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Ein zauberhafter Tag im Herbst
Ein zauberhafter Tag im Herbst
Die goldenen Strahlen der Morgensonnen fielen durch das dichte Blätterdach und tauchten die herbstlichen Bäume in ein warmes Licht. Die trockenen Blätter knirschten unter Beléns Schritten, und verträumt liess sie, ihre Füsse den Weg selber suchen lassend, ihren Blick durch den Wald schweifen. Die Herbstblätter schimmerten im Sonnenlicht von blutrot über leuchtend orange bis hin zu strahlend gelb, manchmal auch braun und ockerfarben.
Doch Belén konnte die herbstliche Pracht, das Wunderwerk der Natur nicht ganz geniessen, denn eine Frage schwirrte ihr wie eine lästige Fliege im Kopf herum: Über was sollte sie ihren Aufsatz in der Schule schreiben? Ein ironisches Grinsen spielte um ihre Lippen. Das Thema war ‚Herbst’, und was, bitte schön, konnte man darüber schon schreiben?
Sie wanderte ziellos durch den ruhigen Wald, lauschte dem Gesang der Vögel, liess sich von den warmen Sonnenstrahlen das Gesicht liebkosen und bewunderte das Wunderwerk der Natur.
Plötzlich nahm in ihrem Kopf ein Gedanke Gestalt an: Wer machte eigentlich den Herbst? Doch sogleich verwarf die diese Idee wieder. Sehr phantasievoll war es nicht gerade... Aber trotzdem. Im Hinterkopf behalten konnte sie diese Idee. Unlustig blieb Belén stehen. Toll. Das konnte ja heiter werden – bis am nächsten Tag musste die Geschichte geschrieben sein... Auf einmal hörte Belén ein Knacken ganz in ihrer Nähe. Sie schaute sich um, und ihr Blick fiel auf einen Hasen am Wegrand. Er war klein, frisch den mütterlichen Fittichen entkommen wahrscheinlich, und sein Fell war bis auf einige Schmutzflecken und trockene Blätter weiss wie frisch gefallener Schnee. Belén ging in die Hocke und streckte dem Häschen, beruhigende Laute von sich gebend, eine Hand hin. ‚Hallo, Kleines’, sagte sie sanft. ‚Na, kannst du mir sagen, wer den Herbst macht?’ Doch das Tier schaute sie nur mit grossen, haselnussbraunen Augen an und wackelte mit den samtigen Ohren. ‚Nein?’ Belén seufzte. ‚Schade... Dann muss ich halt noch weitersuchen...’ Sie erhob sich und zupfte einige trockene Blätter von ihrer Hose. Das Häschen schnüffelte noch ein, zwei Mal mit dem rosigen Näschen und hoppelte davon. Belén schüttelte den Kopf und ging weiter. Dann musste sie halt eine bessere Idee finden und sie hoffte inständig, dass der Wald ihr eine Inspiration bieten würde.
Am Mittag verspürte sie ein stechendes Hungergefühl im Magen, ihre Beine waren schwer und ihre Füsse schmerzten. Belén war jetzt Stunde um Stunde im Wald herumgeirrt, ohne auch nur den Anflug einer Idee zu haben. Es schien, als ob sie den ganzen Morgen verschwendet hatte.
Als sie, mit laut knurrendem Magen, auf eine verborgene Lichtung kam, ging sie zielstrebig auf die grosse, majestätische Eiche auf deren Mitte zu und setzte sich frustriert darunter. Immerhin hatte sie einen gemütlichen Platz für eine Pause gefunden, denn, obwohl es schon Herbst war, brannte die Sonne unbarmherzig vom Himmel und die Eiche spendete angenehm kühlen Schatten. Den Rücken an den dicken Stamm des Baumes gelehnt wickelte Belén die Brote aus, die sie mitgebracht hatte, entschied sich für eines und biss herzhaft hinein.
