Evy wies mit einer Kopfbewegung ans gegenüberliegende Ende des Schlafwagens, wo sie sich ans Fenster lehnte. Es war tiefe Nacht. Draussen war nichts zu sehen ausser den Lichtern abgelegener Bauernhöfe.
„Ist irgendwie komisch, dass es vorbei ist. Findest du auch?“, fragte Evelyne nach einer Weile. „Ich ging gerne zur Schule.“
„Ich nicht, ehrlich gesagt.“
„Ja, ja, ich weiss. Jungs gehen nie gerne zur Schule. Aber mir gefiel es. Ich lerne gerne. Und jetzt – keine Ahnung. Ich weiss einfach nicht. - Hey, es ist verdammt heiss, ist okay wenn ich das Fenster öffne?“
Timo half ihr, das Schiebefenster einige Zentimeter nach unten zu ziehen. Sie hielt ihre Hand in den Luftstrom und schloss die Augen. „Das habe ich gebraucht“, sagte sie. Timo schaute sie an, wie sie auf Zehenspitzen dastand, sich ans Fenster presste und das bisschen frische Luft einsog. „Soll ich es weiter öffnen?“, fragte er.
„Schon gut, danke.“ Sie wandte sich von der Scheibe ab. „Seltsam, von allen Leuten hätte ich wirklich nicht gedacht, dass ich die letzte Nacht vor der Matura nur mit dir quatschen würde.“
„Wieso?“
„Keine Ahnung. Wir hatten nie viel miteinander zu tun, nicht?“
Timo zuckte mit den Schultern. Evy war halt das Mädchen in der hintersten Reihe gewesen, mit Simone zusammen, manchmal mit ihrem Freund Päde, bis der sie hatte stehen lassen. Mehr wusste er nicht über sie.
„Also, Simone hat mir erzählt, du warst auch dabei, als ihr dieses Tattoo gemacht habt.“
„Wie’s scheint haben alle davon erfahren.“
„Ich wäre auch gerne gekommen, ehrlich. Ich find's cool. Ich mein, nicht so was Grosses, das man auch sieht. Aber was Kleines, als Erinnerung daran, dass man mal jung und dumm war. Ist doch cool, nicht?“
„Das habe ich auch gedacht.“
„Du hast eine Ameise gemacht?“
„Mhm.“
„Wieso?“
Er zuckte mit den Schultern und wechselte das Thema. „Willst du was trinken?“
„Lieber wäre mir rauchen.“
„Hat überall Rauchmelder im Zug.“
„Ich weiss. Scheisse, nicht?“
„Ausserdem rauchst du gar nicht.“
„Ich weiss. Ebenfalls scheisse.“

