- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Ein zukünftiger Rückblick
Es ist ein schöner Herbsttag, hier in Chur. Das Laub weht, getragen von einem warmen Windstoss durch die Altstadt. Die Glocke der mittelalterlichen Martinskirche verkündet den frühen Abend und Faris auf dem "Hilal"-Minarett neben dem Bahnhof verkündet das Abendgebet. Seine Stimme weht, je nach Windrichtung, mal laut und mal kaum wahrnehmbar, jedoch allen Churern wohl bekannt, durch die Gassen. Die Strassen füllen sich und man begrüsst sich mit einem "Salam" oder einem "Sali". Die Menge schlendert gemütlich dem Bahnhof entgegen. Die Schleier der Frauen blähen sich im Wind und die Kinder spielen hinter den steinernen Brunnen fröhlich verstecken. In den Strassencafes trinken die Touristen genüsslich einen Nespresso und essen dazu gefüllte Datteln. Durch die automatischen Kassentüren des Coops betritt eine blonde Frau mit einer Tasche voller Fladenbrote die Strasse und verschwindet hinter dem soeben errichteten Marronistand. Am Bahnhof reihen sich weitere Pendler in die tägliche Prozession zur Masǧid Cuira, der Churer Moschee ein. Andere gehen direkt nach Hause oder geniessen noch die letzten Sonnenstrahlen.
Eine Churer Primarschullehrerin verlässt nach ihrem Arbeitstag das Schulgebäude und wird noch auf der Treppe vom süssen Geruch nach Koriander und Minze umschlungen. Das erste Mal seit vielen Jahren dringen die Gerüche auch tatsächlich in ihr Bewusstsein und bleiben nicht irgendwo in den Provinzen des Unterbewusstseins hängen. Hatte sie doch heute ihren Schülern erzählt, dass es in Chur nicht immer so gerochen hatte. Das Erstaunen hatte sie zutiefst erstaunt. Wie konnte sich seit ihrer Geburt ihre Geburtsstadt dermassen verändern?
Noch heute erinnert sie sich lebhaft an ihren elften Geburtstag. Sie hatte ihre ganze Klasse, abzüglich natürlich der Jungs, zu sich nach Hause eingeladen. Die Mutter war das erste Mal ausgeladen worden und so stand einem fröhlichen Nachmittag nichts mehr im Weg. Als sie die Einladungen in der Klasse verteilt hatte, gab sie nach kurzem Zögern "der Neuen" auch ein Blatt. Die Neue hiess Ilenia und war seit zwei Jahren mit ihnen in der Klasse. Sie sah älter aus, als alle anderen Mädchen ihres Alters und hielt sich meistens im Hintergrund. Allgemein benahm sie sich etwas seltsam und schien lieber alleine zu sein, als mit den anderen ins Gespräch zu kommen. Ihr Deutsch war auch komisch. Und ja, sie war braun. Also ihre Haut war braun. Sie war irgendwann vor irgendetwas geflüchtet, hatte einmal irgendjemand gesagt.
So sass Ilenia an jenem Nachmittag bei der elfjährigen, späteren Primarschullehrerin am Tisch und präsentierte etwas verlegen ihr Geschenk. Es war ein kleiner, dazumals noch nicht verbotener Plastiksack voller Süssigkeiten, welche in jener Zeit noch von Hand in einem Geschäft abgefüllt werden konnten. Dazu eine Zeichnung, welche irgendein Dorf in irgendeinem Land zeigen sollte. Das Geschenk sah seltsam persönlich und selbstgemacht aus, neben den anderen iTunes-Gutscheinen und pinken Lippenstiften. Die Gespräche wandten sich dem üblichen Klassentratsch zu, wobei Ilenia nur zu oft für üble Spässe herhalten musste. Als sich Ilenia weit früher verabschiedete, als eigentlich gemäss der Geburtstagseinladung vorgesehen war, beschlich die Mädchen ein wenig das schlechte Gewissen. Der Nachmittag ging trotzdem fröhlich, doch für die spätere Lehrerin mit einem fahlen Nachgeschmack zu Ende. Am nächsten Morgen stand in den Zeitungen etwas von toten Leuten in Paris und die Erwachsenen machten einen ernsten Eindruck. Am Montag nach dem Fest stellte der kleine und nur selten lustige Klassenclown zu Ilenia fest, dass sie doch auch aus dem Land der Terroristen komme. Ob ihre Familie das gleiche in Chur machen wolle, wie ihre Freunde in Paris, hatte er gefragt. Eine Faust ins Gesicht hatte er kassiert.
