Ein unglaubliches Schauspiel
Es war wohl eine Erbkrankheit. Ihre Gene waren schuld daran, dass sie seit 21 Jahren, seit ihrer Geburt keinen Ton hören konnte. Sie war eine junge, attraktive Frau. Taub, aber sehr hübsch. Ist das so betonenswert? Besteht eine Verbindung zwischen der Behinderung und der Ästhetik des Schönen? Widerspricht sich das? Offensichtlich nicht! Sie lebte ihr Leben in vollen Zügen. Tätowierungen waren ihre Leidenschaft. Ihr halber Körper war mit ihnen verziert. Als nächstes Motiv stand ein weiblicher Dämon knapp unterhalb ihres Bauchnabels an. Wie gesagt, sie kostete ihr Leben in vollen Zügen aus und schränkte sich, so gut sie konnte, nicht ein. Und diese Dämonin sollte Augenzeugin ihrer Lebensfreude und all ihrer jugendlichen Experimentierfreude werden. Und sie war sehr experimentierfreudig. Doch seit einigen Tagen war ihre sonst so unbekümmerte Art bei ihr nicht permanent anzutreffen. In manchen Momenten sah man neuerdings Nachdenklichkeit in ihrem wunderschön geformten Gesicht aufleuchten. Seit sie den Artikel gelesen hatte. Und diese Momente mehrten sich, seit der Termin feststand. Je näher er rückte, desto öfter sah man diese Nachdenklichkeit in ihrem Gesicht sich einen Weg bahnend durch ein Gebiet, das bisher so gut wie nie von dieser Mimik befallen war. Doch dieser Tag, der vor ihr stand, war zu gewaltig.
Es ist soweit. Sie öffnet ihre Bluse. Mit jedem Knopf ist mehr von dem Kunstwerk, der ihr Körper ziert, erkennbar. Sie legt sich hin. Und schneller als sie bis zehn zählen kann, schläft sie ein. Ruhe. Als sie noch schläfrig ihre Augen wieder öffnet, kann sie langsam die Umrisse ihrer Eltern erkennen. Die Narkose ist noch deutlich zu spüren. Noch ist alles schwammig, doch langsam erkennt sie die Lippenbewegungen ihrer Ärztin, die ihr sagt, dass die OP ein voller Erfolg gewesen sei und es keine Komplikationen gegeben habe. Ein Meilenstein der Medizin, wenn auch noch in der Testphase und sie als Pionierin. Moment. Was war das? Die Nachwirkungen der Narkose schienen überstanden, denn sie erkannte nun alles scharf und setzte sich langsam aufrecht, denn da war noch etwas, was neu war. Sie hörte einen Ton. Sie konnte hören. Ein noch dumpfes, fremdes Geräusch, aber sie hörte Laute. Zu den Lippenbewegungen gesellten sich Laute. Aus dem Fenster blickend sah sie die Sonne durch die Baumwipfel strahlen. Einige Vögel hüpften von Ast zu Ast. Sie hörte jede Menge Töne, die sie bewegten. Sie wusste nicht, dass dies Vogelgezwitscher war, doch der Klang, ein Klang den sie 21 Jahre lang noch nie vernommen hatte, war überwältigend. Sie, die toughe Lebensfrau, war gerührt. So viele Töne. Durch die Sonnenstrahlen, die in das Zimmer schienen und sich auf ihrem Gesicht verirrten, konnte man das Licht auf ihren Tränen spiegeln sehen. Ein unglaubliches Schauspiel. Der unglaublichen Begebenheit würdig: Hören zu können.