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Ein Zug, Dostojewski, der Zeitsprung und ich

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11.01.2013
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Ein Zug, Dostojewski, der Zeitsprung und ich

Die Landschaft zieht vorbei, vorbei zieht auch das Leben, das hätte sein können und doch nichts wurde. Die Babuschka vor mir lächelt mich an, ich lächle zurück.
Meine Gedanken schweifen ab, zurück zu Ildar, dem schönsten Turkmenen unter der Sonne, naja, ich kenne zwar nur den einen, aber er ist nicht nur schön, nein er ist auch klug: er liest gerade Dostojewski, und welcher Idiot würde dies tun? Der Herr spricht auch recht passabel Deutsch, wie schön.
Geboren am 3. Mai, eine Woche nach Tschernobyl. Lag die Welt bis dahin nicht im Sterben, an diesem 26. April begann sie zu sterben, und stirbt bis heute.
Und wenn sie nicht gestorben ist...

Ildar ist mein Traumtyp, wir tauschen unsere facebook-adds aus.
Sechs Jahre später ist er verschwunden, weg aus der Freundschaftsliste, alles, was blieb, ist ein Foto von jener Zugfahrt.
Lebt die Babuschka noch, Opa Shenja, die Zugbegleiterin? Was ist aus ihnen geworden? So ich dann Geld habe, werde ich mir ein Visum für Rossija kaufen, ein Ticket für die Transsib und jene Fahrt wiederholen; Moskau-Irkutsk in long version: 72 Stunden im Platzkartnyabteil.
Ich bin mir sicher, weder Ildar noch die Babuschka wiederzutreffen, aber vielleicht die Zugbegleiterin.

Die Welt stirbt und wir sterben mit ihr, jeden Tag ein wenig mehr.
Die Träume, die einst waren, tot sind sie, tot sie alle. Was passiert mit den gestorbenen Träumen. Gott spricht zu mir, der Atheistin. Er sammelt sie und bewahrt sie auf, die, die Sterben, erhalten sie zurück, solange bewahrt er sie auf. Alle Menschen träumen, pro Nacht ca.5-8 mal.
Schon irre, dass der Navajo in den USA, die Ashanti in Ghana, der Tatare in Russland und die Brandenburgerin in Deutschland pro Nacht im Durchschnitt gleichviele Träume haben, und sich durchschnittlich höchstens an einen erinnern.

Die Katze hat Hunger, ich muss sie füttern. Wäre sie cool, würde sie draußen Mäuse fangen, aber sie ist nicht cool, sie sitzt gern am Fenster und schaut heraus. Das Leben lässt auch sie vorbeiziehen.
Hat auch sie dumme Gedanken und Erinnerungen wie ich? Sie scheint zufrieden: der Napf gefüllt, das Katzenklo sauber, die Wohnung warm.

Mein Ortsverein fragt mich, ob ich kandidiere, ich habe darauf so gar keinen Bock. Tja, das hat anscheinend keiner; na komm, wir brauchen auch mal die junge Generation, die die Stadt aufmischt, und ja, trinken wir, ja?

Das Leben plätschert so vor mich hin, ich drehe und wende es, es ist von allen Seiten gleich blass.
Zu Ostern wünsche ich mir einen Tuschkasten, dann werde ich es wieder bunt malen.
Bis dahin: kein Dostojewski mehr.

 

Hallo griwo

Ich muss appo zustimmen, eine Kurzgeschichte vermag ich in deinem Text auch nur Ansatzweise zu erkennen. Doch hat es einige sehr schöne Passagen drin. Etwa hier:

Meine Gedanken schweifen ab, zurück zu Ildar, dem schönsten Turkmenen unter der Sonne, naja, ich kenne zwar nur den einen, aber er ist nicht nur schön, nein er ist auch klug: er liest gerade Dostojewski, und welcher Idiot würde dies tun?

Diese Anspielung auf das Werk von Dostojewski, „Der Idiot“, bringst du hier schön ins Spiel, sodass es letztendlich mehr als einfach ein Buch von ihm ist, welches er liest.

So ich dann Geld habe, werde ich mir ein Visum für Rossija kaufen, ein Ticket für die Transsib und jene Fahrt wiederholen; Moskau-Irkutsk in long version: 72 Stunden im Platzkartnyabteil.

