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Ein weißer Rabe
Kühl trifft die feuchte Luft Stirn und Wangen und lässt ihn erschauern. Er spürt in dieser Kühle schon ein wenig von der beißenden Schärfe des Frostes. Der fallende Nebel macht den Morgen dämmrig. Kein Wind bewegt die Schwaden und die Blätter, die braun sind und nur noch lose an den Astspitzen hängen. Ein Rest von Wärme beginnt die Nebelbänke sachte anzuheben, doch die Kälte der Nacht ist noch nicht verschwunden und drückt sie wieder zu Boden. In langsamen, kaum sichtbaren Bewegungen steigt und fällt der Nebel. Der scharfe krächzende Ruf eines Fasans zerreißt die Stille des Morgens. Es riecht nach Erde, feuchter Erde und dem Holzrauch aus dem Kamin.
Seine Schritte knirschen im Kies und der Riegel der Schuppentür klopft leise und hölzern gegen das Türblatt, als er sie öffnet. Er schiebt das Rad heraus. Beim Aufsteigen klappern die Schutzbleche und kratzend streift das Pedal den Kettenschutz.
Der Nebel dämpft alle Geräusche, er macht sie kurz und stumpf. Sie tragen nicht weiter als Lasse schauen kann.
Er rollt vom Hof auf die Straße, tritt mit Nachdruck in die Pedale und spürt den Fahrtwind im Gesicht. Die letzten Reste von schläfriger Benommenheit weichen. Während der Siebenjährige die lange, schmale Straße zwischen den Wiesen entlangfährt, schaut er auf die verschiedenen Gräser, die an den Rändern bereits beginnen, den Asphalt zu überwuchern. Die grünen kleinen Ähren, die sich wegen der Schwere ihre Spitzen in einem gefälligen Bogen neigen. Die gelben Grasblüten, deren büschelige Enden durch den fast ständig wehenden Westwind zu einer Seite abstehen, wie bei einer wehenden Fuchsrute. Am besten gefallen ihm die Gräser, die ihre winzigen dunklen Blüten an den Enden weit gespreizter zarter Rispen tragen. Sie fangen die neblige Feuchtigkeit ein und sammeln sie in einzelnen funkelnden Wassertropfen dort, wo sich ihre Ästchen in einer Gabelung vereinigen. Er weiß, das sind die Feenkristalle, Großmutter hat es ihm erzählt, als er noch ganz klein war.
Lasse bewegt sich mühelos, sein Körper schaukelt rhythmisch im Takt seiner tretenden Füße.
Für das Kind ist es ein weiter Weg bis ins Dorf. Aber Lasse macht das nichts aus. Seit einem Jahr ist er schon in der Schule. Er ist es gewöhnt, jeden Morgen allein durch die Wiesen zu fahren. Manchmal denkt er daran, dass er mit seinem Bruder fahren würde, wenn dieser noch lebte. Lasse vermisst Malte jeden Tag, aber seine tiefste Sehnsucht gilt der Mutter, ihren weichen Armen, ihrem Lachen, ihrer Stimme. Lasse sehnt sich so sehr, dass er manchmal stundenlang in seinem Versteck sitzt und keine Kraft hat, zu spielen oder dem Vater zu helfen oder auch nur aufzustehen.
Als ihm seine Kappe vom Kopf rutscht und er anhalten muss, um sie aufzuheben, hört er ein Wispern und Raunen aus den Wiesen aufsteigen.
Der Junge schaut und lauscht. Es hört sich fast an wie Stimmen, leise Stimmen. Sie scheinen zu rufen, langgezogen und klingend. Weit entfernt. Vielleicht ein paar Kinder auf der Straße hinter dem Moor. Lasse schiebt sein Rad, lauscht im Weitergehen. Jetzt ist es ganz nah. Flüstern und ein seltsames Tönen, so, als ob es in seinem Kopf summt.
Langsam lässt der Junge sein Kinderrad ins Gras gleiten und folgt einem, zwischen dem hohen blühenden Gras, kaum sichtbaren Pfad. Vorsichtig geht er, leise und zögernd einen Fuß vor den anderen setzend. Das Gras ist hoch, so dass er nicht viel sehen kann.
Drei Köpfe heben sich ruckartig aus dem Gras. Sechs schwarzglänzende Augen blicken erschrocken in seine und schon sind die Rehe mit ein paar federleichten Sprüngen über das hohe Gras hinweg verschwunden. Trotz der rasenden Flucht machen sie fast kein Geräusch. Aber auch das Geflüster ist verstummt. Lasse beginnt zu glauben, dass er nur die Laute der äsenden Tiere in der morgendlichen Stille gehört hat. Gespannt lauschend dreht er sich, um den Weg zurückzugehen.