Nachdem die ihre Brote verspeist und sich einige Schlucke Tee genehmigt hatte, erschien ihr die Welt nicht mehr ganz so schwarz. Sie beschloss, sich jetzt erst mal ein kleines Nickerchen zu gönnen und dann, wenn es nicht mehr ganz so heiss war, weiterzuschauen. Seufzend kuschelte Belén sich auf dem weichen Boden zusammen, schloss die Augen und schlief sofort ein.
Plötzlich hörte sie ein seltsames Geräusch, so als ob ein gewaltiger Moskito durch die Luft schwirren würde. Erstaunt rieb Belén sich den Schlaf aus den Augen, erhob sich und schaute sich um. Doch sie entdeckte nichts, was nicht auch schon vorher dagewesen wäre. Seltsam. Sie klopfte sich die Erde von den Kleidern, zupfte trockene Gräser aus dem Haar – und als sie gähnend den Kopf in den Nacken legte, sah sie es. Zuerst glaubte sie an eine optische Täuschung durch die Sonnenstrahlen, die sie durch das Blätterdach blendeten, doch das Wesen, zwei Meter über ihrem Kopf schwebend, kam ihr sehr lebendig und real vor.
Ein sehr seltsames Geschöpf war es, etwa eine Elle lang, sehr schlank und zerbrechlich wirkend, mit durchscheinenden, schmetterlingsartigen Flügeln an den Schulterblättern. Und was noch seltsamer war: es hielt einen kleinen Eimer und ein Pinselchen in den Händen. Scheinbar hatte das Wesen Belén noch nicht bemerkt. Diese wollte etwas sagen, doch aus ihrer Kehle entwich nur ein seltsames Geräusch. Daraufhin erschrak die Kreatur über ihrem Kopf und fiel mit einem spitzen Schrei zu Boden.
‚Mjpsfns’, fluchte es und rappelte sich auf. Der kleine Eimer mitsamt dem Pinselchen war auch heruntergefallen, und scheinbar hatte der Eimer Schaden genommen, denn das Wesen schien besorgt und zugleich verärgert zu sein, als es seine Sachen aufhob. Den Rücken zu Belén, sagte es, sich Blätter aus dem Haar zupfend, wütend: ‚Jetzt schau dir mal an, was du angerichtet hast!’
Belén war so erstaunt, dass sie weder etwas sagen, noch sich bewegen konnte. Und auch das Wesen erstarrte und verstummte, als es sich umdrehte und Belén erblickte. Sie waren so erstaunt über den anderen, dass sie sich einige Minuten lang wortlos anstarrten.
Das Wesen hatte ziemlich kurze Haare, welche die Farbe einer reifen Kastanie hatten. Das Gesicht war klein und schmal, die grünen Augen waren beinahe zu gross im Verhältnis dazu. Eine kleine Stupsnase und ein leicht offen stehender Mund dazu verliehen dem Wesen den Anschein eines erstaunten Kindes, und tatsächlich hätte das Wesen von der Grösse her ein Kind sein können, wären da nicht die sehr femininen, mit einem braunen Rock nur sehr knapp bedeckten Formen gewesen. Alles in allem konnte man das Geschöpf wohl als hübsch bezeichnen – nun gut, ein bisschen ungewöhnlich vielleicht.
Belén fand als Erste ihre Stimme wieder. ‚Wer... wer bist du?’, fragte sie heiser. Da straffte sich das Wesen und antwortete mit einem stolzen Unterton in der piepsigen Stimme: ‚Ich bin eine Herbstelfe, heisse Chispita und meine Aufgabe ist, die Blätter rot zu bemalen. Und wer bist du?’ Belen räusperte sich und antwortete dann: 'Ich heisse Belén und bin sechzehn Jahre alt.' ‚Sechzehn? Sehr interessant’, stellte Chispita fest. Da überwand Belén ihre Scheu und wagte sie zu fragen: ‚Du hast gesagt, deine Aufgabe sei es, Blätter...’, sie zögerte, ‚... rot zu bemalen. Wieso machst du das?’
