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Ein wirklicher Traum
Ich weiß nicht mehr, ob es die Hitze war, die mich in der Nacht in diesen grauenschweren Tag hinein kaum schlafen ließ, oder eine Vorahnung der Ereignisse, die mir begegnen sollten. Doch kann ich wirklich versuchen, eine Erklärung zu finden, für das, was mich nun nie wieder verlassen wird, oder bin ich diesen Erinnerungen ausgeliefert und muss sie gelten lassen als das, was tatsächlich passierte? Die schwere Sonne des gestrigen Tages hatte mich fast erdrückt mit ihrer widerlichen Wärme, die mich in meiner Haut in festem Griff umschlungen hielt und als ich zu Bett ging, brachte auch das silberne Mondlicht keine Erlösung. Wie eine Drohung schien es durch die blauen Vorhänge des Fensters und verspottete meine Hoffnung auf Schlaf, der mir doch Ruhe bringen sollte. Ich erinnere mich noch, dass ich diese Hoffnung hatte. Wie hohl scheint mir dieses Wort nun. Träumte ich? Wer hätte mir eine Vorahnung eingeben sollen, als dieser Tag begann, inmitten der Nacht, die mich in meinem Schweiß das Bett zerwühlen ließ? Erwachte ich am Morgen? Ist es denn nicht wahr, dass den Sinnen eines Übermüdeten der Halt fehlt, den er doch sonst in der Welt um sich herum findet? Wenn ohne den kleinen Bruder des Todes sich die Geräusche zu einem Rausch vervielfältigen, der einen Strudel bildet, um alles auf dieser Welt zu erfassen und in das Hirn zu ziehen, so kann das Wachsein keine Wirklichkeit bedeuten. Wenn im Traum das Gesicht klar ist und am Tag die Augen dasselbe Unmögliche weiterschauen, wo mag dann die Grenze sein, die ich dachte, jede Nacht zu überschreiten? Ist diese Grenze nun dieselbe wie die Linie zwischen Wirklichkeit und Traum?
Nun wird die Sonne bald wieder untergehen, doch diesen Wechsel werde ich nicht mehr wahrnehmen, denn als sie aufging, begann ein Tag, der für mich keine Nacht beendete. Ich stand auf, weil mich die Arbeit ins Büro zwang. Lange Gewohnheit zog mich unter laues Duschwasser, das sich mit meinem Schweiß vermischte und kreiselnd im Abfluss verschwand. Auf dem Frühstückstisch saß eine Fliege. Ihre Flügel schillerten und die Farben zerflossen in meinen Augen, vermischten sich, spalteten sich wieder auf und flimmerten wie heiße Luft über einem Grill davon. Den verschlossenen Kragenknopf meines Hemdes hielt ein weißer Faden. Ich sah ihn im Spiegel, als ich vor meiner Kehle den Krawattenknoten zuzog. Das Garn war aus kleineren Fasern verschlungen, so wie auch das Tau des Henkers gedreht ist aus dünneren Stricken. Vor dem Haus führte mich der Weg zur Straßenbahn. Seine Gehsteigplatten lagen nicht eben, wie mein Verstand es mir vorgeben wollte. Sie waren gegeneinander geneigt, bildeten Schiefen, die meine Knöchel mit jedem Tritt aufs Neue ausgleichen mussten. Mir schwindelte, als ich die Haltestelle erreichte.
Ich gliederte mich in die immergleiche Namenlosigkeit der Wartenden ein und hielt dabei denselben Abstand vom Haltestellenschild wie von dem großen Anzugträger mit der bleichen Strähne. Die Eisenstange und er bildeten zusammen mit dem Mülltonnenschacht der Häuser in meinem Rücken ein Dreieck. Genau im Schwerpunkt dieses Dreiecks stand ich und sah die anderen auch auf ihren Plätzen. Da waren die Dicke und die Schlampige mit dem Kind, die Haltestelle mit ihrer farbverschmierten Kunststoffscheibe, ein Neuer und der Baum, den Stamm eingezwängt in seinen Kragen aus Beton, der ihn zu würgen schien und dem er nicht entkommen konnte. Sie alle bildeten ein Muster, das sie nicht erkannten, so wie sie sich nicht kannten, nicht ansahen und nicht sprachen. Mir wurde ihre Nicht-Zusammengehörigkeit bewusst, und ich wurde wartend Teil von ihr.
