Ein Zug, Dostojewski, der Zeitsprung und ich
Die Landschaft zieht vorbei, vorbei zieht auch das Leben, das hätte sein können und doch nichts wurde. Die Babuschka vor mir lächelt mich an, ich lächle zurück.
Meine Gedanken schweifen ab, zurück zu Ildar, dem schönsten Turkmenen unter der Sonne, naja, ich kenne zwar nur den einen, aber er ist nicht nur schön, nein er ist auch klug: er liest gerade Dostojewski, und welcher Idiot würde dies tun? Der Herr spricht auch recht passabel Deutsch, wie schön.
Geboren am 3. Mai, eine Woche nach Tschernobyl. Lag die Welt bis dahin nicht im Sterben, an diesem 26. April begann sie zu sterben, und stirbt bis heute.
Und wenn sie nicht gestorben ist...
Ildar ist mein Traumtyp, wir tauschen unsere facebook-adds aus.
Sechs Jahre später ist er verschwunden, weg aus der Freundschaftsliste, alles, was blieb, ist ein Foto von jener Zugfahrt.
Lebt die Babuschka noch, Opa Shenja, die Zugbegleiterin? Was ist aus ihnen geworden? So ich dann Geld habe, werde ich mir ein Visum für Rossija kaufen, ein Ticket für die Transsib und jene Fahrt wiederholen; Moskau-Irkutsk in long version: 72 Stunden im Platzkartnyabteil.
Ich bin mir sicher, weder Ildar noch die Babuschka wiederzutreffen, aber vielleicht die Zugbegleiterin.
Die Welt stirbt und wir sterben mit ihr, jeden Tag ein wenig mehr.
Die Träume, die einst waren, tot sind sie, tot sie alle. Was passiert mit den gestorbenen Träumen. Gott spricht zu mir, der Atheistin. Er sammelt sie und bewahrt sie auf, die, die Sterben, erhalten sie zurück, solange bewahrt er sie auf. Alle Menschen träumen, pro Nacht ca.5-8 mal.
Schon irre, dass der Navajo in den USA, die Ashanti in Ghana, der Tatare in Russland und die Brandenburgerin in Deutschland pro Nacht im Durchschnitt gleichviele Träume haben, und sich durchschnittlich höchstens an einen erinnern.
Die Katze hat Hunger, ich muss sie füttern. Wäre sie cool, würde sie draußen Mäuse fangen, aber sie ist nicht cool, sie sitzt gern am Fenster und schaut heraus. Das Leben lässt auch sie vorbeiziehen.
Hat auch sie dumme Gedanken und Erinnerungen wie ich? Sie scheint zufrieden: der Napf gefüllt, das Katzenklo sauber, die Wohnung warm.
Mein Ortsverein fragt mich, ob ich kandidiere, ich habe darauf so gar keinen Bock. Tja, das hat anscheinend keiner; na komm, wir brauchen auch mal die junge Generation, die die Stadt aufmischt, und ja, trinken wir, ja?
Das Leben plätschert so vor mich hin, ich drehe und wende es, es ist von allen Seiten gleich blass.
Zu Ostern wünsche ich mir einen Tuschkasten, dann werde ich es wieder bunt malen.
Bis dahin: kein Dostojewski mehr.