Das Schlafabteil, in dem Timo seine Sachen hatte, war leer. Alle hielten sich vorne auf. Nils' und Sandras Stimmen klangen gedämpft und wurden zuweilen übertönt, wenn der Zug durch Tunnels oder über Brücken fuhr.
Timo öffnete den Absinth, den er eigentlich für seinen Vater gekauft hatte, und trank zusammen mit Evy direkt aus der Flasche. „Ich hoffe du hast kein Herpes“, meinte der Junge und Evy erwiderte: „Ist kein guter Anmachspruch.“
„Ich bin nur vorsichtig mit solchen Sachen.“
Sie lachte. „Fick dich.“
Er nahm einen grossen Schluck. „Was würdest du dir tätowieren?“
„Keine Ahnung. Kein Herz oder so, jedenfalls. Oder den Namen meiner Katze, schreckliche Leute, die das tun.“
„Und wo würdest du es machen?“
„Am Arsch, natürlich.“ Sie nahm Timo die Flasche ab und trank. Eine rote Strähne fiel ihr ins Gesicht. Als sie die Flasche absetzte, schwankte sie kurz, grinste und sagte: „Upps!“ Timo hielt sie am Oberarm. Sie liess sich zurückfallen auf die Sitzbank und der Junge hockte neben sie.
„Was denkst du“, begann das Mädchen, „wieso haben wir uns nicht früher kennen gelernt?“
„Ist halt so an der Schule.“
„Mhm. Weil eigentlich mochte ich dich die ganze Zeit. Du bist nicht wie die andern.“
Timo runzelte die Stirn. Sein Blick wanderte von den Augen nach unten, über die freche kleine Nase, die Lippen, den Hals, weiter. Kurz vor den Brüsten konnte er sich auffangen. „Wieso bin ich nicht wie die anderen?“, erinnerte er sich an ihre Bemerkung.
„Keine Ahnung. Kennst du das nicht? Du schaust einen Menschen an und merkst einfach, dass etwas an ihm anders ist, speziell? Vielleicht ist es etwas, was nur ich sehe, aber es ist so.“
„Ich weiss echt nicht was du meinst.“
„Na ja“, sagte sie. „Spielt auch keine Rolle. Trinken wir. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Timo sah zu, wie sie die Flasche an ihre Lippen setzte, sich Absinth einflösste, dann mit einem Lächeln das Brennen runter schluckte und murmelte: „Wenn ich die Augen schliesse, bewegt sich alles.“
Timo ging es nicht besser. Er versuchte sich auf ihr Gesicht zu fokussieren. Als es endlich gelang, konnte er dafür den Mund nicht mehr schliessen. Er flüsterte: „Wir sind ziemlich besoffen. Schon wieder.“
„Ja, sind wir“, flüsterte sie zurück und strahlte.
„Wenn ich dich jetzt küsse, dann bedeutet es nichts, oder?“
„Was bedeutet nichts?“ Sie hob die Augenbrauen.
„Küssen, ich meine ...“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Nun, spielt keine Rolle.“
Sie schwiegen eine Weile, bis Timo aufstand und sagte: „Ich geh zu den andern. Kommst du auch?“
Sie schüttelte den Kopf. „Später vielleicht.“

„Ameisen symbolisieren eine ganze Menge“, erzählte Ramon. Der Mathestreber der Klasse war froh, dass Timo wieder bei ihm sass – damit hatte er jemanden, der ihm zuhörte. „Ameisen können Arbeitsmoral symbolisieren. Selbstlosigkeit. Unendlicher Einsatz zum Wohle der Allgemeinheit. Selbstlosigkeit. Sozialismus, sogar. Aber das passt doch alles nicht zu dir.“
„Siehst du, es geht nicht darum, was die Ameise im Allgemeinen symbolisiert. Es geht darum, was sie für mich symbolisiert“, versuchte Timo zu erklären. „Schliesslich ist es mein Tattoo.“
„Und was ist das?“
„Es erinnert mich an etwas.“
„Woran?“
„Ist doch meine Sache, nicht?“
„Nils hat wieder gekotzt“, unterbrach Sandra, obwohl das offensichtlich war. Er hing wie eine Leiche am Fenster und grunzte in die Nacht hinaus. Kühle Luft wirbelte durchs Abteil, wo die Gesichter nun leer und müde waren. Prag hatte seine Spuren hinterlassen.

