Ein Weihnachtsbesuch
Langsam ging er durch die weihnachtlich geschmückten Straßen. Obwohl es schon spät am Abend war, hatten die Geschäfte noch offen, präsentierten ihr weihnachtliches Angebot und viele Menschen waren noch auf den Gassen um am letzten Vorweihnachtstag die letzten Geschenke zu kaufen. Von irgendwo her, vielleicht aus einem der Häuser, deren Fenster meist bunt beschmückt waren, klang fröhliche Weihnachtsmusik in die abendliche Stadtatmosphäre. Schneeflocken wirbelten durch die Luft, wirbelten auf den Boden und blieben dort wie schlafende Schafe liegen. Kinder pressten ihre roten Nasen gegen die Auslagen der Spielwarengeschäfte, die diese mit buntem Spielzeug lockten. Doch an diesen Tag hatte eine ganz andere Berufsgruppe Hochkonjunktur, und zwar diejenige, die ihr Geld mit Bitten und Betteln verdienten, und somit an das weihnachtliche Gebot der Nächstenliebe, das wenigstens in der Adventszeit bei manchen Menschen auf Gehör stieß, plädierte. Liebespaare schlenderten händchenhaltend durch die Gassen, hielten Ausschau nach jeden Mistelzweig, um sich darunter zu stellen, um sich danach, so wie es der alte Brauch verlangte, sich mit wärmenden Küssen zu verwöhnen. Wohl mögen viele sagen, dass dies Szenario leicht kitschig anmutet und nur aus der Feder eines unverbesserlichen Romantikers kommen würde. Vielleicht haben jene kritischen Leser ein gutes Auge für schlechte Lektüren; oder sie gehen wie die meisten von uns mit geschlossenen Augen durch die Welt.
Henri war auf dem Weg zu seiner Frau. Schon seit einigen Jahren wohnten sie getrennt und Henri war es leid allein zu sein, besonders in der Weihnachtszeit, war er doch das ganze Jahr über nur mit sich.
"Komm schon, jetzt mach schon", hörte Henri jemanden neben sich raunzen. Er sah in die Richtung des Raunzens und sah eine Mutter mit ihrem Kind. Henri konnte nicht urteilen, ob das Kind ein Mädchen oder ein Bub war, da der neutrale Parka des Kindes jegliches Geschlecht verschwieg.
"Komm jetzt, bitte", erklang das Jammern wieder, doch es kam nicht, wie Henri es erwartet hatte, aus dem Munde des Kindes, sondern aus dem der jungen Mutter, die das Kind an der Hand von der Geschäftsvitrine wegzog. Doch das Kind, stur wie Kinder das eben sind, presste seine Nase weiter auf das Glas, das unter dem Kinderatem beschlug. Doch die Mutter, selbst stur, da kaum aus den Kinderschuhen entwachsen, zog an dem kurzen Armelchen des Parkas.
Wieder bettelte sie ihr kindliches Jammern, doch dann bemerkte sie, wie Henri sie beobachtete, wurde für einen kurzen Moment rot und flüsterte dem Kind etwas zu. Das Kind, wurde blass, ließ von der Scheibe ab und ging folgsam mit der Mutter mir. Was die Frau ihrem Kind gesagt hat, ob sie ihm mit dem Vater oder mit dem Christkind gedroht hatte, vermögen nur die beiden zu sagen. Auch er hat Kinder, drei sogar, zwei Buben und ein Mädchen, also eigentlich zwei Männer und eine Frau. Sie hatten Karriere gemacht und waren schon lange nicht mehr hier, in der Stadt, wo sie aufgewachsen waren, in der Emma und er sie großgezogen hatten. Seine Tochter hatte sogar schon eine eigene Tochter. Wie die Zeit läuft. Er hatte sie schon lange nicht mehr gesehen, aber es war nicht so, dass sie ihn und seine Frau vergessen hatten, er hatte erst gestern Post von den dreien bekommen. Drei Weihnachtskarten mit lieben Grüßen und frohen Wünschen. Angerufen haben sie nicht. Aber das war ja mehr als verständlich. Sie alle hatten so viel zu tun mit ihrer Arbeit und ihren eigenen Leben. Da konnten sie nicht auch noch in ihrer wenigen Freizeit an ihren Vater denken. Verständlich.
Henri ging weiter, kaum bemerkt, dass er stehengeblieben war. Er ging vorbei an geschmückten Vitrinen, behangenen Fenster und einem riesigen Christbaum der mitten auf der Straße von der Firma "Clarsen & Breute" aufgestellt worden war. Riesengroß und bunt behangen stand er da und ließ sich bewundern. Der Baum erinnerte ihn ein wenig an seine Frau Emma. Wie die Tanne hatte auch Emma jeder bewundert, und Henri war immer so stolz gewesen, wenn er mit ihr essen gegangen war und die Männer Henri neidisch hinterhergesehen hatten. Er hatte sie immer geliebt und er liebte sie immer noch, auch wenn sie nicht mehr zusammen wohnten. Diese Liebe war ewig.
