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Ein Wolf im Wolfspelz
Jetzt ist der Moment, in dem sich vieles entscheiden könnte. Wobei das so eigentlich nicht stimmt. Für dich könnte sich vieles entscheiden, Mädchen, bei mir sieht das anders aus.
Da sitzt du in deinem roten Strickjäckchen, hast die Augen an die Bücher geheftet, und spielst mit deinen schwarzen Haaren. Wie Rotkäppchen siehst du aus, wie ein glühendes Rotkäppchen, das man aus dem Wald vertrieben, und in eine Bibliothek gehetzt hat.
Was machst du hier, Mädchen, dieser Staub ist nichts für dich. Du willst keine Juristin werden, vertrau mir, das willst du nicht. Du hast keine Lust auf Vierzehn-Stunden-Tage, keine Lust auf Networking, keine Lust nächtelang Akten zu wälzen, und mit Leib und Seele der Sozietät gehören. Ja, sie werden dir das beste Essen kommen lassen, ja, sie werden dein Taxi bezahlen, wenn es dich ganz hart trifft, dann haben sie sogar ein eigenes Fitnessstudio.
Mach das nicht Mädchen. Komm mit mir. Was ich dir alles bieten kann, fragst du dich, und schaust mich verstohlen an. Finde es heraus.
Klar habe ich dein Lächeln gesehen. Es funkelt, das ist mir aufgefallen. Ja, streich bitte noch einmal über deine Haare, spitz deine Lippen, runzel die Stirn über diesen Satz, den du schon zehn Mal gelesen hast, und der noch genauso wenig Poesie hat wie zuvor.
Poesie suchst du in diesen Räumen vergeblich Mädchen – hier leben harte Fakten. Abenteurer bleiben draußen, wie hast du dich hier bloß hineingeschlichen? Aber du hast es. Du bist hier, und dich treibt tatsächlich die Frage, wie man Willenserklärungen auslegt. Das ist doch traurig Mädchen. Ich leide mit dir, wirklich.
Wie alt bist du, Mädchen? Nicht älter als neunzehn, nicht wahr? Ach, jetzt wirst du rot wie dein Jäckchen. Weil ich dich so anschaue? Na klar, das ist verständlich. Ein älteres Semester, und dann dieser unverschämte Blick, der dir sagt, Mädchen, du gefällst mir. Du bist frisch, du bist prall, du machst noch Hihi.
Soll ich mich zu dir rübersetzen? Was meinst du? Soll ich mich über den Tisch beugen, und ein kleines Hallo flüstern? Soll ich? Ich könnte dich fragen, ob du mit mir einen Kaffee trinken möchtest. Das kommt immer gut, das ist unverfänglich. Ein kleiner Kaffee aus der Cafete, mit mir, da hättest du doch nichts gegen. Du musst auch gar nicht viel sprechen, wenn du dich nicht traust. Lass das mal meine Sache sein. Ich verspreche dir, mich für dich zu interessieren, das glaubst du mir, oder? Du kannst mir erzählen, wo Rotkäppchen früher gelebt hat, wie ihr die große Stadt gefällt, wie gut ihr die neue WG taugt.
Nein, wir werden nicht über Willenserklärungen sprechen, Mädchen, nicht über die Stellvertretung, nicht über Professoren. Das brauchen wir zwei nicht zu tun.
Du bist so schön Mädchen, das wirst du in meinen Augen sehen, das verspreche ich dir. Ich werde ein paar Witzchen machen, dich auf den Arm nehmen, und dabei leicht deinen Arm berühren. Es wird in dir drin etwas zucken, das kennst du bestimmt schon, und dann wird es warm, und du wirst ein wenig schweigen wollen.
Wir werden raus gehen, uns auf die Wiese setzen, jetzt ist doch gerade auch Frühling, besser kann es doch gar nicht werden. Du wirst mir schräg gegenüber sitzen, die Beine im Schneidersitz, und wohin mit den Händen? Die hältst du unter der Brust verschränkt. Eine schöne Brust hast du, Mädchen, ich sehe, wie sanft sie sich auf und ab bewegt.
Du wirst mich verstohlen anschauen, ist dieser Typ das aufregende Abenteuer? Oder mehr? Hihi. Wer weiß es schon so genau in dieser großen Stadt. Es kann alles sein Mädchen. Ich glaube das auch – jedes Mal.
Du bist der Frühling, du bist die Zukunft, da kann der Staub der Bücher nichts gegen machen. Noch nicht. Aber wer will denn an später denken, Mädchen. An ein bisschen später schon, an heute Abend zum Beispiel, aber wirklich an später? Nein Rotkäppchen, durch den Wald wirst du alleine laufen müssen, ich bin hier bloß der freundliche Wolf.