In jenen Tagen hatte sich für die angehende Lehrerin einiges verändert. Bis anhin war ihr die Anwesenheit der "Anderen" nie wirklich ins Bewusstsein getreten. In jeder Klasse existierten ein oder zwei Kinder anderer Hautfarbe. Mal mehr und mal weniger integriert. Mal mehr und mal weniger ausgeschlossen. In den Pausen schlossen sich diese meistens zusammen und man nahm kaum voneinander Notiz. Nach jenem Schlag ins Gesicht wurden sich die verspielten Schweizer der ruhigen, ernsten Fremden bewusst. Der Schlag ins Gesicht eines Jungen wurde als Schlag gegen alle wahrgenommen. Der Graben war schon immer da gewesen. In jenen Tagen brach er auf. Die zukünftige Lehrerin war sich der Ungerechtigkeit dieser Sache bewusst, ohne sagen zu können, was von wem falsch gemacht worden wäre. Ilenias Geburtstagskarte starrte sie abends anklagend an, bis sie die Karte vom Bücherregal nahm und in einer Schublade versorgte.
Bald war die Sache mit dem Schlag vergessen und auf dem Pausenplatz kehrte wieder Ruhe ein. In den Nachrichten sprachen sie von Flugzeugen über einem Land namens Syrien und einem Krieg der irgendwie keiner war. Jeder Kämpfte gegen jeden, es ging um Politik und so hatten alle Länder ihre eigenen Ziele. Ja, es war eine seltsame Zeit. Gewalt wurde mit Gewalt beantwortet und im nächsten Frühling rieben sich alle verwundert die Augen. Syrien kam. Dann folgte Afghanistan. Alle kamen. Keine Flüchtlinge, sondern Bevölkerungen. Niemand wollte in diesem Syrien mehr etwas mit dem Land und der Gewalt zu tun haben. Die Bilder im Fernsehen veränderten sich. Vor einem Jahr waren die Bahnhöfe noch voller Flüchtlinge gewesen. Nun waren die Bahnhöfe leer. Sämtliche Zugverbindungen in den osteuropäischen Ländern wurden eingestellt. Österreich beorderte gefährlich aussehende Männer mit Gewehren zur Grenze. Die Eltern sahen immer besorgter in den Fernseher und jeder anders Aussehende war plötzlich einer zu viel. Schüler, welche zuvor niemanden gestört hatten, mussten sich plötzlich rechtfertigen. Für ihre Anwesenheit und für die Anwesenheit aller Anderen. Für den Terrorismus, für den Krieg. Für ihre Religion.
Als der Sommer einkehrte, standen nicht tausende Menschen an den Grenzen von Serbien, Österreich und Ungarn, sondern Millionen. Anscheinend wollten wegen eines sogenannten "Selfies" eines Flüchtlings mit der damaligen Kanzlerin alle nach Deutschland. Der Spruch "We want to go to germany" wurde zum Mantra eines ganzen Volkes. Beinahe eine Million war bereits im Vorjahr dort angekommen. Diese hatten ihren Familien, ja ganzen Dörfern geschrieben, dass sie in Deutschland aufgenommen würden. Das Deutschland zu jener Zeit haderte noch immer mit seiner dunklen Vergangenheit und war sich solcherlei Liebesbekundungen anderer Völker nicht gewohnt. Dies war die kurze Ära der sogenannten "Willkommenskultur". Die Flüchtlinge wurden applaudierend an den Bahnhöfen empfangen und die Deutschen trieben sich gegenseitig mit sozialem Engagement in einen humanitären Rausch. Nach dem Rausch kam der asoziale Kater. Fernsehberichte über Dörfer, in denen mehr Flüchtlinge untergebracht waren als Einheimische wohnten, schürten die Angst vor der Überfremdung und die Mutter der Lehrerin sprach eines Abends von einer Kristallnacht der Flüchtlingsheime.
