Ein Urlaubsflirt
„Wir können auch noch eine Nacht länger bleiben, oder zwei, wenn du willst?“
„Ja …“ Magda schien nicht begeistert zu sein. Sie zog ihre Augenbrauen hoch, sodass ihre hohe Stirn in Falten lag und schwenkte nachdenklich ihre Flasche Castle Beer. „Aber was, wenn wir dann in Pretoria zu wenig Zeit haben? Da gibt’s bestimmt schon einiges zu sehen.“
Ich kramte in meinem Reiserucksack nach dem Reiseführer. Unsere riesigen Backpacks blockierten den schmalen Weg zwischen den Tischen des Eisberg’s Pub, unsere Zimmer über der Bar waren noch nicht frei.
„Nein, Mimi“, sagte Magda, als ich den Reiseführer endlich hervorzog, „lass uns das morgen bereden. Heute bin ich zu müde.“
Wir hatten einen langen Fußmarsch durch Kapstadt hinter uns, hatten uns mehrmals verlaufen, um dann vom Museum for South African Wildlife enttäuscht zu werden. Es war, als hätte man Big Five Wallpaper in Google eingegeben und die ersten zwanzig Bilder auf Leinwände gedruckt und aufgehängt.
„Hi, girls!“ Ein junger Mann mit schwarzen Dreadlocks und einem beigen Tanktop trat an unseren Tisch.
„No, we wait for our rooms, we don’t want to offer now.“
„Order“, korrigierte ich Magda.
„I’m not a waiter!“ Mit gespielter Beleidigung verzog er sein Gesicht, ehe er lachte. Ein raues, aber echtes Lachen. „I’m Andrew“, sagte er und gab uns seine Hand. „First time in South Africa?“
Wir verfielen in oberflächlichen Smalltalk, erzählten von unserer bisherigen Reise, und Andrew hörte begeistert zu. Er war aus Angola, wohnte jetzt aber in Kapstadt und verdingte sich als Reiseführer. Er war charmant, zeigte Interesse, obwohl er Geschichten wie unsere jeden Tag zu hören bekommen musste. Dauernd grinste er mich an, fordernd, frech. Es kribbelte in meinem Bauch, scheu lächelte ich zurück.
„Wir müssen jetzt gehen“, sagte Magda, „Ich bin müde und ich hab‘ kein Bock mehr auf Englisch sprechen.“
„Lass uns doch noch ein bisschen bleiben.“
Magda funkelte mich an.
„Geh doch schon mal rauf“, sagte ich und wendete mich wieder an Andrew. Ich wusste, dass sie jetzt sauer auf mich sein würde, doch für den Moment war mir das egal.
„Tell me more about Angola“, sagte ich zu Andrew und kurz berührten sich unsere Knie unter dem Tisch.
Andrew erzählte von seiner Familie, seiner Heimat und wie sehr er sie vermisste. Sein Traum sei es, mit genug Geld zurückkehren zu können, um ihnen allen ein großes Haus bauen und können und so viele Schafe und Ziegen, dass sie für immer vorsorgt wären.
„And maybe I will marry a beautiful woman like you are“, schloss er und grinste, ein bisschen schüchterner als zuvor.
Er bestellte noch zwei Bier für uns, das Gespräch lockerte sich. Er machte Witze, erzählte lustige Geschichten aus seinen Reisegruppen, denen er die Stadt zeigte. Ich hielt mir vor Lachen den Bauch.
„You want to sleep in my apartment? It’s like two minutes away from here.“
Ich wollte ja sagen, aber ich dachte an Magda. Sie würde sich Sorgen machen, und danach würde sie nur noch wütender sein, wenn ich jetzt einfach so verschwand.
„Not today. How about tomorrow?“
„I won’t be in the city for the next two days. But maybe you want to come over when I’m back?“
„Sure“, sagte ich und versuchte mich an einem coolen Lächeln.
„Mimi, it is a great pleasure to meet you“, sagte Andrew, nachdem er seine Nummer in mein Handy eingetippt hatte. Er lehnte sich nach vorne, legte die Hand auf meine Taille und küsste mich auf den Mund. Ich erwiderte den Kuss. Seine Lippen waren wunderbar rau, seine Zunge verspielt.
„Naja“, sagte Magda, „Wegen mir können wir schon noch ein paar Tage bleiben.“ Sie hatte am Morgen die Beleidigte gespielt und hatte sich wieder eingekriegt, nachdem wir ein teures Frühstück in einem Restaurant gegönnt hatten. „Pretoria läuft uns ja nicht davon“, sagte sie und schob sich den letzten Löffel ihres Fruchtsalates in den Mund.