Im Takt der verrinnenden Sekunden pulsierte mein Blut durch meine Schläfen und obwohl es in mir rauschte, hörte es doch niemand. Eine Taube landete zwischen den Gleisen und lief auf den Baum zu. Mit jedem Trippeln riss sie ihren Kopf zurück, so dass die roten Augen wie auf ein Metronom montiert erschienen, das die Zeit zu schnell verstreichen ließ. Obwohl der Vogel schnurgerade auf den Baum zueilte, fixierte er mich auf seinem Gang dahin und meine Zeit verging dabei immer langsamer. Somit brauchte er sehr lange für dieses kurze Stück des Weges. Da die Luft völlig regungslos stand, musste es die Bewegung der Taube sein, die ich als Wind hörte. So wie diesen Wind erlebte ich auch die Zeit. Sie galt nicht mehr für mich, ich nahm sie nur noch wahr, wie sie existierte und verging - für die anderen, nicht jedoch für mich.
Die Taube steuerte auf den Rest eines roten Apfels zu, der im dreckigen Gras um den Baum lag. Halb nur war die Frucht gegessen und lag nun da wie aufgeplatzt: das aufgerissene Kerngehäuse gab seine Schützlinge preis, das bleiche Fleisch trocknete in den stechenden Sonnenstrahlen und die rote Schale wirkte wie geschundene Haut, die ihren Zweck nicht mehr erfüllt, sondern nur noch Schmerzen bringt. Was kann aus einer solchen Frucht noch entspringen, die eigentlich dazu bestimmt ist, ihren Samen zu schützen und wieder Leben hervorzubringen? Nun lag sie da und stank, als ob ein Fisch in ihr wohnte, der seinerseits nur existierte, um Ärger und Bissigkeit auszuwürgen.
So wie gestern brannte die Sonne bereits jetzt am Morgen schon heiß und ihr Rund am Himmel sandte Stacheln aus, die in mich eindrangen wie Bajonette in weiches Lendenfleisch. Ich schien zu schweben, aber nicht weit über mir, sondern nur ein wenig meinem Selbst entrückt, ein Schlafender. Ohne Bodenkontakt sah ich mich nackt daliegen, hatte die Handinnenflächen unter dem Hinterkopf verschränkt, war wehrlos ergeben der Zukunft. Doch die Zeit selbst war zerflossen wie ein Camembert, der beim Picknick am Strand vergessen wurde und über den Rand seiner Welt hinaus floss und nun ins Nichts unrettbar hinunter tropfen wird. Zäh und klebrig lag sie formlos vor mir, niemand kann sie erklären, diese Zeit, die es gar nicht geben kann.
Das Vergangene gibt es nicht mehr. Alles, was ich in jedem einzelnen Augenblick meinte zu leben, ist vorüber. Dürfen wir der Erinnerung trauen, dass es dieses Leben wahrhaftig gab? Wer kann sicher sagen, dass diese Erinnerung nicht bloß Träume sind, die wir für vergangene Wirklichkeit halten? Ich konnte im Augenblick des Wachseins nicht gewiss sein, dass ich lebte und nicht etwa träumte. Selbst meine Gegenwart, mein jetziges Leben, ist unendlich kurz. Sie ist eingequetscht zwischen dem Nichts der Vergangenheit und einem anderen herandrängenden Nichts, das nicht da ist, weil es noch gar nicht existiert. Somit bleibt für mein momentanes Leben kein Raum übrig. Und was kommen soll, will ich mir nicht vorstellen. Auch das Zukünftige existiert nicht, denn wäre es bereits real, so könnte es keine Zukunft mehr sein. Nur Narren hoffen auf ein Morgen und erwarten es mit einem Lachen, das die Gesichtszüge aufs Widerlichste entstellt und die Zähne freilegt, die zum Essen bestimmt wurden, zum Zerkleinern der Nahrung, die unser Körper braucht. Solche Dummköpfe zeigen einer kommenden Zeit die Zähne, die aber doch nur in Ihrer Hoffnung existiert. So ist es doch klar, dass die gesamte Vorstellung der Zeit selbst nur eine Illusion ist, da die drei Stücke, aus denen sie angeblich bestehen soll, selbst nur irreale Gespinste sind.