Zwei Bettler standen vor dem Christbaum. Obwohl es schon finster war hatten sie Sonnenbrillen auf, was darauf schließen lässt, dass für sie auch der Tag finster war und sie in wohl ewiger Dunkelheit feiern würden. Das bestätigte die Karte, die die beiden in der Hand hielten. Dort stand in gebrochenem Deutsch, dass die beiden blind und aus Rumänien wären. Zwei junge Männer kamen Henri entgegen auch die beiden sahen die Blinden.
"Was glaubst, wenn das Geschäft schlecht ist, sind sie dann morgen Gehörlose aus Frankreich?", sagte der eine zum anderen und die beiden lachten. Man konnte gut erkennen, dass die beiden vor kurzen ihre Leiber mit heißen Punsch aufgewärmt hatten. Sie lachten herzhaft über den Witz. Dann sah der Spaßvogel Henri und wurde still, zog seinen Kragen höher und ging rascher. Sein Freund der noch immer schmunzelte folgte ihm. Henri warf etwas Geld aus seiner Jacke in den schäbigen Hut, der vor den zwei Blinden lag. Als das Geräusch fallenden Geldes laut wurde, verzog sich der Mund des rechten Rumänen zu einem dankbaren Lächeln.
Henri ging wieder weiter und dachte wieder an Emma. Wie sie nur immer gelächelt hatte. Dann hatte man ihre schönen, weißen Zähne sehen können. Sie hat oft und gern gelächelt, aber es hatte auch Zeiten gegeben, da hatte sie gar nicht gelächelt, nicht ´mal geschmunzelt. Es hatte auch Zeiten gegeben, in denen sie öfter geweint hatte als gelächelt. Aber die gibt es wohl immer.
Henri bog jetzt in eine Seitengasse ein und somit weg von der Hauptstraße mit den großen Mietshäusern, zu den kleineren Einfamilienhäusern mit den Gärten. So etwas hatte sich Henri immer für sich und seine Familie, besonders für die Kinder gewünscht. So wie es einen Garten gehabt hatte als er klein gewesen war. Doch da war sowieso alles anders gewesen. Zu seiner Zeit hatte es noch nicht so viele Geschäfte gegeben und so viele Dinge die man tun müsse und so wenig Zeit, die man nicht hatte. Alles war anders gewesen.
Die Straßen wurden jetzt immer dunkler, da immer weniger Laternen ihr Licht aussandten um die Reisenden der Nacht auf den richtigen Weg zu führen. Seine Frau wohnte sehr weit draußen am Stadtrand, mit vielen anderen Menschen und es war immer sehr beschwerlich gewesen sie zu besuchen, doch es hatte sich immer gelohnt.
Zwei Personen kamen ihm entgegen und an den Händen die einander hielten konnte er erkennen, dass es sich um ein Liebespaar handelte. Der Mann, ach der Mann war ihm so egal, die Frau, nein das Mädchen, wie er jetzt sah, war viel interessanter. Für einen kurzen Augenblick dachte er, er sei, indem er aus der Stadt gegangen war auch gleichzeitig in eine andere Zeit gegangen, in eine frühere Zeit, in der seine Kinder noch klein und bei ihm und seine Frau noch jung und glücklich war. Doch dem war nicht so. Es war eine Fremde, doch sie sah Emma zum verwechselnd ähnlich. In dem Moment in welchen sie aneinander vorbei gingen sahen sie sich kurz in die Augen. Der Mann beachtete in gar nicht, das Mädchen sah ihn und lächelte. Sein Herz schlug höher und seine Augen mussten geglänzt, nein, geleuchtet haben, denn das Mädchen lächelte nun breiter. Dann waren sie an einander vorbei gegangen. Henri beschleunigte seinen Schritt, ging schneller und schneller, so freute er sich schon seine Frau endlich in den Armen zu halten. Mittlerweile schneite es stärker und war nun ganz finster geworden. Er sah die Hand kaum vor Augen, spürte nur den Schnee, der sein glühendes Gesicht kühlte. Das sah er ein Licht, es war das Licht vor Emmas Wohnung. Nun war er da.
Henri öffnete die schwere, eiserne Eingangstür. Nun war es nicht mehr weit. Er ging an den anderen Wohnungen vorbei und dann war er da. Emma hatte schon geschlafen, aber als sie ihn hörte wachte sie auf. Sie begrüßten sich mit einer Umarmung einen Kuss. Sie wünschten sich frohe Weihnachten und berichteten sich, was sie seit dem letzten Besuch gemacht hatten. Sie unterhielten sich lange und intensiv, wie in alten Zeiten, als sie noch zusammen gewohnt hatten.
Es wurde schon hell als sie sich endlich verabschiedeten. Henri versprach ihr wiederzukommen, wenn sie dann nicht sowieso wieder zusammen wohnen würden. Er ging den Weg, vorbei an den anderen Wohnungen wieder zurück und als er die eiserne Tür hinter sich blickte er noch einmal zurück, sah das Schild, das von der Laterne über der Tür beleuchtet wurde und begann zu weinen, war es doch bitter, zu erkennen wie es ist. Seine Tränen versiegten erst lange nachdem er wieder zu Hause war.
Auf dem Schild ist gestanden
Klensstätter Friedhof
Denkgasse 2
1890 - 1891