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Ein verschossener Elfmeter
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Ganz genau zweiunddreißig Minuten vor Anpfiff der UEFA-Cup-Halbfinalbegegnung zwischen VfL Blussia Bögendammbach und dem MC Bazilla erschien Günter H. mit einem gelben Schaufelfahrzeug des städtischen Bauamts im Stadion an der Bögendammstraße.
Nur kurz hielt er an, schaute hoch zu den Rängen, die sich allmählich mit Zuschauern füllten, und schien zu überlegen. Aber schon einen Moment später schüttelte er den Kopf und fuhr weiter bis zum Spielfeldrand. Er stieg aus und nahm einen Stoß Markierungsstangen sowie eine Rolle rotweißes Band, bevor er sich aufmachte in den Strafraum der Nordkurve. Nachdem er etwa in der Gegend des Elfmeterpunkts die Baustelle abgesteckt hatte, holte er sich Spitzhacke und Schaufel und begann mit dem Ausheben der Grube.
Die Ordner, die in der Nähe standen, versuchten mehrere Minuten lang zu übersehen, wie Günter H. sich in professioneller Arbeitsweise maulwurfsgleich ins Grün wühlte. Die ersten fünf Minuten sahen sie Günter H. nicht, weil es nicht sein konnte, dass er da war. Der Beweis dafür war, dass sich Ähnliches noch nie ereignet hatte, und sie arbeiteten schon verdammt lange als Ordner. Die anschließenden fünf Minuten waren sie damit beschäftigt, eine rationale Erklärung für H.’s Tun zu finden. Irgendeinen Grund, der seine Handlungen plausibel machte. Sie bemühten sich, aber es war, als versuchten sie mit einer Portion Gurkensalat Doppelkopf zu spielen.
Als ihnen schmerzlich klar wurde, dass die Situation nicht von selbst einfach aufhören würde, schritten sie zur Tat. Günter H. hatte kurz innegehalten und wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn. Er stand bereits fast bis zur Hüfte in seinem Loch.
„Was zur Hölle tun Sie da?“, schrie der oberste Ordner ihn an und fuchtelte mit den Armen.
„Ich? Ich grabe ein Loch“, sagte H. „Ich bin von der Stadt.“
„Das geht nicht!“, sagte der Ordner. „Sie können da jetzt nicht ein Loch graben - kommen Sie sofort heraus und machen Sie das wieder zu, Sie geisteskranker Narr! Welcher Idiotenhaufen hat das angeordnet?“
H. seufzte. Er war es leid, ständig rumzudiskutieren mit Leuten, die keine Ahnung hatten.
„Da müssen Sie sich an die Stadt wenden“, sagte er.
„An die Stadt wenden?!“, sagte der Ordner. „Wozu zur Hölle sollte die Stadt hier ein Loch graben lassen?“
„Weil hier ein Hydrant hinkommt“, sagte H.
„Ein Hydrant!? Hier auf dem Feld? Gleich fängt das Spiel an!“
Das interessierte H. nicht. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich nicht durch logische Überlegungen durcheinander bringen zu lassen. Wenn er etwas in seinem Leben gelernt hatte, so dies: Es gab eine Ordnung in der Welt, und diese war schriftlich festgehalten. Er neigte nicht zu langen Debatten. Wenn Kollegen ankamen und etwas von ihm Behauptetes bezweifelten, genügte H. ein kurzer Hinweis, dass er das in der Zeitung gelesen hatte, um die Diskussion zu beenden.
So hatte auch vor drei Jahren seine Frau ihn in der Waschmaschinengeschichte nicht zurückhalten können. H. hatte in einer Fachzeitschrift gelesen, dass man mit Benzin praktisch alles reinigen könne, und sich entschlossen, die völlig verdreckte Waschmaschine mal gründlich zu säubern, indem er zwei Glas Reinbenzin in das Fach für Weichspüler schüttete und den Hauptwaschgang startete. Als die Explosion das Haus zerstörte, kam aber wie durch ein Wunder niemand zu Schaden.
