Ein Wochenende auf Sylt
„Und warum ausgerechnet Sylt?“, fragte ich meine Freundin Bärbel, die mich erwartungsvoll anschaute. Ich wusste ja, dass sie eine Schwäche für diese Insel hatte, wogegen ja auch nichts einzuwenden war. Landschaftlich war Sylt sehr reizvoll, das Problem bestand für mich aber darin, dass ich eine absolute Abneigung gegen das arrogante Volk hatte, das sich auf dieser Insel hauptsächlich tummelte. „Na, du weißt doch, was Frau Burgemeister gesagt hat. Du lernst den Mann deines Lebens irgendwo am Wasser kennen“, antwortete sie breit grinsend. Meine Güte, immer wieder schmierte sie mir die Prophezeiung dieser Kartenlegerin, die wir einige Monate zuvor aufgesucht hatten, auf’s Brot. Nicht eine Sekunde hatte ich geglaubt, was Frau Burgemeister so alles in ihrem Stapel Karten sehen konnte, vielleicht mit Ausnahme der Tatsache, dass ich nie schwer reich werden würde und mein Geld immer schön zusammen halten musste. Aber diese Vorhersage hätte ich selbst auch treffen können. Woher sollte auch ein plötzlicher Geldsegen kommen, wenn man sich weder dem Glücksspiel noch der Planung eines Bankraubes verschrieben hatte.
Bärbel bearbeitete mich noch exakt dreißig Minuten, dann hatte sie mich weich geklopft und ich stimmte einer Wochenend-Reise nach Sylt zu. Vier Wochen später bezogen wir unser Doppelzimmer in der ‚Pension Adele’, das uns inklusive Frühstück ganze siebzig Euro pro Tag kostete. Das Zimmer war sauber, gehörte aber nicht zur 4-Sterne-Kategorie. Was mich extrem störte, war die Tatsache, dass dieses Zimmer ohne Bad und WC war. Dieser Luxus hätte uns in einem anderen Haus ganze fünfzig Euro mehr gekostet und das war dann doch schon hart an der Schmerzgrenze unseres Budgets. Ausgerüstet mit einer Riesenflasche Desinfektionsspray fühlte ich mich wenigstens halbwegs abgesichert gegen Pusteln, diverse Pilze und juckendem Ausschlag. Nun ja, das passierte mir einfach immer wieder, wenn ich Bad und WC mit fremden Menschen teilen sollte, ich bildete mir so lange eine ansteckende Krankheit ein, bis meine Haut sich rötete und höllisch juckte. Noch schlimmer wurden diese Symptome immer spätestens dann, wenn ich im Frühstücksraum die Gesamtheit aller Nutzer der sanitären Einrichtungen sah. Da konnte es dann schon vorkommen, dass ich mich noch Wochen später mit einer eingebildeten Pilzerkrankung rumplagen musste.
Unseren ersten Abend hatte Bärbel bereits verplant, wir gingen in eines dieser Schickimicki-Restaurants, in denen ein Steak gerade mal so groß war, wie eine Backoblate. Wir bestellten Seeteufel an Blattspinat mit Wildreis und bekamen genau das, was ich erwartet hatte. Zwei Stück Fisch, jedes gerade mal so groß, wie schon beschrieben, dazu Blattspinat, genau genommen fünf Blätter, man konnte sie sehr gut zählen und dazu ein gemeinsames Schüsselchen Reis, das exakt vier Esslöffel fasste. Alles war kunstvoll auf einem übergroßem Teller zurecht gelegt, auf dem man locker seine Weihnachtsgans hätte tranchieren können. So mussten sich die Zwerge bei Schneewittchen gefühlt haben, als sie aus ihrem Tellerchen aßen. Nun war Bärbel ein eingefleischter Schickimicki-Fan und kannte sich aus, was zu tun war. Nach etwa der Hälfte des Essens stöhnte sie mich an „oh, ist mir schlecht, das war einfach zuviel“. Da ich mich schon ungeheuer daneben benommen hatte, indem ich mir, anstatt einem gutem Tröpfchen Weißwein zum Fisch, ein ganz ordinäres Bier bestellt hatte, konnte ich nun nichts mehr verlieren und übernahm die Restportion von Bärbel’s Essen, da meine Magenwände immer noch schmerzhaft aneinander rieben. Ich wollte in diesem Urlaub ja nicht unbedingt an Hungertod sterben.