Doch war das dann für ein Gefühl, dieses Pochen und Klopfen und Ticken, das ein Nacheinander hatte? Irgendetwas war für mich da, entweder konkret oder abstrakt, und diese unfassbare Zeit war meine, denn ich hatte wahrgenommen, wie sie langsamer geworden war und nun vollends hielt. Und auch von diesem Gedanken wusste ich, dass er unvernünftig war und bewies, dass es Zeit gar nicht geben konnte. Davon zu sprechen, es gäbe eine fließende Zeit, wäre nur vernünftig, wenn man auch eine stehende Zeit zuließe, denn wer wüsste sonst, dass es eine fließende Zeit geben sollte. Eine stehende Zeit wäre aber vollends wahnsinnig, denn wie lange sollte sie stehen? In einer stehenden Zeit fließt und vergeht ja eben nichts, also existiert auch nichts, das diese stehende Zeit begrenzt. Deswegen kann es auch keine fließende Zeit geben. Alle Zeit ist Traumbild. Ist Bewegung ohne Zeit wirklich? Gibt es mein Leben?
In diesem Zustand war mir, als ob ich träumen könnte, einen endlosen, visionengleichen Traum von der Heimat im freundlichen Sommer, der seine Tage mit jener verheißungsvollen Kühle im Schatten der Bäume beginnt, die sich im Tau auf dem Gras niederschlägt, mit dem glitzernden Versprechen sich in zarten Dunst aufzulösen, damit der Rasen gemäht werden kann und sein Duft sich mit dem des saftigen Pflaumenkuchen mischt – aufgetragen auf dem Terrassentisch, neben dem der Grill auf den Abend wartet, auf das Zischen bratender Würstchen und darauf, gemeinsam mit des Nachbarn Gitarre zu lachen und zu singen bis die Sonne die Wolken rot einfärbt, untergeht und die Hauswand im Rücken ihre Wärme sanft abstrahlt, bis schließlich die Teelichter verlöschen und alle sich eine gute Nacht wünschen, darin ganz gewiss, den neuen Tag geborgen in der Heimat wieder neu mit Leben zu füllen.
Es war das letzte Mal, dass ich dachte, so träumen zu können, denn als die Spirale, deren Anfang sich im Allerkleinsten verliert und deren Ende noch das Größte umfasst, sich langsam wieder um sich selbst zu drehen begann, fühlte ich, dass ich nur ein Punkt im endlosen Nichts zwischen den gekrümmten Linien der Zeit war, gleichzeitig gefangen und getrieben von ihrem Drehen, ihrem Vergehen. Immer schneller kreist sie. Sie beginnt zu summen, zu flirren als hätte sie Flügel wie ein Insekt. Wespengleich dreht sie sich rund um ein Rund, um eine Kugel, eine rote Kugel, die sie stechen will, um ihr Gift einzuspritzen unter die Haut bis zu den Kernen. Sie kommt näher. Das Sirren wird lauter. Die Luft verändert sich, steht nicht mehr still. Ich spürte ihre Bewegung auf dem Schweiß meiner Kehle. Doch all das war die Bahn, deren Bremsen ein summendes Geräusch erzeugte und die noch im Halten die Hitze vor sich hergeschoben hatte.
Mit einem Ruck glitten die Doppeltüren auf, noch bevor ich den Türöffner drückte. Ich stieg vorne ein, direkt hinter der Fahrerkabine, die sich mit einer Milchglastür vom Fahrgastraum abschottete. Als mein rechter Fuß den leichten Schritt nach oben fand und die Muskeln mein Gewicht verlagerten, fiel mir ein leichtes Schwanken auf, als ob der Zug ein Schiff sei, das in einem Meer voll schleimigen Öls schwimmt und das mein Stören mit Abscheu erwiderte und mich loszuwerden versuchte. Ich ignorierte den Fahrkartenautomaten und im Hinsetzen in die vorderste Bank nahm ich wahr, dass die Bahn leer war. Niemand war mit mir eingestiegen, niemand war bei mir, nur die Leere und eine alte Frau im Sitz hinter mir. Mein Blick hatte sie bloß flüchtig gestreift und so hatte ich nur eine Ahnung ihrer ungepflegten Erscheinung erfasst, ihren seltsamen karierten Rock aus dicker Wolle und eine Daunenjacke. Merkwürdig, dass alte Leute sich auch in hochsommerlicher Hitze kleiden, als ob eisiger Winter wäre.