Um zwei in der Nacht hielt der Zug für eine halbe Stunde in Weimar. Die Hockeyfans aus Tschechien schliefen unterdessen und weil Nils eh nur kotzte, verabschiedeten sich die Schüler aus seinem Abteil. Ramon und Timo richteten ihre Betten zum Schlafen ein. Auf den obersten Betten schnarchten Martin und Remo. Matthias und Simone waren nicht da – erfahrungsgemäss hingen sie knutschend auf der Toilette rum.
Während Timo versuchte, die Rückenlehne in ein Bett umzufunktionieren, klopfte Evelyne an die Türe. „Kommt ihr auch raus? Wir können was rauchen.“
Ramon war clever genug zu realisieren, dass Evy damit nur Timo meinte. Der begleitete Evy auf den Bahnsteig, hockte mit ihr auf eine Bank und schaute zu, wie sie eine Zigarette anzuzünden versuchte. Es gelang ihr nicht. Kein Benzin im Feuerzeug. Sie warf es weg und seufzte. „Ein trauriger Ort, nicht?“
„Irgendwie.“
Sie zog sich die Jacke enger um. „Wir könnten jemanden fragen. Ich glaube, in meinem Abteil sind ein paar wach. Andererseits, was bringt es.“
Sie verschränkte die Arme, um ein bisschen Wärme zu speichern. „Vorher habe ich gekotzt. Scheisse, nicht?“
„Sorry. Ich hätte dich stoppen sollen.“
„Nein. Wenn mich jemand stoppt, dann schon ich selbst.“
„Hm“, machte Timo.
„Willst du mich eigentlich immer noch küssen? Ich habe ekligen Mundgeschmack, aber kein Herpes.“
Er betrachtete ihr Gesicht und fand nur Müdigkeit. Bis sie plötzlich schmunzelte und sagte: „Ist eine unheimliche Nacht, findest du auch? Da in Prag, da war richtig Party, jede Nacht, Wodka, Tanzen, Singen. Jetzt ist Hangover. Sowas wie der Hangover zu achtzehn Jahren. Geht allen scheisse, glaube ich.“
„Freust du dich kein bisschen aufs Studium und so?“
„Ich weiss nicht. Bis jetzt war halt alles einfach. War wie Zug fahren, die Schienen wissen den Weg, selber musst du nur einsteigen und geniessen.“
„Hast du dich nirgends beworben?“
„Ich weiss ja nicht mal, was ich überhaupt will.“
„Ramon hat sich eingeschrieben für Elektrotechnik.“
„Ramon ist ja auch ein Genie. Ich nicht. Weisst du was mein Schnitt ist? Vier Komma Zwei! Knapp genügend. Ich bin kein Genie, nur ein normales Mädchen, nicht mal ein cleveres.“
„Aber ein nettes, dafür, und ein hübsches.“
Sie schmunzelte über die Komplimente. Inzwischen kündigte ein mechanisches Rattern und Dröhnen die Einfahrt eines zweiten Nachtzugs an. Er blieb stehen neben dem Zug nach Zürich. Menschen stiegen keine aus. Wie zwei schlafende Ungeheuer warteten die Züge auf ein Signal zur Weiterfahrt.
„Timo?“ Das Mädchen schaute zu ihm auf.
„Ja?“
„Bedeutet es dir wirklich nichts, wenn du jemanden küsst?“ Sie sprach leise, als hätte sie Angst, ihre eigene Stimme zu hören.
„Doch. Schon.“
„Für ein Mädchen ist das nämlich wichtig. Auch wenn du betrunken bist. Es lässt ihr Herz springen. Es lässt sie glauben, da wären keine Sorgen mehr. Alles sei einfach, schön und so und ... Es fühlt sich an wie Weihnachten als kleines Kind. Es ist sehr wichtig.“
Timo nickte wortlos. Sie sah ernst aus.
„Ich – ich hätte wirklich gerne einen Joint“, sagte sie. „Ich kann nicht klar denken. Ich wollte eigentlich schlafen gehen, aber das ging nicht. Die Mädchen bei mir quatschen alle über Drogen und Sex und so. Ausserdem habe ich Kopfschmerzen.“
„Willst du Tabletten? Ich habe welche.“
„Schon gut, danke. Ich halt das aus. - Weisst du, was mir am meisten Kopfschmerzen bereitet? Ich habe sogar darüber nachgedacht, als ich vorhin auf dem WC kotzte.“
„Was?“
„Dein verfluchtes Tattoo!“ Sie schaffte ein Lächeln. „Eine Ameise. Wieso eine Ameise? Kannst du's mir nicht erzählen? Mir zuliebe?“
Der Junge zuckte mit den Schultern. „Von mir aus schon, aber es ist nicht so speziell. Es ist nur etwas komisch.
„Mach schon!“
„Okay, dir zuliebe, aber es bleibt geheim.“ Er seufzte „Das ist so eine Feriengeschichte: Ich habe mal versehentlich eine Ameise im Gepäck nach Tunesien geflogen. Eine kleine Gartenameise. Und ich war halt klein, acht oder so, darum hat es mich extrem beschäftigt. Ich meine, ich wollte sie wieder heim zu ihrer Familie und ihren Freunden bringen, aber sie ist abgehauen. Ich hab stundenlang geweint deswegen.“
Evy lächelte. „Ich find's süss, dass dir das so viel bedeutet hat.“
„Später fand ich das alles auf eine Art spannend. Ich begann Geschichten zu schreiben über die Ameise und die Abenteuer, die sie auf ihrer Reise durch die Sahara erlebt, wie sie neue Freunde findet und fremde Völker kennen lernt. Ist alles etwas kindisch, aber ...“
Ein Schaffner trat zu den zweien und erklärte, der Zug würde bald weiter fahren und sie sollen doch bitte einsteigen. „Und leise sein, die Leute schlafen.“

