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Einblick in ihr Leben

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21.08.2003
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Einblick in ihr Leben

Sie ging nach Hause. Ob sie dort erwartet wurde, wusste sie nicht. Eigentlich hatte sie
Hunger, doch es war schon so spät, dass sie sich kaum noch etwas zu Essen machen konnte. Der
Krach würde die anderen wecken. Es gab allerdings auch keine Bar, kein Fast-Food Restaurant, nichts, was noch offen hatte. Die Stadt war zu klein, es würde sich nicht lohnen. Sie freute sich auf den Sommer. Die Nächte waren kürzer.
Mittlerweile fror sie sehr. Sie bereute, dass sie nicht die dicke Winterjacke angezogen hatte.
Sie hatte nur so schnell wie möglich aus diesem Haus gewollt. Hinaus in die Kälte.
Kurz darauf stand sie vor ihrer Haustür. Einerseits wollte sie hinein, in ihr Zimmer, sich
hinlegen und schlafen. Andererseits wollte sie nicht das sehen, was sie noch erwartete. Ja,
sie hatte Angst. Große Angst.
Leise öffnete sie die Tür. Vielleicht würden sie wirklich schon schlafen. So würde sie die
beiden erst morgen wiedersehen. Wie schön das wäre.
Doch sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, hörte sie ihn. Er schrie, dass sie
sofort herkommen sollte.
Als sie bei ihm war, sah sie, dass er getrunken hatte. Viel zu viel. Ihre Mutter saß in ihrem
Sessel. Sie würde nichts tun, wie immer. Auch wenn sie einen starken Charakter hatte, gegen
ihren Mann wollte sie nichts tun. Vielleicht lag es daran, dass sie nicht ihre Mutter war.
Ihre wirkliche Mutter war von ihrem Vater getötet worden. Die Leiche hatte er im Garten
begraben, wie einen Hund. Das waren auch seine Worte gewesen: Wie ein Hund.
Er lief auf sie zu und schlug sie, mehrmals. Sie wusste, es machte ihm Spaß. Vor kurzem hatte
er sich noch eine schwere Eisenkette gekauft, die er um seine Hand trug.
Die Kette hinterließ eine blutende Wunde auf ihrer Wange. Es war nicht die erste. Egal.
Er ging zu ihrer jetzigen Mutter und küsste sie. Dann blickte er seine Tochter an und zeigte
ihr mit einer Handbewegung, dass sie gehen sollte.
In ihrem Zimmer setzte sie sich auf ihr Bett. Sie schloss die Augen und hörte das
Gestöhne ihrer Eltern, die es im Wohnzimmer trieben. Vielleicht vor dem Fernseher, während ihr
Vater seine Videos laufen ließ. Vergewaltigungen, wie immer.
Sie holte den kleinen Korb hervor, der neben ihrem Bett lag. Hier war ihr größter Schatz
verborgen. Sie musste ihn verstecken, damit ihr Vater ihn nicht fand.
In dem Korb lag ein Kind, vor kurzem gestorben. Es war ihr Kind.
Von unten hörte sie die Schreie ihrer Stiefmutter. Vergewaltigung.
Ihr Vater hatte ihr Kind auf den Kompost gebracht, tot. Sie hatte es sich zurückgeholt. Es war ihr Kind, sie würde ihm beim Wachsen zusehen.
Denkt an eure Kinder. Sie leben.


 

die geschichte ist sehr berührend ABER einige passagen ziehen doch alles ins lächerliche... z.b. dass er ihre richtige mutter getötet hat..das ist zu übertriebn und damit unglaubwürdig...ich würde diese stelle ändern..
aber ansonsten gefällts mir

 

Kritikerkreis

Hallo Iphigenie,

man liest den ersten Absatz, man spürt es gibt zwei Welten: Die eine bedeutet Hunger und Kälte, auf einsamen Straßen erlebt, doch die Bedeutung der anderen lässt das momentan Erlittene ertragbar erscheinen.
Letztendlich entscheidet sich die Frau nach Hause zu gehen. Warum tut sie das? Gibt es keine Alternative? Der Anfang der Geschichte gibt den Inhalt des Textes in Richtung Angst und Leid vor, diese Erwartungen werden auch nicht enttäuscht.
Trotzdem- beim Lesen macht sich ein ungutes Gefühl breit, werden die thematischen Erwartungen nicht zu sehr, also übertrieben bedient?