War geschriebenes Wort für ihn Gesetz, so war geschriebenes Wort, das noch dazu von einer öffentlichen Behörde stammte, sogar Naturgesetz. Mit diesem Gesetz im Rücken reichte er den Ordnern nun seine Auftragspapiere, in denen eindeutig stand, dass er die verantwortungsvolle Aufgabe hatte, hier für einen Hydranten zu sorgen, und blickte auf den Pulk von Leuten, der sich inzwischen um die Gruppe scharte - Reporter, Fotografen und dann noch irgendwelche anderen Leute, die gestikulierten, lachten oder nach Polizei riefen.
„Ja begreifen Sie denn nicht? Die Hausnummer muss falsch sein!“, sagte der Ordner nach einem Blick auf das Papier. „Bestimmt muss der Hydrant in die Bögendammstraße 10 oder 14, verstehen Sie? Es ist ganz bestimmt ein Fehler!“ Er trat auf H. zu, fast wie um ihn zu packen, da hob H. die Spitzhacke - und sofort war allen klar, dass er die Grundordnung der Republik gegen jeden Angreifer auch mit dem Einsatz seines Lebens verteidigen würde. Auf dem Papier stand deutlich Bögendammstraße 12. In Kürze würde hier ein Hydrant stehen.
Während die Teams auf den Platz liefen, hatten sich die Stadionleitung, das Management des Heimvereins, der UEFA-Beobachter, das Schiedsrichtertrio und die Einsatzleitung der Polizei zu einer Kurzkonferenz am Spielfeldrand eingefunden. Die Zeit drängte: noch zwölf Minuten bis zum Anpfiff. Die Einsatzleitung der Polizei war dafür, erst mal Gewalt anzuwenden und die Rechtslage später zu klären. Das gefiel jedoch dem Vereinsmanagement nicht, weil international über zwanzig Fernsehstationen damit begonnen hatten, live zu übertragen - die Bilder eines hässlichen Gewalteinsatzes gegen einen Günter H., der sich mit einer Spitzhacke verteidigte, würden dem Image der Blussia Bögendammbach vielleicht schaden. Sie wandten sich an den UEFA-Beauftragten mit der Frage, ob das Spiel vielleicht verschoben werden könne?
Der Beauftragte und die Schiedsrichter diskutierten kurz und erklärten dann, dass den Statuten zu Folge ein Spiel verschoben werden könne bei sintflutartigen Regenfällen, Vulkanausbrüchen, Flugzeugkatastrophen direkt über dem Platz, einer Invasion von Marsmenschen in Spielortnähe oder dem Angriff eines amerikanischen Bombergeschwaders. Von städtischen Baustellen im Strafraum aber sei in den Statuten nicht die Rede, deshalb käme ein Verschieben des Spiels wohl kaum in Frage.
Man beschloss, anzupfeifen. Zum ersten Mal in der Geschichte des UEFA-Cups waren bei Anpfiff vierundzwanzig Männer auf dem Platz: Die Spieler, der Schiedsrichter und ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Das wäre ja gelacht gewesen, dachte dieser, als er sich in der 63. Minute beim Stand von 1:1 noch den Schaufelbagger holte, während es auf der anderen Seite gerade einen Eckball gab.
Blussia Bögendammbach aber schied aus dem UEFA-Cup aus.
Der Bögenhausener Bote schrieb in seinem Sportteil anderntags:
‘Nach dem 0:0 im Hinspiel beim MC Bazilla schied unser Team unglücklich mit 1:1 aus dem laufenden Wettbewerb aus und verpasste das Finale. Dabei gab der Unparteiische in der 90. Minute einen klaren Strafstoß für die Heimmannschaft, bestand jedoch darauf, dass dieser vom Elfmeterpunkt des tatörtlichen Strafraums aus durchzuführen sei, wo aus Gründen, die noch zu klären sein werden, zu diesem Zeitpunkt eine zwei Meter tiefe Baugrube klaffte, aus der heraus der Elfmeterschütze das Tor (um genau zwei Meter, siebenunddreißigkommavierzehn Zentimeter) verfehlte.
Statuten, so der Schiedsrichter Gustaf H. später, seien nun mal Statuten, und wären nicht ‘umsonst da’.
Die Vereinsleitung der Blussia Bögendammbach hat inzwischen ein Verfahren eingeleitet, um den Hydranten im Strafraum wieder los zu werden. Wir berichten weiter darüber!
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