Chispita atmete theatralisch ein und grinste dann. ‚Ihr Menschen seid ja sooo naiv. Ihr wisst nicht, aber auch gar nichts von der Elfenwelt!’, seufzte sie. Belén wollte sogleich widersprechen, aber die Elfe hob rasch die Hand und sagte: ‚Ja, ich weiss. Viele Märchen und Sagen und Erzählungen und sonstige Geschichten ranken sich um uns, ‚die mystischen Wesen des Waldes’, aber seien wir ehrlich: Ihr glaubt nicht wirklich an unsere Existenz, nicht wahr?’ Chispita legte den Kopf ein wenig schief und blickte Belén herausfordernd an, doch diese sagte nichts. Also fuhr sie fort: ‚Weißt du, es hat eine Kolonie Blätterbemaler im Herbstzweig des Elfenvolkes. Und jeder Maler bekommt eine Farbe, zum Beispiel Orange oder Rot. Nur so nebenbei, die Farben werden von Farbenmeistern aus den Strahlen des Sonnenunterganges gemacht. Oder Gelb – auch dieser Farbton wird aus Sonnenstrahlen gewonnen.
Und ich’, sagte Chispita nicht ohne Stolz, ‚ich bin ein Rotchen.’
‚Aha’, machte Belén verblüfft. ‚Aber wenn jeder Maler eine Farbe bekommt, warum hat es dann Blätter mit vielen verschiedenen Farbtönen?’
Chispita antwortete, ohne zu zögern: ‚Nun, nur die grossen Maestros der Malerkolonie dürfen ein ganzes Blatt alleine bemalen. Und um ein grosser Maestro zu werden... Da musst du schon so um die 700 Jahre Übung haben...’
Belén schnappte nach Luft. ‚Wie alt bist du genau, Chispita? Und wie alt kann eine Elfe werden?’
Chispita überlegte einige Momente, dann antwortete sie: ‚Ich bin genau 675 Jahre alt, und das Durchschnittsalter einer Elfe liegt bei 2000 Jahren. Gut, wir sind eigentlich unsterblich, nur aus Liebe können wir sterben.’ Und als sie Beléns fragenden Blick bemerkte, erklärte sie: ‚Sagen wir mal, eine Herbstelfe verliebt sich in eine Frühlingselfe. Aber ein Zusammenleben ist für die beiden unmöglich. Stell dir nur mal vor! Eine Frühlingselfe, welche die Blumen wachsen lässt und die Vögel im Morgengrauen singen macht an einem nebligen Herbsttag!’ Entschieden schüttelte die Elfe den Kopf. ‚Unmöglich. Ausserdem kann sich eine Elfe erst ab dem sechshundertsten Lebensjahr verlieben – das Geschlecht ist vorher noch nicht festgelegt – und die vier Zweige des Elfenvolkes, das heisst, die Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winterelfen treffen sich nur an Mittsommernacht und Mittwinternacht. Also sind solche Fälle relativ selten. Aber wenn es vorkommt...’ Chispita verzog den Mund. ‚Was denn?’, fragte Belén unnötigerweise nach, denn die Elfe fuhr sogleich fort: ‚Entweder sind sie dazu verdammt, sich selbst das Lebenslicht auszuhauchen und dann als rastlose Geisterwesen in ihrem Teil des Jahresihr Dasein zu fristen – das Heulen des Windes im Herbst zum Beispiel sind die vor Liebe gestorbenen Seelen der Herbstelfen, die über ihr Unglück weinen – oder aber können sie ihre Unsterblichkeit aufgeben.’ Als Belén Chispitas zu Boden gerichteter Blick sah, verzichtete sie darauf, weiter in diesem unerfreulichen Thema zu bohren, als beeilte sie sich zu fragen. ‚Aber sag mal, Chispita, machen die Herbstelfen denn alle Merkmale des Herbstes?’