„Gut, dann müssen wir noch unser Zimmer verlängern.“ Ich dachte an Andrew und versuchte mir meine Freude nicht anmerken zu lassen.
„Ja, können wir ja dann auf dem Heimweg machen. Sag mal, was ist eigentlich das da an deiner Lippe?“
An meiner Unterlippe ertastete ich einen kleinen, klebrigen Hügel. Es schmerzte, als ich versuchte ihn wegzukratzen.
„Als hättest du die Pest“, sagte Magda und verzog das Gesicht.
Ich lief in die Toilette des Restaurants, begutachtete den schwarzen Fleck. So würde mich Andrew sicherlich nicht wieder küssen.
„Muss mir wohl ´nen Arzttermin ausmachen“, sagte ich, als ich zurückkam.
„Ach was, das geht schon wieder weg. Jetzt hör doch mal auf, da dauernd hinzutatschen. So kann das doch gar nicht verheilen. Da brauchst du doch keinen Arzt.“
„Wer weiß, was es hier für Krankheiten gibt, die keiner kennt“, schob ich vor, „Sicher ist sicher.“
„Wie lief es eigentlich gestern noch mit diesem Andi?“
„Andrew“, korrigierte ich sie schärfer als gewollt. „Da lief nichts. Aber wir treffen uns übermorgen wieder.“
„Uuuh“, machte Magda und erinnerte mich an eine Drittklässlerin, die zum ersten Mal einen Kuss auf den Mund gesehen hatte.
Dr. Friedrich war aus Deutschland ausgewandert, nachdem ihn sein Ehemann betrogen hatte. Für zwei oder drei Jahre hatte er in Marokko gelebt, eine neue Liebe zog ihn nach Kapstadt. All das war aus ihm herausgesprudelt, bevor ich sagen konnte, warum ich hier war.
„Tut mir leid, es ist nur so schön, mal wieder mit jemandem deutsch sprechen zu können. Nun aber zu Ihnen. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Es war eine reine Höflichkeit, das zu fragen. Man konnte sehen, warum ich hier war. Der Ausschlag hatte sich über Nacht auch auf meine Oberlippe ausgebreitet. Dr. Friedrich stellte ein paar Fragen, sah sich dann den Ausschlag genauer an. Mit einem Wattestäbchen macht er Abstriche und verschwand ins Labor.
Sein Gesicht hatte sich verändert, als er wiederkam. Mit strenger Miene setzte er sich.
„Frau …“ er blätterte in den Unterlagen, „Niedermeier. Hatten Sie in letzter Zeit Kontakt mit Leichen?“
„Leichen?“
„Toten. Vielleicht mit verstorbenen Angehörigen oder verwesenden Tieren?“
„Äh, nein, kann mich jedenfalls nicht daran erinnern“, sagte ich, als wäre der Kontakt mit Toten etwas, das man einen Moment später vergessen hatte.
„Haben Sie vielleicht in letzter Zeit mit den Lippen eine Person berührt, die Kontakt mit Leichen hat?“
Es kam nur eine Person in Frage. Ich zuckte mit den Schultern. „Also vorgestern“, sagte ich und räusperte mich, „da habe ich jemanden in einer Bar kennengelernt.“
Zwei Stunden später saß ich einem dicken Mann in Uniform gegenüber, der mit bedächtiger Ernsthaftigkeit sein Hähnchen-Curry aus einer Plastikschale aß und mich belauerte, als würde ich ihm sein Essen streitig machen wollen. Ich hatte ihm alles erzählt, was ich über Andrew wusste, aber man konnte ihm sein Misstrauen ansehen.
„Mrs. – eer“, er sah in die Akte, „Mrs. Niedermeier. We are happy that you have contacted us.“ Als Beweis, wie sehr er sich freute, schaute er noch finsterer drein als zuvor. Und genau genommen hatte Dr. Friedrich die Polizei informiert. „This is a serious case. Nine women of your age disappeared in the past three months in the neighbourhood in which you are staying at the moment. We have reasons to assume that there is a young male who had the last contact to many of these women.“
Mit fischte das letzte Stück Hähnchen aus der Plastikschale, steckte es sich in den Mund und wischte seine Finger an der Serviette ab. Dann beugte er sich vor, sodass nur noch sein Bauch und der schmale Schreibtisch uns trennte.
„The person you were talking about is from now on a suspect. We will need your help to find him.“
„Let me know when you’re back in town“, schrieb ich an Andrew und sendete einen Zwinkersmiley mit Kussmund hinterher.