Der Sitz sah gepolstert aus, doch die schreienden Muster seines Stoffes, violett, grün und dunkelblau gefärbt wie ein Bluterguss und der Ruck der anfahrenden Bahn in dem Moment, als ich beinahe saß, schickten mir einen harten Stoß den Rücken hinauf. Er nahm in meinem Kopf sein Ende und ließ mich die Augen einen Moment schließen. Im Dunkel, rot gefärbt durch das Licht, das durch meine Lider auf die Netzhaut fiel, brannte der Umriss der Frau hinter mir in meinem Gehirn zunächst nur als heller, roter Fleck, den ich nicht erkannte, doch dann erschienen die Details ihres Gesichts. Schlaffe Haut, als ob sie viel zu groß geraten sei, um ihren Schädel zu umfassen; die große nach links geneigte Nase mit den ungleichen Nasenflügeln, deren rechter eine Warze brauchte, um ihn mit der Wange zu verbinden; sechs stachelgleiche, schwarze Haare, die aus einem Leberfleck an ihrem Kinn hervorstießen - sie wirkten wie Nadeln, die ein unartiges Kind nur zum bösen Scherz in ein Sofakissen steckt; die kleinen Augen, in viel zu großen, dunklen Höhlen; die lang gewachsenen Ohren, an denen ich ihr Alter eindeutig erkennen mochte, und die mich erinnerten an einen Bericht über kannibalische Urwaldvölker, die solche Ohren zum Schmuck und zum Beweis ihrer Schmerzbereitschaft durchbohren mit hölzernen Splittern. Das sonderbarste an ihrem Gesicht war jedoch ihr Mund, der einen gewaltigen Kontrast zur gesamten Hässlichkeit seiner Umgebung schuf. Er war vollendet geformt: gleichmäßig, doch nicht langweilend; voll, aber nicht aufdringlich oder gar zu groß; sinnlich verlangend, jedoch nicht prostituiert und seine gesunde Röte war natürlich und glänzte, wirkte dennoch nicht lackiert, so dass mich dieser Mund beinahe erregte.
Ich suchte Ablenkung und fand sie, indem mir bewusst wurde, dass die Bahn bis auf die Alte und mich leer war. Ich hatte beim Einsteigen nur die Anonymität mitgenommen – wo mochten wohl die anderen Wartenden eingestiegen sein? Es fuhr doch nur diese eine Linie von der Haltestelle los. Sie konnten nur auf diese Bahn gewartet haben. Sie alle hatten mich alleine gelassen. Hohe Häuserwände links und rechts rauschten vorbei, so als ob sie sich bewegten und nicht etwa wir, die wir unbedeutende Kiesel für sie waren, die sie in der Schlucht zwischen sich durch schleiften, mit dem festen Willen, sie zu zermalmen und zu zermahlen. Ich wurde also in das nächste Stadtviertel gezogen, das ein heruntergekommenes war. Die Häuser rückten näher zur Straße und ihre Seelen blickten bösartig durch zertrümmerte Fensterscheiben, deren Scherben noch in den Rahmen steckten und scharfkantige, spitze Zähne bildeten. An einem dieser Zähne erblickte ich einen Tropfen Blut, grellrot und frisch. Die Vorstellung, dass ein kleines Mädchen seinen fröhlich tänzelnden Luftballon nicht festgehalten hatte und der Wind ihn fortgenommen hatte, bis er in das schiefe Maul getragen und dort zerstochen worden war, zeigte mir Tränen. Es gab keinen Trost über den Verlust der heiteren Freude. So gerne hätte die Kleine diesen Ballon an seinem Bettpfosten festgebunden, als neuen Beschützer für die dunkle Nacht.
