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Ein Werktag
Wie jeden gottverdammten Werktagmorgen meldete sich auch heute der Wecker meines Handys lächerlich gebieterisch zu Wort.
„Zeit aufzustehen, es ist sechs Uhr dreißig“, krächzte er wortwörtlich mit unendlich langgezogener, qualsüchtiger Betonung und wiederholte sich dabei noch unzählige Male.
Dieser elende Prinzipienreiter, eine Minute hin oder her!
Ich musste aufstehen, um diesen lästigen Störenfried zum Schweigen zu bringen, da ich ihn immer auf der Kommode am anderen Ende des Zimmers platzierte. Ihn direkt neben mir auf den Nachttisch zu legen, wäre zu gefährlich gewesen. Dass ich ihn ausschalten und womöglich verschlafen würde, stellte nicht die eigentliche Gefahr dar. Vielmehr bangte mir davor, dass ich diesem Schreihals in meiner müden Unzurechnungsfähigkeit aus Affekt an die Gurgel springen könnte, um seine triviale Existenz einfach auszulöschen.
Also trottete ich schläfrig und zornig zu dem Handy und rang mit meiner Wut, die während des Weges zum Schreibtisch zwar abzuebben pflegte, doch immer noch gefährlich genug war; ich ergriff also den Plagegeist, stopfte ihm sein freches Mundwerk und war schon fast wieder in mein Bettchen gekrochen, als mir – wie jeden Morgen – folgender Geistesblitz kam: Es wäre meiner Laune sicherlich vollkommen abträglich, wenn ich diese schrecklichen Qualen des Gewecktwerdens heute ein zweites Mal durchleben müsste.
So weit zu meiner Überlegung, die ich anstellte, während meine Beine mich schon ohne Aufforderung in das Wohnzimmer bis vor den großen Schrank trugen, meine Hände ganz eigenwillig einen kleinen Schlüssel hinter einem Hochzeitsphoto hervorfingerten und gerade im Begriff waren, das Schloss der Schublade zu öffnen, doch plötzlich – wie jeden Morgen – ruckartig wie von einer heißen Herdplatte zurückschnellten.
Auch dieses Vorhaben wäre meiner Laune alles andere als zuträglich.
Schnell schob ich den kleinen, bedeutsamen Schlüssel in meine linke Hosentasche und hielt für einen Moment inne. Aus der Dusche drang das muntere Plätschern des Wasserstrahls, der in diesen Momenten den Körper meiner Frau überrieselte. Dann blickte ich verlegen nach rechts zur Kinderzimmertür, die maßgebend dazu beitrug, dass meine kleinen Kinder zumindest noch für eine gesunde Weile in ihrer Unbefangenheit weiterleben dürften. Das musste ihr hoch angerechnet werden, dieser Tür.
Kurze Zeit später saßen wir am kärglich gedeckten Frühstückstisch, nagten an trockenen Brötchen und folgten apathisch den wahllosen Bildern, die der Fernsehapparat in den Raum warf. Ich spürte die Blicke meiner Frau, spürte selbst ihr wohlwollendes, aufmunterndes Lächeln, doch war nicht imstande irgendetwas zu erwidern. Ich liebte sie nicht.
Schon fand ich mich ganz unversehens im Treppenhaus wieder, musste mit ansehen wie mich meine widerspenstigen Beine träge, doch pflichtbewusst die Treppen hinunter zwangen und auf die Straße trieben, wo ich unverhofft von einem äußerst aufdringlichen Wind in Empfang genommen wurde.
Da drangen mir plötzlich vereinzelte Wortfetzen aus den Nachrichten, die ich in meinem morgendlichen Dämmerzustand halb unbewusst aufgefangen hatte, zu Bewusstsein. Starke Windböen sollten heute ihr Unwesen treiben und uns wurde ans Herz gelegt, Vorsicht walten zu lassen und nach Möglichkeit nicht allzu lange auf offener Straße zu verweilen.
Blöd, dass mir keine andere Wahl blieb. Um zur Arbeit zu gelangen, musste ich die zehnminütig entfernte U-Bahnstation erreichen. Ein Auto konnte ich mir nicht leisten.