Die Kanzlerin, welche im Jahr zuvor noch unangefochten auf dem Kanzlerstuhl sass, hatte zu ihrem Volk gesagt: "Wir schaffen das". "Wir schaffen das nicht!", schrie ihr Volk später an Demonstrationen zurück und die erste deutsche Bundeskanzlerin stand vor dem Ende ihrer politischen Karriere. An ihre Stelle trat ein mürrischer grauhaariger Mann und mit ihm änderte sich die Lage der Flüchtlinge.
Es war Sommer gewesen. Der Flüchtlingssommer. So hatte man ihn bereits in jenem Frühling genannt. So würde man ihn auch im Herbst noch nennen. Und so nennt man ihn noch heute, wird der Lehrerin an diesem milden Herbstabend bewusst. Sie steigt die Treppe hinunter und geht zu Fuss über den nun leeren Spielplatz. Die Sonne würde bald untergehen. Einige Minuten früher als früher. Schon als Kind hatte sie immer gerne die Sonne beobachtet, so gut man die Sonne eben beobachten kann. Also mit zusammengekniffenen Augen, wie sie haarscharf an der hohen Krete des Churer Hausberges Brambrüesch entlang schlich und dann am Abend im goldenen Dunst, weit hinten im Surselva versank. Heute versinkt sie etwas früher, hinter den hohen Häusern von Jadid-Chur. Von Neu-Chur.
Der Flüchtlingssommer war für die Zeit ein extrem heisser Sommer gewesen. Das grosse Rheinbad hatte noch nicht existiert, der Fluss war vermutlich noch zu kalt gewesen und so hatten sich die Kinder in den Brunnen ausgelassene Wasserschlachten geliefert. Vor Menschen, welche aus den echten Schlachten geflohen waren, hatten sich die Erwachsenen gefürchtet, auch wenn dies nur aus heimlich belauschten Gesprächen, zu erfahren gewesen ist. In den Zeitungen waren Bilder von riesigen Städten zu sehen, welche anscheinend von den reichen Ländern in den armen Ländern gebaut wurden, irgendwo im Osten für Menschen, welche noch weiter aus dem Osten geflüchtet waren. Einmal hatte sie ihre Eltern gefragt, wie weit der Osten denn reiche. Bis zum nahen Osten war die reichlich verwirrende Antwort gewesen. Die Deutschen finanzierten lieber in jenem Osten riesige Flüchtlingsstädte, als die Menschen selbst aufzunehmen. Der grösste Teil der Flüchtlinge - und das waren sehr viele gewesen - wollten jedoch nach Deutschland, weil viele dort schon Verwandte hatten. Der späteren Lehrerin war dies damals durchaus einleuchtend erschienen und sie hatte immer wieder gefragt, ob ihre Eltern denn nicht auch lieber zu ihr kommen würden, als in den neuen Städten irgendwo im Osten zu bleiben. Irgendwann in diesem Sommer hatte sie ihren ersten fetten Pickel und wie dieser entluden sich die riesigen Flüchtlingsstädte im Osten. Da die Österreicher die Grenze bereits vorsorglich gut abgeriegelt hatten, bahnte sich der Flüchtlingsstrom plötzlich seinen Weg durch Italien bis in die Schweiz. "Sie sind da!", stand an jenem Tag in der Zeitung. Die spätere Lehrerin war ans Fenster gerannt und hatte aufgeregt gefragt: "Wo! Wo? Wo sind sie denn?"