Die Protagonistin hat Angst.

Ihre Mutter ist keine Hilfe (obwohl sie Grund zur Solidarität hätte).

Der Vater ist ein Mörder (er hat die Leiche in der Nähe verscharrt, ohne strafrechtliche Konsequenzen?).

Der Vater ist ein Schläger.

Er hat extra eine Eisenkette gekauft.

Vergewaltigung.

Aber- gibt es nicht auch extreme Verhältnisse, auch wenn sie unwahrscheinlich sind? Gibt es nicht psychologisch schwer erklärbare Verhaltensweisen, die die Reaktionen der beschriebenen Personen doch in das Reich der Realität rücken?
Eine tiefer gehende Beschreibung der Personen, ihrer Selbstwahrnehmung, würde dem Leser im Punkte psychologisch nachvollziehbaren Benehmens sicher helfen. Dies ist auch im Rahmen einer Kurzgeschichte möglich. Man muß der jungen Frau zu viel an Befangenheit, an Bereitschaft zu Dulden unterstellen, damit das Konzept der Geschichte aufgeht. Die Autorin sollte sich hier nicht auf die Bereitschaft des Lesers verlassen, dies zu tun.

Dann weitere Stichworte- ergänzen sie die Thematik oder verhindern sie ihre Glaubwürdigkeit?

Totes Kind.

Kompost.

Geschickt wird aber die mögliche Vergewaltigung der Protagonistin angedeutet:
Die Stichworte „Vergewaltigung“ - „Es war ihr Kind“ - „Vergewaltigung“ deuten subtil an, was man vorher im Text auch schon erwartet hat.

Leider bleibt der Text bei der Auflistung des Schreckens stehen. (Der gut ausgeführte, deskriptive Stil unterstreicht diesen Aspekt noch). Natürlich ist diese Gewalt auch Realität, doch, dass es sie gibt ist bekannt, wird dem Leser `nur´ erneut vor Augen geführt.
Die geschilderte Situation berührt-
die aufgelisteten Handlungen erschüttern-
doch es entsteht keine Faszination, weil der Eindruck überwiegt, es wurden mit `todsicheren´ Stilmitteln verschiedene Arten der Qual dargestellt.

Eine kontrastierende Parallelhandlung fehlt, die dem Leser eine ungewohnte Sicht der Dinge zeigt, ihn dadurch in ihren Bann zieht.
Wenn man die Flucht der Protagonistin in eine Scheinwelt nicht durch ein `sich gegen das Schicksal stemmen´ ersetzen will, sollte z.B. ein Bezug zur Außenwelt und ihrer Rolle in diesem Drama hergestellt werden. Zwischen der Opfer-Täter-Beziehung könnte ein Spannungsfeld entstehen, das den Leser nicht nur Gewalt darstellt, sondern ihn über die agierenden Mechanismen des `Opfer Werdens´ nachdenken lässt.

Der Schluß „Denkt an eure Kinder. Sie leben.“ gibt der Geschichte doch noch eine neue Aspektebene. Inwieweit sich der Leser auf sie einlässt, wird von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Der Schluß kann jedenfalls der Anfang für eine neue (Lebens-) Geschichte sein, auch wenn diese in den Gedanken des Lesers entstehen muß…

Tschüß… Woltochinon

(Kritikerkreis, 19.11.03)

 

KRITIKERKREIS

Hallo Iphigenie,

der Titel "Einblick in ihr Leben" wirkt nach dem Lesen irgendwie zweideutig auf mich, denn aufgrund der Kürze des Textes und der manchmal doch etwas aufgereihten Andeutungen, die zwar zum Denken anregen, aber gleichzeitig den Lesefluss stoppen, könnte die Geschichte auch "Ein Blick in ihr Leben" heissen.