Ich schlug mich also – oder besser – mein zäher Körper schlug sich also für mich durch den furiosen Windsturm, der sich mir kampflustig entgegenstemmte und mein Vorankommen lästig erschwerte. Nach einiger Zeit – ich hatte die Hälfte des Weges bereits hinter mir –, wurde aus dem wirbelnden Chaos der Böen so etwas wie ein Krähen an meine Ohren herangetragen und so hob sich mein zum Boden geneigter Blick, um den Verursacher ausfindig zu machen. Da sah ich meinen Kampfgenossen tapfer durch die Lüfte rudern, gegen den grässlichen Widerstand ankämpfend, mein elendes Schicksal teilend. Das war wahre Solidarität, dachte ich mir und lächelte das erste und einzige Mal an diesem räudigen Tage. Ich folgte dem Raben mit gierigen Blicken, doch dann, als ich sah, wie er sich plötzlich ergab, sich einfach mit fortreißen ließ, fast schon spielerisch, völlig unbekümmert mit dem Winde zog, da ließ ich schleunigst von ihm ab, empfand kurzzeitig sogar so etwas wie Verachtung für dieses Wesen…
Endlich hatte ich die U-Bahnstation erreicht. Ich musste zehn Minuten warten, da ich die U-Bahn verpasst hatte und so zündete ich mir selbstverständlich eine Zigarette an und sog den tödlichen Rauch gierig bis in die tiefsten Abgründe meiner Lunge. Damit atmete ich zum ersten Mal heute tief durch. Als ich so wartete, in der stummen Dumpfheit meines Genusses befangen, riss mich plötzlich ein widerlich raues Menschenkrähen aus meinem Dämmerzustand mit den Worten: „Etwas Kleingeld bitte.“
Unwillkürlich neigte ich den Kopf zur Seite und betrachtete dieses zerlumpte Geschöpf, das da würdelos in seiner pechschwarzen, dünnen Decke eingehüllt auf dem nackten Pflaster lungerte und mich mit einem flehenden Blick durchbohrte, der fast schon drohend wirkte.
„Etwas Kleingeld bitte“, krähte er nochmals, als hätte ich ihn nicht verstanden.
Fast wäre mir etwas absolut Abgeschmacktes hervorgeplatzt, doch die einfahrende U-Bahn kam mir zuvor und sprang mit einem abgöttischen Kreischen für dieses nichtsnutzige Jammerwesen in die Bresche.
Am Hauptbahnhof musste ich umsteigen und wurde von der riesigen Menschenmasse kompromisslos mitgerissen, sah, wie meine Beinchen in völliger Gehorsamkeit mit dem grässlichen Triebwerk der Gesellschaft einfach mitklapperten, während meine Gelenke an Beinen und Armen wie Scharniere ihren lächerlichen Zweck der Fortbewegung erfüllten, spürte, wie mein eingerasteter Kopf sich weder nach rechts noch nach links zu wenden wagte aus Angst, er könnte mit einem dieser Leidensgenossen notgedrungen in Augenkontakt geraten, spürte, wie sich meine Finger nervös zitternd in meiner Jackentasche mit ihren langen, schmutzigen Fingernägeln gegenseitig die Haut vom Leibe rissen und hörte, wie das Herz in meiner Brust flehend nach Erlösung rief.
Genau genommen sah, spürte und hörte ich nichts dergleichen. Dennoch geschah es.