Bärbel’s Aufmerksamkeit richtete sich für den Rest des Abends auf einen, ich muss gestehen, dass er hübsch anzusehen war, Kellner des Restaurants. Meine Aufmerksamkeit hingegen richtete sich auf die Rechnung, die uns erwarten würde. Das Festmahl kostete ungefähr soviel, dass eine vierköpfige Familie mit diesem Geld locker drei Tage hätte überleben können. Aber nun gut, ich hatte gewusst, worauf ich mich einließ, nämlich auf Sylt, auf die Insel der Reichen und Schönen. Sicher gab es hier viele Leute mit ordentlich Knete, aber das mit dem Schönsein wollte selbst mit dickem Bankkonto nicht immer hinhauen, wenn ich mich so umschaute. Gegen vorgerückter Stunde plauderte Bärbel bereits mit dem Kellner, der uns dann auf besonders wichtige Art und Weise die Einstufung der Gäste, speziell in dieser Lokalität, erklärte. So erfuhren wir, dass es ‚Paviane’ gab, das waren die, die keine Kohle hatten, also wir, was er uns so unverblümt natürlich nicht sagte, aber wir kannten ja den Stand unseres Privatvermögens. Dann gab es noch die ‚Lutscher’, die hatten zwar etwas Geld, aber einfach nicht genug und die, die man gerne sah, das waren die ‚Fürsten’. ‚Fürsten’ aßen nur die feinsten Speisen, tranken nur die edelsten Weine und gaben die fettesten Trinkgelder. Da ich nun mal keine Fürstin war, reagierte ich natürlich standesgemäß und blieb beim Trinkgeld unter einem Euro. Was dachte sich dieser Pomadenheini eigentlich? Irgendwann unterbrach ich dann den nicht enden wollenden Plausch, mit den an Bärbel gerichteten Worten „komm, du Pavianweibchen, wir gehen jetzt schlafen“. Gerne ging sie nicht mit, aber sie tat es dann doch. Dass ich diesen kleinen Kellner, der ja nun wirklich nur Kellner war und sicher keine Dissertation geschrieben hatte, um diesen Job zu bekommen, für ein arrogantes Riesenarschloch hielt, wischte Bärbel mit der Bemerkung „das ist hier nun mal so“ zur Seite. Mein Abendgebet, eigentlich betete ich sonst nie, aber irgendwie war mir jetzt danach, endete zwangsläufig mit den Worten „lass die Tage schnell vergehen.“
Den Folgetag verbrachten wir mit einem ausgedehntem Strandspaziergang, den wir dann letztendlich abbrachen, als wir fast am Erfrieren waren. „Jetzt wäre ein Glühwein schön“, sagte Bärbel und da der Gedanke mir auch gefiel, steuerten wir einen Stehimbiss an, der hier natürlich auch ganz anders war, als anderswo. In Pelz gehüllte, schmuckbehangene Damen, in Begleitung ebenso edel aussehender Herren schlürften ihren Nachmittagskaffee, während sie mit abgespreizten Fingern kunstvoll ihren Streuselkuchen auf die Kuchengabeln hievten. Selbst bei den jüngeren Gästen suchte man vergebens nach auch nur einem Hauch von Lässigkeit. Die Mädels hatten irgendwie alle den gleichen Frisör, gleichlanges Haar, das immer wieder kunstvoll ins Gesicht rutschte, um dann ebenso kunstvoll wieder nach hinten geworfen zu werden. Dazu gab es dann immer den passenden, sorgfältig gegelten Jüngling, der einen vielsagenden Siegelring am kleinen Finger trug. Mein Gott, waren wir hier etwa in eine konspirative Sitzung des deutschen Hochadels geplatzt? Es war einfach schön anzusehen, mir kam offen gestanden, fast das kotzen. Nun, da dieser Nobelschuppen mit Stehtischchen trotz allem eben nur eine Art Imbiss war, bekam man seine Speisen und Getränke natürlich nicht serviert. Ich steuerte also die riesige Glasvitrine an, hinter der einheitlich beschürzte Verkaufskräfte emsig umher schwirrten. Meine Bestellung von zwei Gläsern Glühwein brachte mir einen fast schon vernichtenden Blick ein, begleitet mit den Worten „also, Glühwein führen wir hier nicht.“ Da auf der Vitrine diverse Rotweinflaschen standen, tippte ich auf eine davon und bestellte zwei Gläser. Und wieder schaute mich die Dame, die ihrem hoheitsvollen Getue nach sicher eine verwunschene Prinzessin war, verdonnert dazu, bis zum Kuss eines Prinzen als Thekenkraft zu malochen, etwas verwundert an und klärte mich auf, dass es sich hierbei um einen ‚Rothschild’, das Glas zu 23,50 Euro, handeln würde. Gottlob hatte ich an diesem Tag meinen Familienschmuck nicht angelegt, denn dann hätte man mich sicher unaufgeklärt in diese Eurofalle tappen lassen. Nach zwei weiteren Minuten war ich stolze Besitzerin von zwei Gläsern Rotwein, zum zivilen Preis von insgesamt 12,80 Euro. Meine Suche nach Blattgold oder Ähnlichem war vergeblich, es war wirklich nur Rotwein im Glas.