In diesem Moment vernahm ich deutlich ein leises Schmatzen hinter mir. Es erinnerte mich an einen Reim aus meiner Kindheit. Eine Familie geht voller Mut auf Bärenjagd und muss durch einen Sumpf waten, sie kann nicht dran vorbei, muss mitten hindurch. Als sie schließlich den Bären findet, ist alle Zuversicht verloren und von da an sind die Jäger die gehetzten, die nur mit Mühe das rettende zu Hause erreichen können, das Untier drohend vor der Tür. Es war hinter ihnen hergekommen, auch durch den Sumpf. In dem Vers wird von den Menschenfüßen erzählt, die der Morast packt und die er nur mit einem nassen Geräusch wieder loslässt. Dieses saugende Schnalzen war nun nicht weit von meinem Nacken entfernt. Hinter mir war nur die alte Frau, nur ihr Mund konnte dieses Geräusch hervorbringen.
Zuerst drehte ich mich nicht um, weil es mir unhöflich erschien. Wenn die Alte ein Gebiss hatte, das ihr wackelig und vermutlich auch schmerzend im Mund saß, wollte ich ihr nicht noch einen peinigenden Blick zuwerfen, nur weil sie sich durch ihr Schmatzen Erleichterung zu verschaffen suchte. Doch nach und nach zweifelte ich daran, dass dies der wahre Grund für mein Zögern war. Vielleicht wollte ich es auch einfach nicht sehen, was da hinter mir passierte.
Ich dachte an diesen hinreißenden Mund, der mich vor Augenblicken noch fast körperlich hatte reagieren lassen und wollte nicht weiterdenken, was wohl hinter diesem schönen Spalt sich zeigen mochte, wenn er sich öffnete. Ich wollte meinem Hirn befehlen, anzuhalten, zu verweilen bei diesen Lippen, die dann aber doch auseinanderklafften und in Gedanken sah ich einen roten Schlund, nass und heiß, darin eine blau geäderte, raue Zunge. Ich vermochte es nicht, mir ihre Zähne vorzustellen. Doch dieser Abscheu in meinen Gedanken konnte nicht tatsächlich hinter solch einem überwältigend schönen Tor hausen, wie es diese Lippen waren, die einluden, näher zu kommen, ganz nah heran, mit der Bitte, sich in ihnen zu versenken. Solch ein Schreckbild durfte nicht dahinter wohnen, ich verbat mir diesen Gedankenspuk mit aller Kraft. Dies kostete mich so viel Anstrengung, dass es mir nicht möglich war, mich einfach umzudrehen und mich mit einem Blick zu vergewissern, dass die Alte zwar ein ungewöhnlich hässliches Gesicht hatte, dass aber dieser Mund es doch schon vermochte, andere Betrachter etwas besser von ihr denken zu lassen, als mich. Mir jedoch verschaffte eben dieser Kontrast ein Unbehagen, das mich abstieß und unruhig werden ließ. Ich sah, wie ich meine Beine nicht still halten konnte. Die Albernheit, in einer ansonsten völlig leeren Bahn den Sitzplatz zu wechseln, verbot ich mir jedoch.
In meinem Kopf pulsiert eine wilde Musik, eine Melodie, die rauscht und pocht wie rasendes Blut in heißen Adern. Sie singt von grässlichen Geschehnissen hinter mir, von Menschenfraß und blutrünstigem Tanz zu einer orchestralen Musik, die ihr geordnetes Nacheinander der Instrumente, die sich zunächst einzeln und dann nach Gruppen vorgestellt hatten, aufgegeben hat. Nun erheben sich diese Instrumente zu einem einzigen Körper, der die erjagte Beute mit Lust auseinander reißt. Flöten, Klarinetten und Oboen vereinigt mit exotischen Blasinstrumenten, deren Namen und Alter weit vor jeder Vorstellung liegt, hacken ein kleines Staccato, um die oberen und die tiefen Hautschichten zu öffnen und mit Widerhaken in kleinen Fetzen wegzureißen. Sie werden unterstützt von Saiten, die in scharfen Schnitten in gegenläufiger Richtung die Körpersäfte des Opfers aus geschlitzten Adern und Bahnen herausspritzen lassen. Darüber machen sich Blasinstrumente aus blendendem Blech ans Werk, die mit groß gespannten Kräften quetschen, würgen und drehen. Darunter bricht Schlagzeug alle Knochen, die es finden kann. Trommelnd zertrümmern die Pauken die einstmals geraden Röhrenknochen; Schellen und Holzschlegel finden auch die kleinsten Knochen, die zu spitzen Splittern werden und jeden Nerv im Gewebe durchtrennen und aufspießen. Doch am grässlichsten tönen leidende Schalmeien durch diese Gewalt, sie schreien das Leiden der Beute heraus, die weder ohnmächtig werden, noch sterben kann, sondern den Schmerz und die Qual bei lebendigem Geiste hilflos erleben muss.