An den Rolltreppen, die zum Bahnsteig der U2 führten, die mich zu meinem Arbeitsplatz brachte, hatte sich dieser grauenhafte Menschenfluss zu meinem Glück bereits verflüchtigt und beförderte mich auf erträglichere Art bis hin zum Bahnsteig…
Als ich den Eingang zu meinem Arbeitsplatz passierte, stand mein Chef schon strammbeinig, wach und eigentlich in voller Größe vor mir, türmte sich jedoch noch mehr auf, hob seinen rohen, knorrigen Zeigefinger mahnend in die Luft und dröhnte: „Guten Morgen Herr Schnarchnase! Schon mal auf die Uhr geschaut? Ab, jetzt! Kittel an und an die Kasse mit dir!“
Schweigend und selbstverständlich leistete ich diesem Befehl absoluten Gehorsam und fand mich unverzüglich an der Kasse ein … so begann mein Arbeitstag…
Mein Bewusstsein war wie ausgeschaltet, alles parierte wie ein Automat. Meine Hände huschten wie Spinnenarme mit den Waren, über den Laser, zu den Händen der Kunden, bis zur Kasse und wieder zurück; untertänig lasen meine Augen die einzelnen Beträge den Rechnern von den Lippen ab und sklavisch spuckte sie mein Mund wieder aus, hin und her; im ewigen Rhythmus transportierte das Fließband dieses und jenes, unwichtig was, Hauptsache etwas; gnadenlos und fortwährend, radikal und unerbittlich lief das Ganze ab und der einzige halbwegs vernünftige Gedanke, der mich in diesen Momenten der Folter durchzuckte, war die Frage, warum ich eigentlich noch bei Bewusstsein war und nicht durch einen Schwindelanfall von diesem viel zu realen Alptraum erlöst wurde…
Fast wäre ich tatsächlich zusammengebrochen, da hielt zu meiner Rettung das Fließband an. Es befanden sich keine weiteren Kunden an der Kasse.
Ich atmete auf und wischte mit dem weißen Ärmel meines Kittels die zahlreichen Schweißperlen von der Stirn. Dann glitt meine Hand wie mechanisch zu meiner linken Hosentasche hinunter. Hingabevoll ernestelte sie den kleinen, rettenden Schlüssel. Kurz, nur für wenige, selige Sekunden, sank ich mit meinen Gedanken in mein wohliges Wohnzimmersofa und …
Da riss mich ein neuer skrupelloser Kunde aus meiner Ekstase. Dann kroch der zweite direkt hinter ihm hervor, wie aus dem Nichts, dann der dritte und so nahm dieser Wahnwitz wieder seinen Lauf, ein Parasit nach dem anderen eilte herbei, sie jagten sich praktisch gegenseitig zur Kasse, häuften sich und wurden zur Schlange, die mir bedrohlich zuzischte, dass ich zu funktionieren hatte. Fröhliche Menschen und wütende, lästige und erträgliche, schöne und hässliche, alte und junge, schlaue und vollkommen verblödete, alles, was da kreucht und fleucht, kam an meine Kasse, um sich von mir bedienen zu lassen … wer war ich denn?
Endlich hatte ich es überstanden, war tatsächlich noch am Leben und befand mich auf direktem Wege nach Hause, zwar völlig erschöpft, doch am Leben. Die U-Bahn, in der ich mich jetzt befand, verließ den Tunnel und tauchte in die schleierhafte Dunkelheit, die sich bereits gänzlich über meine Heimatstadt ergossen hatte. Zerstreut und matt blickte ich durch das U-Bahnfenster – wir fuhren gerade über eine Brücke –, da sah ich, wie am fernen Ende einer Straße farbenfrohe, vertraute Lichter verführerisch aufblitzten und mir gönnerhaft zuriefen: „Hier bist du König.“
Da ließ ich mich – keiner kann es mir verübeln! – an der nächsten Haltestellte einfach mitreißen, mich aus dem Waggon zerren, die Bahnsteigtreppen hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf, ließ mich von diesem unentrinnbaren Sog die ganze düstere Straße bis zu deren bitteren Ende verschleppen, wo ich unter ungeheuerem Herzrasen das Casino betrat.