Daraufhin warf die Elfe den Kopf in den Nacken und lachte glockenhell und perlend. ‚Aber natürlich!’, japste sie zwischen zwei Lachsalven. ,Denkst du denn, die Nebelschwaden sind einfach so da?’ Belén grinste säuerlich, überhaupt nicht erfreut darüber, dass sich dieses kleine Ding dazu erfrechte, sich über sie lustig zu machen. Als Chispita sich wieder beruhigt hatte, erklärte sie ruhig: ‚Eben zum Beispiel der Nebel. Es ist nicht das Wetter, welches die Nebelschwaden entstehen lässt, nein, vielmehr sind es die ururalten Elfen, unfähig geworden, Blätter zu bemalen oder Winternahrung für die Tiere zu verstecken. Sie weben hauchdünne Tücher aus Spinnweben, und die uralten Elfen hängen sie des Nachts über die Kunstwerke der Malerkolonie, um sie vor dem intensiven Mondlicht zu schützen.
Oder der Morgentau: Verschüttetes Quellwasser einiger nachtaktiver Herbstelfen für durstige Tiere...’
Während Chispita am erzählen war, hatte sie ein gelbbraunes Blatt mit dem Rest roter Farbe aus ihrem Eimerchen bemalt und reichte es nun Belén mit den Worten ‚Damit du mich nicht vergisst...’ Belén nahm das Geschenk geistesabwesend an, denn in ihrem Kopf war einfach eine Frage: Weshalb hatte gerade sie das Glück, eine Elfe zu treffen?’
Und als ob jemand ihre Gedanken lesen könnte, erschien das weisse Häschen. Aber... Wer war das? Auf dem Rücken des Hasen sass eine andere Elfe, und obwohl es vom Aussehen her Chispita ähnelte – die Ausstrahlung war magischer, bezaubernder, intensiver. Zudem war schien sie noch zerbrechlicher. Und schön war diese Elfe: Die ockerfarbene Haut schimmerte im goldenen Sonnenlicht mit dem roten Haar um die Wette, in den grossen grünen Augen funkelten geheimnisvoll goldene Punkte. In ihren Flügeln brachen sich tausendfach die Sonnenstrahlen. Ihre Kleidung schien aus purer Seide gemacht, und um ihr Haupt war eine Krone aus prächtigen Blättern gewunden. Belén war so in den Bann gezogen von der Elfe, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass Chispita auf die Knie gefallen war und etwas in einer fremden Sprache murmelte.
Die Elfe machte Bewegung mit der schmalen, winzigen Hand, und auch Belén sank zu Boden. Das Wesen konnte nichts anderes als die Königin der Elfen sein. ‚Tochter der Menschen’, sagte sie plötzlich mit einer melodiösen und sanften Stimme, ‚du hast mich um Hilfe gebeten, als du durch meinen Wald wandeltest. Du erschienst mir so verzweifelt – ich konnte nichts anderes machen als dir zu helfen. Ich hoffe, meine Hilfe hat dir etwas gebracht.’
Belén konnte sich nicht bewegen, sie murmelte nur ‚Vielen Dank’, und plötzlich wurde alles schwarz.
Das heisere Krächzen einer Krähe durchschnitt die Stille des friedlichen Waldes. Belén schreckte auf und öffnete die Augen. Langsam, aber unaufhörlich senkte sich schon das dunkle Tuch der Nacht über den Wald. Der Horizont schimmerte noch blassrosa und lavendelfarben, die Baumspitzen erstrahlten in einem seltsamen Licht. Belén schüttelte verwirrt den Kopf. Hatte sie alles nur geträumt? Doch da bemerkte sie, dass sie ihre linke Hand fest um etwas geschlossen hatte. Sie öffnete die Faust, und heraus fiel ein rotgelbes Baumblatt. Abermals schüttelte sie den Kopf, ungläubig und erstaunt. ‚Ich werde wohl nie erfahren, ob alles nur Einbildung war oder nicht’, dachte sie lächelnd, ‚aber jetzt weiss ich mit Sicherheit, was ich in meinem Aufsatz schreiben werde.’