Das würde der Geschichte dann auch eine ganz andere Richtung geben, denn man sieht diesen Blick - ihren Blick - im Verlauf der Geschichte und folgt ihm, auch wenn es dabei Einiges geistig nachzuvollziehen gibt.

Eine Sache in der Geschichte fiel mir auf, die mir persönlich nicht genug erklärt wird. Der Anfangssatz ("Sie ging nach Hause") im Gegensatz zu dem Grund ihres Fortgehens. ("Sie hatte nur so schnell wie möglich aus diesem Haus gewollt.")
Wann und wovor ist sie geflüchtet?
- Wobei es da wahrscheinlich einige Gründe gäbe -
Und warum kehrt sie zurück?

Der ganze Text nimmt einen mit in seiner Perspektivlosigkeit, denn er scheint der Protagonistin keine andere Wahl zu lassen, als in die elterliche Hölle zurück zu kehren.

Hier hätte ich mir mehr Hintergrund gewünscht, wie etwa ein Dorf, in dem alles totgeschwiegen wird, obwohl jeder Bescheid weiss, was die Chancen der P. zu recht deutlich verkleinern würde, da sie wahrscheinlich niemandem dort trauen kann.

Auch habe ich mich die ganze Zeit gefragt, wie alt das arme Mädchen ist. Im gebärfähigen Alter zwar, aber zwischen 14 (oder noch früher) bis erwachsen (30 Jahre aber hilflos) wäre ja alles drin in dieser Geschichte.

Ihre Familie ist zerrüttet.
Ihr Vater ist ein sadistischer Schläger und Triebtäter, der wahlweise über seine zweite Frau oder seine Tochter herfällt und beide je nach Lust und Laune quält.

Wie geht das?
Ist er immer daheim, weil er von der Sozialhilfe lebt?
Warum flieht die Tochter nicht?
Wegen dem Kind in ihrem Korb?
Was lässt die zweite Frau trotz Misshandlungen bei diesem Kerl ausharren?
Was für ein Milieu herrscht in diesem Dorf (Kaff) vor?
Ist niemandem das Verschwinden der ersten Frau aufgefallen und warum nicht?

Das sind alles Fragen, die mich bei einer solchen (Familien-)Charakterbeschreibung interessiert hätten, denn man will als Leser auf das Mädchen zurennen und sie einfach von dort wegholen.
Alles andere auf dieser Welt kann nur eine Verbesserung ihrer Lebensumstände darstellen.

Hier fehlt mir - wie bereits erwähnt - die genauere Beschreibung der Familienverhältnisse, was einer der Hauptgründe ist, warum diese Geschichte nicht ganz so stark wirkt, wie sie es eigentlich könnte und müsste.

Der Protagonistin einziger Trost ist ihr totes Baby, dass in einem Korb neben ihrem Bett "ruht".
Ein schweres und schwieriges Thema, denn wenn man die Tatsache bedenkt, dass auch Kinderleichen irgendwann zu verwesen beginnen, und ich nicht weiss, WIE das Kind gestorben ist, oder ob es bei der Geburt schon tot war, lässt es auf ein schweres Trauma bei der Protagonistin schliessen:

Ihr einziger Trost und Vertrauter ist ein totes Wesen von ihrem Fleisch und Blut, dass ihr das Gefühl von Leben gibt.
Das jagt mir jedenfalls einen Schauer über den Rücken.
Aber vielleicht ist meine Interpretation auch zu gewagt...

Insgesamt gesehen hast Du in Deiner Geschichte sehr viele "Schaltwörter" benutzt, die den Leser gleich auf die richtige Bahn lenken - etwas mehr Hintergrund und die Ausformung von Bedrohlichkeit (auf dem Weg zu ihrem Zimmer zum Beispiel) hätten der Geschichte aber zu einem besseren Volumen verholfen und eine erschreckendere Athmosphäre geschaffen.

So ist zwar durchaus Schrecken vorhanden, aber er setzt sich nicht wirklich durch bzw. in dem Leser fest.

Trotz allem fand ich die Geschichte gut, auch wenn sie nicht ihr volles Potential ausgeschöpft hat.

Henry Bienek

KRITIKERKREIS

 

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