„Ich kann eh nicht schlafen“, flüsterte Evelyne, als sie wieder im Flur standen und der Zug Fahrt aufnahm. „Viel zu viel los in meinem Kopf.“
„Warten wir eine Weile.“
„Okay.“
Timo zögerte bis er sich entschloss, dem Mädchen einen Arm um die Schultern zu legen und sie an sich zu ziehen. Ein bisschen Wärme in der kalten Nacht.
„Was willst eigentlich du machen im Sommer?“, fragte Evy.
„Ich muss arbeiten. Meine Eltern wollen das. Und ich brauche Geld.“
„Wofür?“
„Na ja. Zum Leben halt.“
„Willst du weg? Reisen und so, wie die Ameise?“
„Irgendwann, vielleicht.“
„Mit einer Freundin?“
„Wenn sie auch will, schon möglich.“
Evelyne studierte, während vor dem Fenster die letzten Lichter Weimars der Dunkelheit wichen. Ein lautloses Gähnen, bevor sie flüsterte: „Ist nett, dass du mich so hältst.“ Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. „Ich glaube, sonst würde ich umfallen. Ich habe zu viel getrunken. Viel zu viel. Keine Ahnung ob ich mich an irgendwas erinnere morgen.“ Sie schaute hoch in Timos Gesicht, öffnete die Lippen. Einige Sekunden schauten sie sich still an, dann schüttelte die Schülerin den Kopf und meinte: „Ich kann nicht mehr denken, irgendwie. Ich möchte weg, glaube ich. Sprachen lernen und so, einfach nicht den ganzen Sommer zuhause hocken und nicht wissen was tun.“
„Wir können ja ab und zu was zusammen machen, wenn du willst.“
„Wäre cool, ja.“ Sie griff sich an die Stirn. „Scheisse, ich glaub ich muss wieder kotzen.“
„Trink Wasser!“
„Nein, nein, geht schon.“ Sie lehnte sich ans Fenster und atmete für eine Weile so ruhig sie konnte. Schliesslich fragte sie: „Wieso wolltest du mich eigentlich küssen? Einfach weil du besoffen warst?“
Timo wusste keine Antwort. Er starrte in ihr müdes, abgekämpftes Gesicht und dachte an das Foto, das er früher am Abend gemacht hatte. Es war, als sähe er nun die Rückseite des Bildes, als sähe er unter die Haut.
„Ich glaube, ich gehe schlafen“, sagte das Mädchen, als er nicht antwortete.
„Okay.“
Sie trottete davon. Timo schaute ihr nach, wie sie sich mit beiden Händen festhielt und trotzdem Mühe hatte, nicht zu straucheln. Als sie bei ihrem Abteil angelangt war, schaute sie zurück. Sie sagte etwas, aber die Worte gingen im Rattern des Zuges verloren.