Schöner Gedanke. Die Route erinnert mich daran, wie ich vor 46 Jahren beabsichtigte auf dieser Strecke nach Ulan Ude zu gelangen, einer Einladung folgend. Es wurde dann nichts daraus, da die Sowjets Ausländer nicht durch militärisches Sperrgebiet reisen liessen und anboten, ich könnte von Moskau mit dem Flugzeug nach Ulan Bator gelangen. Es hätte mich jedoch ein Vermögen gekostet. So blieb es bei der Reiseplanung, deren Erinnerung mir der Text mir weckte.

Die Welt stirbt und wir sterben mit ihr, jeden Tag ein wenig mehr.

Ich ahne, die Protagonistin vermutet den Tod von Ildar. Doch ist es nicht nur ein virtueller Tod? Dass er in Facebook gelöscht ist, könnte ja auf vielseitige Ursachen zurückzuführen sein.

Was passiert mit den gestorbenen Träumen. Gott spricht zu mir, der Atheistin.

Obwohl die Fantasie der Protagonistin träumerisch ist, birgt sich in diesem dialogischen Widerspruch eine Logik. Ist es Zufall, dass du Atheistin und nicht Nihilistin wähltest? Atheisten gibt es ja nur vor den Gottgläubigen und ihren abgesprungenen Schäfchen. Die andern stehen dem ja nihil gegenüber, sind auf einer solchen Ebene gar nicht erreichbar, da es ein Gespräch mit dem Nichts wäre. ;)

Alle Menschen träumen, pro Nacht ca.5-8 mal.
[…] und sich durchschnittlich höchstens an einen erinnern.

Hier machst du aber einen weiten Bogen von der ursprünglichen Handlung weg. Dass sich Menschen meist höchstens an einen Traum erinnern, hat zudem einen einfachen Grund, die Erinnerung greift nur, wenn man unmittelbar danach zumindest kurz aufgewacht war.

Das Leben plätschert so vor mich hin, […]
Bis dahin: kein Dostojewski mehr.

Bis hierher sind die Gedankensprünge schon in ganz andern Welten, nur im letzten Satz nochmals eine Rückkehr.

Die Spritzer des Poetischen, die der Text enthält, haben mir gefallen. Ich würde mich wahrscheinlich auch über weitere Texte von dir freuen. Vorab fände ich es jedoch eine interessante Herausforderung für dich, dem vorliegenden Text die Tiefe einer Kurzgeschichte zu schenken. Es also nicht einfach auf einer verträumten Ebene stehen zu lassen, in der massive Bruchstücke zur Vollendung fehlen.

Ich bin gespannt, ob dir dies gelingt. :)

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Die Landschaft zieht vorbei, vorbei zieht auch das Leben, das hätte sein können und doch nichts wurde.

Hallo und herzlich willkommen hierorts,

liebe griwo!

Der Titel verspricht mehr, als das Lamento halten wird, denn nix ist ewig, das Fratzenbuch so wenig als das Leben, Herrn Zuckerzwergs Mrd.-Träume wie die eines beliebigen anderen Bankrotteurs. Und dass der Schlaf des Menschen mit seinen Träumen auf Grönland der gleiche ist wie in Timbuktu (wenn man da nicht gerade erschossen wird) , liegt daran, dass wir alle einer Art sind und die Vorfahren des durchschnittlichen Europäers als er aus Afrika anreiste eher einem Kung (abschätzig Buschmann genannt, ein Volk von Jägern und Sammlern) oder dem verwandten Khoikhoin (abschätzig Hottentotten genannt, Vihezüchter und Nomaden) ähnelte als Herrn Ackermann, was nicht jedem gefallen wird und deshalb wird auch an ihrer Ausrottung gearbeitet und wär's auch nur, um sie der sog. Zivilisation gefügig und zu ordentlichen Konsumenten zu formen.

So geht alles und man lebt (ggfs. kurz-)geschichtslos dahin und wird Gläubiger in der Zuckerzwerg Gemeinde und bewundert zudem das neue Apple-Design.

Gleichwohl hoffe ich darauf, dass Du mehr als Lamentieren beherrscht und harre geduldig des Nachfolgers!

Gruß, schönes Wochenende und ein schönes Restjahr (is' ja allet so schnell vorbei) vom

Friedel,
der nun nach einem Puschkin greift ...

 

Auch wenn es keine Kurzgeschichte ist, hab ich den Text gern gelesen: Mir gefällt dein poetischer Schreibstil :)

Alles andere wurde mehr oder weniger schon gesagt ;) Würde mich freuen, mehr zu lesen!

liebe Grüße, Eine wie Alaska

 

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