Die Schweiz war ihr wie der Mittelpunkt der Welt erschienen. Eine dunkle Frau mit einem Kind auf dem Arm hatte im Fernsehen die dazumalige weissrote Schweizerfahne geküsst und dazu geweint. Mit Stolz konnte die spätere Lehrerin mitverfolgen, wie ihre Schweiz die vielen Leute verpflegte und sie im eben erst eröffneten, grössten Eisenbahntunnel der Welt, innerhalb von nur drei Stunden nach Deutschland brachte. Warum sie denn nicht hierher nach Chur gebracht wurden, hatte sie traurig gefragt. Sie hätte der Frau gerne ihre eigene Schweizerfahne zum Küssen rausgebracht und noch etwas von ihren Süssigkeiten für das Kind gegeben. Einen seltsamen Blick seitens ihrer Mutter hatte sie kassiert. Deutschland hatte die Grenzen schon am nächsten Tag geschlossen und so begannen sich die alten Fussballfanzüge, welche für den Flüchtlingstransport eingesetzt wurden, im langen Tunnel zu stauen. Alle Züge hatten plötzlich Verspätung und die Schweizer regten sich furchtbar darüber auf. Wichtig aussehende Männer sprachen ernst wirkende Worte. Es war die erste Liveansprache eines Bundesrates, welche die spätere Lehrerin gesehen hatte, und ihr Vater hatte ihr stolz übersetzt, dass nun das Militär im Tessin für Ordnung sorgen würde. Sie hatte auf dem Schulweg nach dem Militär gesucht, doch sie hatte es nicht finden können. Es war in jenen Tagen anscheinend in keinem guten Zustand. Bis das Militär durch den verstopften Tunnel gefahren war, hatte sich die Grenze praktisch aufgelöst. Von überall her liefen die Menschen, durch Wälder, über Berge und auch mitten auf der Strasse. Was dann passierte, hatte sie erst Jahre später richtig verstanden. Plötzlich hatte sie nicht mehr zur Schule gehen müssen. Nachbarn packten eiligst ihren Koffer und fuhren mit vollen Autos hinaus auf die Ringstrasse.
Ihre besten Freundinnen blieben jedoch, wie auch ihre eigene Familie zuhause und so beschimpften sie die Fliehenden als Feiglinge. Im Fernsehen sah man Bilder von Panzern. Bilder, welche ihren Vater zu bis dahin nie gehörten Flüchen hinreissen liessen. Das Militär baute eine seltsam aussehende Mauer. Doch war diese anscheinend am falschen Ort. Jedenfalls rannte sie jeden dieser schulfreien Tage am Morgen ans Fenster, wie sie es beim ersten Schnee zu tun pflegte, um endlich die Flüchtlinge zu sehen. Doch die Strassen waren jeden Morgen verlassener als am Tag zuvor. Bis das heisse Wetter plötzlich weg war. Dafür waren sie da - die Flüchtlinge. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als eine Gruppe von fünf Leuten von der Ringstrasse her kam und sich auf die Bank gegenüber ihres Fensters niederliess. Endlich konnte sie die Fahne nach draussen bringen, doch zögerte sie an der Tür und ging schliesslich zurück zum Fenster. Die Leute erschienen ihr etwas unheimlich.
In jenen Tagen hatten über vier Millionen Menschen die Schweiz betreten. In den Geschichtsbüchern wird heute vom zweiten Reduit gesprochen. Damit das wirtschaftlich wichtige Mittelland nicht ebenso zusammenbrach wie die südlichen Regionen zog die Armee zwischen dem Walensee, dem Vierwaldstättersee bis hin zum Genfersee Stellung auf. Die Flüchtlinge wurden mit erheblichen Mühen in den Alpentälern zurückgehalten und so siedelte sich der grösste Teil in Chur an. Anstatt, dass die EU wie ursprünglich geplant die riesigen Balkanstädte fertig gebaut hatte, musste die Schweiz selbst Hand anlegen. Jadid-Chur entstand. Shamal-Chur entstand. Min baeid-Chur entstand. Die geflohenen Bündner waren schon wenig später wieder in ihre Häuser zurückgekehrt. Es war eine unruhige Zeit. Voller zähneknirschender Leute. Voller populistischer Parteien. Voller Hass. Aber auch voller Solidarität und Anteilnahme. Heute ist diese Zeit Vergangenheit und die Lehrerin ist beim Betreten ihres Hauses froh, dass alles so gekommen ist, wie es gekommen ist. Eine Stadt ohne den Duft nach Minze und Koriander würde ihr heute sehr fade erscheinen. Beim Schliessen der Tür grüsste sie Ilenia mit ihren zwei Kindern. Diese war im letzten Jahr mit einer grossen Mehrheit zur ersten Stadtpräsidentin mit ausländischen Wurzeln gewählt worden.