Ich konnte mir sicher sein, dass ich diesen grässlichen Lärm nicht träumte, so sehr fühlte ich den Schmerz, den er mir zufügte. Und so schlich sich der Gedanke in mein Hirn, dass es nicht Höflichkeit war oder konventionelle Peinlichkeit, warum ich mich nicht endlich umdrehte. Meine Nackenmuskeln wurden so unbeweglich wie trockenes Fleisch, das zu lange auf einem zu heißen Grill gebraten wurde. Ich hatte panische Angst, die ich riechen konnte. Sie strömte mir aus den Poren und glich dem Gestank von Erbrochenem in der Sommerhitze, dem man nicht ausweichen kann, wenn man um die nächste Häuserecke biegt und der sich über der trocknenden Lache erhebt.
Die Luft hatte sich mit diesem Gestank verändert. Sie war kalt geworden, doch die Kühle war nicht erfrischend wie die eines Gewitters im Sommer, das die Schwüle vertreibt, sondern die einer nassen Waschküche im Winter, in die man frierend von draußen herein kommt, um sich klamme, schneeverkrustete Kleidung auszuziehen. Es war die Kälte von Eiswasser, das einen Ertrinkenden in die Lunge sticht und ihn erstickt.
Durch die Mühe meines Atmens und den Lärm meiner Gedanken drangen nun von hinten ein unheimliches Knurren, ein Reißen von Fleisch und das Splittern von Knochen. Was war das für ein Fleisch, das hier zerrissen wurde? Warum brüllte der Schmerz in meinem Hirn so laut, dass ich nicht mehr hören konnte, ob ich nicht tatsächlich schrie in meinen Qualen? Es war das Fleisch meines Verstandes, das die Alte in ihren Zähnen zerfetzte. Und jetzt sah ich auch diese Zähne deutlich vor mir, die mir meine Gedanken bislang verweigert hatten, zu zeigen.
Sie waren eben, gleichmäßig und elfenbeinweiß. Wie Perlen an einer Schnur aufgereiht saßen sie perfekt in ihrem Mund, der dadurch unbeschreiblich anziehend wurde und eine Sogkraft ausübte, der ich nicht widerstehen konnte. Es gab für mich nur eine Wahl: ich musste mich durch dieses Tor hindurch begeben, wollte es, musste in dem Raum, den ich finden würde, umhergehen, verweilen und dann staunend dort sterben.
Ohne eine weitere Wahrnehmung, ohne, dass ich wusste, wie es geschah, erreichten wir den Platz, an dem ich die Straßenbahn jeden Morgen wechseln musste. In meinem Körper steckte das Wissen der Gewohnheit, dass ich dort aussteigen wollte und so entfloh er der Barbarei die ich erlebt hatte, diesem Kannibalismus, der mich einer Höllenbrut gleich in Stücke zerfetzt hatte.
Ich stand da und blickte der Bahn nach. Dort drinnen fuhr das Grauen weiter. Mein Körper war zwar draußen, hinaus aus der Bahn, doch mein Verstand blieb drinnen. Er dient nun der Qual als Fraß und wird auf ewig von ihren Geifern zerrissen werden. Er schaute mich noch aus den blutbespritzten Fenstern an, brüllte mir einen Hilfeschrei ins Hirn, doch die Bahn zog ihn in sich fort, um die Kurve davon und ihre Räder knirschten ein höhnisches Lachen in den Schienen, als der Zug ihn endgültig aus mir herausriss und mit sich nahm.
Nun wird die Sonne bald wieder untergehen. Ich sitze auf meinem Bett in der Gewissheit, dass ich dort nicht mehr den Schlaf, sondern seinen Bruder empfangen werde. Er wird dich in einen sicheren Port bringen, so hatte mir mein Verstand immer bewiesen. Nun ist nichts mehr da. Alles ist leer.