Leicht betüdelt, in diesem Zustand fand ich es fast schon nett hier, gingen wir zurück in die Pension und machten uns fertig für einen weiteren und letzten Abend auf der Insel. Am anderen Tag würden wir wieder abreisen, was mich zunehmend heiter stimmte. Natürlich war klar, dass Bärbel wieder das Restaurant aufsuchen wollte, in dem dieser herzerfrischende Kellner seiner Arbeit nachging. Diesmal setzten wir uns, nach dem Essen an die überdimensionale Bar, an der, nach Aussage des Kellners, fast ausnahmslos schon die gesamte Politprominenz der Republik, ihren Cocktail geschlürft hatte. Nun, ich bestellte natürlich wieder ein Bier und stellte fest, dass ich hier wirklich die Ausnahme bildete. Die Damen nippten an ihren Martini’s, die Herren bevorzugten wohl eher Whiskey. Schweren Herzens, mit Blick auf ihr Girokonto, bestellte selbst Bärbel ein Bier, was dieser dummbeutelige Kellner als „ist das süß“
kommentierte. Meine Konversation mit ihm endete, als er ein Stück meines Blusenärmels zwischen Daumen und Zeigefinger rieb und mit allwissendem Blick „Otto Kern?“ säuselte, woraufhin ich ihm die knappe Antwort gab „Otto ja, aber nicht Kern, Otto-Versand-Hamburg“. Während er, ob dieser wohl nicht erwarteten Antwort, völlig entgeistert auf das Stück Stoff zwischen seinen Fingern starrte, gab mir Bärbel einen Stups unter dem Tisch und rollte heftigst mit den Augen. „Volltreffer“, dachte ich und freute mich, endlich den Pavian rausgelassen zu haben. Warum zum Teufel arbeitete dieser Kerl nicht durchgängig und musste jetzt sogar mich mit seinem Müll zuschwatzen? Anscheinend hatte ihn der Hinweis auf den Hersteller meiner Bluse so verwirrt, dass er mich in Ruhe ließ. Jetzt konnte ich meinen Gedanken nachhängen, ohne weiter Interesse an irgendwelchen stumpfsinnigen ‚Geschichten aus der Welt der Nobel-Kellner’ heucheln zu müssen. Inzwischen hatte sich ein älterer Herr, sagen wir mal, so um die Fünfzig, neben mich gesetzt. Ein kurzer Blick ließ mich fast vom Hocker purzeln, er sah aus wie eine Kröte und starrte mich aus seinen riesigen Glupschaugen durchdringend an. Dieser Urlaub würde nicht nur ein Loch in mein Portemonnaie reißen, nein, ich würde auch die Halsstarre bekommen, da ich nun den ganzen Abend meinen Kopf genau in die Gegenrichtung drehen musste. Die Kröte ließ sich jedoch nicht beirren und setzte zum Gespräch an. „Sie wirken sehr distanziert, nordisch distanziert“, kam über seine überdimensionalen Lippen. Wie um alles in der Welt konnte man nordisch distanziert sein, was würde er denn zu einer Dunkelhaarigen sagen, die ihm wenig Beachtung schenkte? Würde er sie dann als ‚südländisch distanziert‘ bezeichnen, dieser Schwachkopf? „Ja, und Sie, Sie wirken eher wie eine Kröte. Sie haben richtig gehört, Kröte. Nicht etwa Frosch, nein, einen Frosch könnte man ja noch küssen und es käme dann womöglich ein Prinz zum Vorschein. Aber wer küsst schon Kröten“, nun gut, das sagte ich natürlich nicht, so konnte man ja auch nicht sein. Aber irgendwie hätte ich mir schon gewünscht, den Mut zu haben, genau das zu antworten. Die Kröte und ich unterhielten uns dann doch ein bisschen, ich erfuhr, dass er Unternehmensberater aus München war und gerade FKK-Urlaub auf Sylt machte. Zwischendurch dankte ich Gott, natürlich nur in Gedanken, dass er mich verschont hatte, die Kröte am Strand nackt sehen zu müssen und irgendwann ging auch dieser Abend zuende.
Am anderen Tag fuhren Bärbel und ich ab und irgendwann, während der Rückreise, sagte sie „das machen wir aber bald mal wieder“. Also, Bärbel ist meine beste Freundin, eine wirklich unglaublich gute Freundin, aber nach Sylt, nein, da würde selbst sie mich nicht mehr hinkriegen.
Ach, nur der Ordnung halber – die Prophezeiung erfüllte sich ein Jahr später. Es war tatsächlich am Wasser, aber am Atlantik und nicht an der Nordsee bei Sylt.