Gehst du mit mir aus, schönes Mädchen, würde ich dich fragen, wenn der Kaffee leer ist. Heute Nacht könnte man in den Stadtgarten gehen, oder an den Rhein. Wir wollen das nicht so genau planen, Mädchen. Du ziehst einfach ein luftiges Kleidchen an, schwingst dich auf dein altes Fahrrad, und vergisst nicht zu strahlen. Aber das muss man dir gar nicht sagen, oder? Du strahlst auch so schon, wenn du aufstehst, und deinen Rock zurecht streichst. Du hast nicht erwartet, dass dieser Tag in der Bibliothek so eine Wendung nehmen wird. Das ist doch romantisch, nicht wahr? Ich habe es auch nicht erwartet, aber ich habe es gehofft. Sowas passiert schon mal. Man muss nur ein bisschen freundlich schauen.
Ja, nein, vielleicht – ich ziehe dich zu mir, gebe dir einen Kuss auf die Wange, atme dich ein – wie wunderbar du bloß riechst, Mädchen. Bleib neben mir stehen, für einen Moment nur länger als die Verabschiedung es braucht. Ja, deine Nummer brauche ich noch, natürlich, die werde ich mir sogar merken. Aufschreiben kann jeder, Mädchen. Doch doch, ich werde sie nicht vergessen, deine Augen brauchen sich nicht zu sorgen, ich habe das schon tausendmal gemacht.
Und jetzt geh zurück zu deinen Bergen aus Büchern, zu deinen Sätzen ohne Poesie, zu der Zukunft, die nicht gut für dich ist. Nein Rotkäppchen, ich bleibe noch ein wenig hier in der Sonne, hat ja alles noch Zeit, und wer will denn den Zauber zerstören.
Abends werden wir uns zur Begrüßung umarmen. Ein bisschen länger als eine Begrüßung es braucht. Wir werden spazieren gehen unter den duftenden Linden, die untergehende Sonne wird dein Gesicht streicheln, wenn sie hinter dem Horizont verschwindet, werden meine Finger das übernehmen. Leicht zuerst, ganz leicht – wenn du dich an dem großen Bananenweizen verschluckst, und so lange und so zärtlich hustest, bis aus deinen Augen Tränen sprießen. Ich werde sie wegwischen Mädchen, mit dem Fingerrücken werde ich das tun. Ich werde es wegwischen, und dabei spüren, wie prall und warm deine Wange ist.
Ich werde die Sommersprossen auf deiner Nase zählen. Doch, die sehen ganz wunderbar aus, Mädchen, mach dir keine Sorgen. Ich kann sie gar nicht zählen, ich kann Telefonnummern merken, das schon, aber deine Sommersprossen zählen, das wird mir nicht gelingen. So viele hast du davon. Aber das macht nichts, Mädchen, jede einzelne von ihnen ist wunderbar. Ich werde es dir natürlich so nicht sagen, wer will denn hier kitschig sein, ich werde dich nur so anschauen, dass du es wissen wirst.
Ich werde dich küssen Mädchen, heute Abend werde ich dich küssen, verlass dich drauf. Ich werde dein Gesicht in die Hände nehmen, dich an einen Baum drücken, oder an eine Mauer, irgendwas zum Gegendrücken müssen wir unbedingt finden, und dann werde ich dich küssen. Du wirst es mögen Mädchen, vertrau mir. Es wird schmecken wie Abenteuer.
Wie schnell es danach gehen wird? Nun, Mädchen, das liegt in deiner Hand. Du hast die Freiheit, du hast die Wahl, du bist das bezaubernde Rotkäppchen mit den wunderbaren Sommersprossen.
Ich bin gerne dein Wolf, Mädchen, ich bin ein Wolf im Wolfspelz, das solltest du wissen. Ich bin für Offenheit, Mädchen, ich bin gegen Versprechungen. Ich bin einer, der sagt, lass einfach schauen, wie sich das entwickelt, vor uns liegt doch das ganze Leben. Lass doch wenigstens unsere Sätze Poesie haben, und keine harten Fakten schaffen.
Du sagst Hihi, du strahlst, dein Kleidchen ist luftig wie der Frühling, und ich schiebe es vorsichtig hoch.
Was danach kommt, Mädchen?
Es tut mir leid, ich konnte es doch auch nicht wissen, bitte, du brauchst nicht weinen. Es ist schade, ich finde es auch. Das war eine tolle Zeit, Mädchen, nicht bloß ein blödes Abenteuer. Sag bitte sowas nicht, das ist nicht fair, ich schulde dir gar nichts. Mir wäre es auch lieber, wenn das geklappt hätte, aber wir befinden uns nun mal in verschiedenen Phasen, das ist so schwierig. Ich wünsche dir nur das Beste, das Allerbeste, ehrlich. Sag sowas nicht, das sind keine leeren Worte, es war besonders.
Ja, hübsches Mädchen mit dem roten Strickjäckchen, sieh lieber nicht hoch von den Büchern. Das ist der Moment, in dem sich vieles entscheiden könnte. Wobei das so eigentlich nicht stimmt. Für dich könnte sich vieles entscheiden, Mädchen, bei mir sieht das anders aus.