Da, da ertönt es wieder, flüsterndes Gelächter. Lasse wendet erneut und tastet sich vorsichtig weiter. Es muss ganz nah sein. Er schließt den Mund, um mit seinem Atmen keinen der Laute zu überdecken. Sein Herz klopft und alle seine Sinne tasten, fühlen, suchen.
Plötzlich steht Lasse am Rand einer Art Lichtung. Das Gras ist auf einer kreisrunden Fläche niedergelegt, mitten hindurch führt der Bach. Dort, wo der dunkle Erlenbusch und das hölzernen Kreuz stehen, mündet er in einen kleinen See. Ihm ist so heiß. Lasse zieht langsam seine Jacke aus und lässt sie achtlos hinter sich fallen. Staunend sieht er, wie Nebelfetzen sich von der Erle lösen und auf und nieder schweben. Ein Rabe krächzt leise. Aus dem größten Erlenstrauch kommt etwas geflogen und setzt sich vor dem Kind nieder. Lasse staunt. Ein weißer Rabe. Der Junge betrachtet ihn verzückt und der Rabe schaut ihm mit seinen blauen Augen direkt ins Herz. Erst mit dem einen, dann mit dem anderen.
Jetzt hört Lasse die Stimmen wieder, summende Stimmen, helles Lachen. Es kommt aus den Büschen. Lasse schaut nur, er kann sich nicht bewegen. Aus den Erlen schweben Nebelfetzen auf ihn zu; eine Hand, die winkt, ein Nebelkind, das lächelt. Er hört es rufen: "Komm doch, Lasse!" Der zarte Dunst ballt sich zu Gestalten, sie wogen hin und her. Sie tanzen und singen leise. Eine der kleinen Gestalten kommt näher. Je näher sie kommt, desto mehr gleicht sie einem wirklichen Kind. Ein Junge, er gleicht dem Jungen auf dem Bild in der Stube, ja er sieht aus wie Malte. "Komm spielen, Lasse", wispert er.
Die anderen hinter ihm winken. Buben und Mädchen.
"Komm Lasse!"
Ein schwebender Singsang, schwillt auf und und verklingt. Malte singt mit den anderen Nebelgestalten, es klingt wie "Brüderlein", dann verschwindet er im Reigen der weißen Gestalten.
Zögernd tritt Lasse auf die Lichtung, andere Kinder kommen ihm entgegen, auch einige Männer und Frauen. Sie wogen durcheinander. Und da, zwischen ihnen, die Mutter.
"Mutter", flüstert er.
Es zieht ihn zu ihr. Lasse will sie hören, will sie berühren. "Warte, Mutter!", will er rufen, aber seine Stimme gehorcht ihm nicht. Die Mutter ist schon am See. Lasse will auf sie zugehen, doch seine Füße sind schwer, er kommt nicht voran. Sie lacht ihm zu, aber sie ist weit, so weit, er kann sie nicht hören.
Die Nebelkinder schweben zum See, Lasse folgt ihnen. Die ersten sind schon da und lassen sich einsinken in den webenden blaugrauen Spiegel. Dort im See steht die Mutter, ihr weißes Kleid breitet sich auf dem Wasser aus. Sie streckt ihm die Arme entgegen. jetzt kann er sie hören, leise, ganz leise nur, klingt ihre Stimme in seinen Ohren und schwingt in seinem Herzen. Lasse will zu ihr. Das Wasser kühlt ihm die heiße Haut, Beine, Arme und Brust. Er fühlt, wie ihm die Mutter mit ihrer kühlen Hand über die heiße Stirn streicht und Lasse lächelt.
Plötzlich dringen krächzende Laute an sein Ohr. Hat der Rabe ihn gerufen? Lasse schaut nach ihm und wundert sich, er ist gar nicht weiß. Schwarz und laut krächzend sitzt er auf einem Erlenzweig und schaut zu ihm herunter. Sein Kopf bewegt sich ruckartig und die schwarzen Augen funkeln. Mutter ist nicht mehr da und Malte auch nicht. Lasse fallen die Augen zu.
Mit lautem Krächzen flattert der Rabe hinauf zum höchsten Ast. Ruft da nicht der Vater nach ihm? Schon hört Lasse den Tritt der schweren Stiefel im Gras, dann das Platschen im Wasser, den stoßweisen Atem. "Lasse? Lasse was tust du denn hier?", die Stimme klingt gepresst und sorgenvoll. Ja, es ist Vater. Dann spürt er, wie Vaters starke Arme ihn aufheben.
"Lass nur Papa, musst mich doch nicht tragen", will er sagen, doch seine Lippen können die Worten nicht formen.