„I’m not sure if I will have the time to meet up“, kam eine Stunde später zurück.
„I’m leaving Kapstadt the day after tomorrow. You would miss an incredible night“, schrieb ich nach Absprache mit der Profilerin der Polizei.
„Okay, come to my house at 11 pm. I’ll send you my location later. Don’t tell your friend, I think she is jealous. See ya!“, schrieb Andrew und beendete die Nachricht mit einem von einem Pfeil durchstoßenen Herzen.
Um elf Uhr stand ich vor der Türe. Das Haus war heruntergekommen, auf der Straße lag eine umgekippte Mülltonne, um die sich die Straßenköter knurrend tummelten.
Ich drückte die Klingel, zu meiner Überraschung funktionierte sie. Die Tür schwang auf, Andrews verschlafenes Gesicht erschien. Er lächelte, ich lächelte.
„Hi“, sagte er und klang beinahe schüchtern. „Come in!“
„Thanks.“
„Is everything okay with your lips?“
„Yeah“, sagte ich. Ich hatte gehofft, das gut überschminkt zu haben. „It’s okay.“
Er brachte mich ins Wohnzimmer. Eine zerschlissene Ledercouch stand vor einem niedrigen Holztisch mit leeren mit zwei leeren Bierflaschen und einem Kaktus, ein stummer Röhrenfernseher zeigte die Daily News Show.
„Beer, wine, water?“, rief Andrew aus der Küche.
„Beer!“
Ich hörte ihn die Flaschen öffnen, dann kam er zurück und drückte mir ein Castle Beer in die Hand.
„I am really happy you came“, sagte Andrew, „And I don’t want to be too straight forward, but you are the most beautiful girl I have ever seen in my live.“
Ich sah ihm in die Augen. Ich wusste, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Sie hatten den Falschen. Und womöglich würden sie ihm trotzdem alles anhängen können. Ich musste ihn warnen, ihn irgendwie hier rausbringen.
„I need to tell you something“, begann ich und erinnerte mich dann an das Mikrofon unter meinem Shirt.
Andrew wandte sich mir zu, legte seine Hand auf mein Knie, in der Erwartung einer Liebesbekundung.
„I don’t know how to say it. Do you have a paper and a pencil for me?“
Einen Moment lang öffnete sich sein Mund einen Spalt weit und seine Augenbrauen zuckten, doch dann nickte er ernst, als habe er mit dieser Bitte gerechnet und ging aus dem Wohnzimmer. Währenddessen sah ich mich um und überlegte, ob die Polizei wohl auch die Terassentür überwachte. Oder vielleicht konnten wir durch das Küchenfenster klettern? Ich wusste, es war absurd, fliehen zu wollen, und doch spürte ich, dass ich Andrew retten musste. Er hatte kein Geld für einen Anwalt, keinen Beweis für seine Unschuld. Er würde für Jahre ins Gefängnis gehen, unschuldig.
Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, dann ein zweiter, und durch die Terassentür und durch die Vordertür strömten Polizisten mit Sturmgewehren ins Haus. Sie schrien, ich verstand nichts, legte mich auf den Boden, wie ich es aus Filmen kannte, doch sie rannten an mir vorbei, liefen zu Andrew, drückten ihn auf den Boden, acht Mann oder mehr, hielten ihn fest, legten ihm Handschellen an, einer trat ihm in die Rippen, als er sich wehrte.
„We, our Police Department, the city of Kapstadt and the country of South Africa, thank you so much for your assistance“, sagte der dicke Polizist, als ich ihm wieder in seinem Büro gegenübersaß.
Ich nickte müde, sah zu Boden. „I really need to make a phone call.“ Ich hatte Magda nur gesagt, sie solle nicht auf mich warten. Jetzt sehnte ich mich nach ihr, wollte ihr alles erzählen, und dann alles vergessen.
Neun Frauenleichen fand man auf Andrews Dachboden. Er hatte sie abgeschleppt, ihnen mit einem Teppichmesser die Kehle aufgeschnitten und sich tagelang an ihren toten Körpern vergangen. Dasselbe Teppichmesser hatte er in seiner Hand, als die Polizei ihn festnahm, während ich im Wohnzimmer wartete.
„Of course, of course“, beeilte sich der Polizist, „You can leave now and make your phone call if you want to.“
Ich stand auf, ging zur Tür.
„One last question“, sagte der Polizist. „Why did you ask for a pencil and a paper?“
„I was afraid“, antwortete ich, „As I looked into his face, I knew he was the guy. Then I tried to buy time.“