Vier Stunden später kündigte eine Durchsage an, dass der Zug bald in Zürich eintreffen werde und man sich bitte zum Aussteigen bereit machen solle. Timo kroch aus dem Bett, schlug sich dabei den Kopf an, der eh schon schmerzte, und betrachtete mit verschlafenen Augen das Ameisentattoo. Es war gerötet, aber nicht schlimm. Er zog seinen Pullover über und machte den Rucksack bereit. Ramon nebenan stöhnte und grunzte und ächzte. Normalerweise hätte Timo sich darüber lustig gemacht, aber jetzt hatte er selber zu starke Schmerzen. Er schlurfte aus dem Abteil und fand Evy, die alleine am Fenster stand, wie letzte Nacht.
„Hey“, murmelte das Mädchen, ohne den Blick von den Häuserfassaden Zürichs zu nehmen. Sie fuhren in den Hauptbahnhof ein. Wie durch Magie fand der Zug einen Weg durchs Gleisgewirr.
„Hey“, sagte auch Timo. Er stand neben sie und rieb sich die Augen. „Wie geht's?“
„Ich kotze nicht mehr. Ansonsten kannst du's dir ja denken.“
„Ja, schon.“
„Aber weisst du was, ich erinnere mich an alles.“
„Ich mich auch.“
„An die Ameise habe ich gedacht, vorher.“ Ein schwaches Lächeln. „Du musst mir einmal eine deiner Geschichten vorlesen. Ich glaube ich könnte mich dafür verlieben, vielleicht.“ Sie schaute hoch zu dem Jungen, aus müden, aber erwartungsvollen Augen. Timo biss sich auf die Lippen. Dann küsste er sie. Einen Moment lang verstummten das Rattern des Zugs und die anderen Fahrgäste, die sich zum Aussteigen bereit machten. Da waren nur sie beide und sie schwebten lautlos über die Schienen von Zürich.
„Bedeutet das jetzt etwas?“, flüsterte Evy, als sie die Augen wieder öffnete.
„Ich habe darüber nachgedacht.“
„Und?“
„Keine Ahnung was genau es bedeutet, aber ich mag dich.“
Das Mädchen schaute aus dem Fenster, wo Menschen auf dem Bahnsteig den einfahrenden Zug erwarteten. Sie rührte sich nicht.
„Was bedeutet es für dich?“, fragte Timo.
Aber Evy konnte nichts sagen. Ihr Herz pochte. Sie spürte Wärme tief in sich. Und als sie wieder in Timos Augen schaute, war Frühling in der Schweiz.

 
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Hallo Sorontur,

vier Stunden Schlaf helfen vielleicht ein wenig, die Welt wieder zu ordnen. Es hat mich gefreut, dass die Kussszene in leicht nüchternem Zustand stattgefunden hat und nicht in dem nächtlich beschriebenen Delirium.

Mich hat die Geschichte leicht wütend gemacht - das hat nichts mit dem Inhalt oder dem Autor zu tun, sondern nur mit der momentanen Haltung der Jugend - ich bekomme es als Mutter eines 15- und 17-jährigen genug zu spüren.
Saufen ist ein normaler Vorgang, das Kotzen darauf so ziemlich auch - früher war Zweiteres peinlich und hat man nach Möglichkeit vermieden. Heute geht das ja bei den harten Getränken kaum noch.

Von daher ist der Text am Puls der Zeit, das macht mich aber eher unglücklich.

In manchen Situationen hast du für mich nicht stimmige Substantive benutzt wie Schüler, wo Kumpel oder ein Name besser gewesen wäre (bin zu faul, die Textstelle noch mal zu suchen).

Ich habe den Text gerne gelesen, es ist so eine ganz prägnante Situation fürs Leben, so der Abschluss mit der Matura, aber die Sauferei war mir machmal doch etwas zu dominant. Aber das ist wohl grade so bei den jungen Leut. Schade.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo Sorontur

Der Titel hatte mich abgehalten, eher in deine Geschichte zu schauen. Gestern las ich dann Bernadettes Kommentar, bei ihr kommt der Fokus immer stimmig rüber. Doch es war mir nicht aufbauend zu vernehmen, dass es um Saufen geht, obwohl sie deine Geschichte positiv bewertete. Heute wollte ich es nun wissen, vielleicht war es ja das Zürich, welches mir keine Ruhe liess.