Schon saß ich an meinem Automaten, warf vorerst einzelne Münzen, sogleich jedoch ganze Scheine in das hungrige Maul dieses hoffnungsvollen Gönners, drückte hier zehn Knöpfe und dort zwanzig, bildete mir ein, ein System erkannt zu haben, gewann tatsächlich, zählte aussichtslos erregt meinen Gewinn, wollte jauchzen und jubeln, meine Frau anrufen, ließ es lieber sein, fütterte stattdessen diesen heißgeliebten Nimmersatt weiter, gewann mehr, ja tatsächlich, ich gewann Unmengen an Knete! Wollte mehr! Nannte ihn bald Freund, bald Wohltäter, bald Liebling, bald Gott, liebte seine betörenden Melodien, seine feierlichen Lichtertänze, liebte dieses Geschöpf in seiner makellosen Ganzheit und wurde schließlich eins mit diesem maschinellen Gott, wollte ihm alles geben, was ich besaß, alles zurückgeben, was er mir geschenkt hatte und so ließ ich einen verdammten Schein nach dem anderen, alle räudigen Münzen der Reihe nach in seinem unersättlichen, abgründigen Schlund verschwinden bis nicht mehr eine einzige davon übrig blieb …
Verzweifelt stürzte ich aus diesem Teufelskessel hinaus in die kühle Nacht, hechelte die Straße zurück zur U-Bahnstation und paffte wie ein Irrsinniger an meiner Zigarette …
Elendig keuchend saß ich in der U-Bahn. Mahnend trommelte mein Herz in meiner Brust. Schweißrinnsale liefen unangenehm kitzelnd die Stirn herab. Mit dem Ärmel meines Anoraks gebot ich ihrem Fluss ein Ende. Erschöpft glitt meine Hand meinen bebenden Körper entlang bis zu meiner Hosentasche, wo ich zu meinem Seelenheil den mir alles bedeutenden Schlüssel, meinen rettenden, geliebten Schlüssel gewahrte …
Leise und stürmisch betrat ich meine Wohnung und schlich unauffällig durch die enge Diele in das Wohnzimmer. Meine Frau war nicht da, meine Kinder schienen schon zu schlafen. Zitternd vor Freude zog ich den kleinen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete das Schloss der kleinen Schrankschublade, in welcher das beruhigende Schicksal meines restlichen Abends still und selig ruhte. Schnell nahm ich alle benötigten Utensilien aus der Schublade mitsamt einer kleinen Tüte des Eigenbedarfs heraus, saß mich an den Wohnzimmertisch und vollzog den Bauakt.
Drei Minuten später stand ich in völliger Seelenruhe auf dem Balkon und zog den süßen, dichten Rauch tiefer in die Lunge als je zuvor, blickte träumerisch über die kahle, leblose Straße hinweg und empfand so etwas wie Glück darüber, diesen Tag überstanden zu haben.
Da öffnete sich die Balkontüre und heraus trat meine Frau, näherte sich langsam und legte zärtlich ihre Hand an meine Schultern.
„Na, wie war dein Tag?“
„Wie immer.“
„Ich weiß Schatz, du bist müde es zu hören, aber glaubst du nicht, dass es besser wäre…“
„Nein … aussichtslos.“
„Aber du weißt doch, dass es …“
Mit einer schlichten, abweisenden Handbewegung bereitete ich diesem Bruchstück von einem Gespräch ein abruptes Ende. So schwieg sie für sich und ich für mich und das einzige Geräusch, das dieses ohrenbetäubende Schweigen durchbrach, war das berauschende Knistern meines geliebten Joints. Was meine Frau da von mir verlangte, war völlig absurd. Sie wollte, dass ich Widerstand gegen etwas leistete, was mir Halt gab. Sie wusste nicht, dass der Widerstand gegen die Sucht, Widerstand gegen meine ganze Welt bedeutete.
Den Großteil des Abends verbrachten wir zwar gemeinsam, doch wortkarg und lustlos vor dem Flimmerkasten. Meine Frau begab sich nach einiger Zeit ins Bett, da die Müdigkeit sie immer schnell zu überfallen pflegte. Ich jedoch blieb wach, verharrte lange Zeit auf dem Sofa und glaubte, dass wir miteinander verschmolzen wären, als sich langsam wieder die Nervosität in mir merklich machte. Ein Blick auf die Uhr, eine kurze Prozedur und schon stand ich wieder qualmend und versunken in der rabenschwarzen Nacht …
Schließlich, als die Müdigkeit auch mich gnadenlos bemeisterte, vollzog ich mein Abendprogramm mit minimalem Aufwand und kroch in mein unheimlich weiches und verschlingendes Bett.
Der Schlaf wird kurz sein, dachte ich, möchte er für immer währen.
Es war kurz vor Vier, als ich den Wecker stellte, die Augen schloss und damit die Ereignisse, die sich an diesem Montag abspielten, für immer vergaß.