Schon in den ersten Sätzen fiel mir auf, dass es sich angenehm flüssig und Neugierde erweckend liest. Nur bei einer Kleinigkeit im ersten Abschnitt stolperte mein Gedankengang.

Es war ihr letzter Abend als Schüler, bevor sie morgen mit der Zeugnisübergabe den Status reifer junger Frauen und Männer erhalten sollten.

Mit dem Nachtzug von Prag nach Winterthur via Zürich sind durchschnittlich 15 Stunden Reisezeit. Auch wenn die Abschlussfeier an der Kanti erst am späten Nachmittag beginnt, ist es doch etwas hart, dass die Reise so knapp davor angesetzt war. Mindestens ein Tag Ruhezeit hätte da eingeplant gehört. Wenn mir da mal die Franziska oder der Cornel unterkommt, werde ich sie diesbezüglich rügen. :D

„Und wieso gerade eine Ameise? Wieso machst du dir eine Ameise auf den Arm?“

Mit diesen Worten, die meine Sichtweise auf den Titel neu besetzten, war ich mit diesem voll versöhnt und fand ihn nun total passend.

Er zuckte mit den Schultern und wechselte das Thema. „Willst du was trinken?“
„Lieber wäre mir rauchen.“
„Hat überall Rauchmelder im Zug.“
„Ich weiss. Scheisse, nicht?“
„Ausserdem rauchst du gar nicht.“
„Ich weiss. Ebenfalls scheisse.“

Gefällt mir der kurze Dialog, bringt in das vorgehende Gelage einen witzigen und angenehmen Ruhepunkt.

Wow, ich bin durch und kann sagen, die Geschichte hat mir ausgezeichnet gefallen. Nicht, dass sich da Berge bewegten, aber das Einfache dieser Schilderung der Abschlussreise fand ich sehr gelungen dargelegt, die Ameise, eine kleine reizende Einlage. Auch das Ende hat sich schön gefügt, aufkeimende Romantik, ohne ins Kitschige abzugleiten.

Sehr gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo allerseits, merci für's Feedback!

Ich find's noch interessant dass für euch der Alkohol so im Zentrum stand, das ist mir gar nicht aufgefallen (zumindest nicht so sehr). Ich hab die Geschichte damals nach meiner eigenen Maturareise geschrieben und jetzt erst wieder entdeckt und überarbeitet - von daher: die "Vorlagen" sind unterdessen Ärzte, Juristen, Neurobiologen, Gymi-Lehrer, etc. Tatsache ist wohl dass aus den allermeisten besoffenen 18-Jährigen seriöse 25-Jährige werden, und schliesslich über die "Jugend von heute" motzende 50-Jährige ;).

Was man davon denken soll? Ich weiss es nicht. Dass die Probleme neu sind würde ich jedenfalls bestreiten: Wenn ich die Armeegeschichten meines Vaters höre, dann wurde da wohl weit mehr gesoffen als heute. Und erst vor kurzem stand überall in den Zeitungen, dass der Konsum reinen Alkohols pro Kopf vor 100 Jahren doppelt so hoch war wie heute. Vielleicht gehört es ja einfach dazu, dass 18-Jährige ab und zu was Dummes tun (so ähnlich wird das ja auch in der Geschichte gesagt), danach muss man ja lange genug "reif" sein. Das Problem ist meiner Meinung nach nicht die breite Masse der trinkenden Jugendlichen, sondern die "extremen" Auswüchse, also wenn Gewalt mit ins Spiel kommt, oder das Betrinken zum wöchentlichen Event wird. Aber zu dem Thema gibt's ja schon hunderttausend Diskussionen ...

Beim Titel habt ihr recht, da überleg ich mir noch was Passenderes!

Danke nochmals für die interessanten Kommentare!

 

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