Ein unbeschreibliches Gefühl
„Egoist? Sozialschmarotzer? Also, das ist ja starker Tobak, den du mir an den Kopf wirfst.“ Bernd beugt sich vor, und greift sich sein Glas.
„Nur weil ich keine Kinder habe? Den Staat nicht unterstütze? Zahle doch mehr Steuern, als ihr, mit eurer günstigen Steuerklasse, die ihr obendrein noch massig Kindergeld in den Allerwertesten geschoben kriegt. Und ihr seid die Guten? Weil ihr Kinder in die Welt gesetzt habt?“ Er hat sein Glas in einem Zug geleert, man sieht ihm deutlich die Erregung an, er schenkt sich nach.
Marion bemüht sich Ruhe in das Gespräch einzubringen.
„Mal ganz ruhig, Bernd. Es gibt viele gute Gründe, Kinder zu haben. Du hast neulich selbst zugestanden, dass dir Kinder zu teuer sind, wenn man ihnen auch etwas bieten will. Und alle Welt weiß, dass der Staat Kinder, bzw. dazugehörige Eltern nicht ausreichend fördert.“
Bernd lehnt sich zurück, ist wieder er selbst und lenkt ein.
„Okay, Marion. Gibt es diese Gründe? Die Frage ist doch: Warum habt ihr euch Kinder angeschafft, was ist der Grund, dass ihr euch über die so genannten Sozialschmarotzer erheben könnt? Ihr wusstet doch, dass euch die Kinder Geld kosten werden, mehr als ihr vom Staat bekommt. Lass mich mal ein paar Fragen stellen und beantworte sie kurz, präzise und ehrlich: Habt ihr euch Kinder angelacht, damit sie euch im Alter finanziell unterstützen?“
„Das wäre ja der Hammer. Soll ich auf Kosten meiner Kinder leben? Nö, habe mein Alter selbst abgesichert.“
„Habt ihr zielgerichtet zum Wohle unserer Gesellschaft gepoppt? Damit der Staat später mal in der Lage ist, die Renten anderer Leute zu bezahlen? Für euch, sagtest du, war´s ja nicht.“
„Wie stellst du dir denn das vor? Ich bin mit Horst Hand in Hand in die Kiste gesprungen, um Vater Staat was Gutes zu tun? Ich glaube, wir hatten eigennützigere Interessen dabei.“ Dabei lächelt sie und schaut zu Horst, der zurückgrinst.
„Stand der Aspekt der Arterhaltung im Vordergrund? Die Rettung des Familiennamens über die Generationen hinweg?“
„Sei nicht albern. Über Arterhaltung macht man sich heute nur bei seltenen Tierrassen, seltenen Pflanzengattungen Gedanken, nicht bei Menschen – Steinzeit ist passé.“ Da fiel Horst ihr ins Wort.
„Und wenn ich so am Familiennamen hängen würde, hätte ich wohl kaum Marions Nachnamen angenommen, oder?“
„Eventuell wolltest du, Marion, deiner biologischen Bestimmung als Weib und Gebärmaschine nachkommen?“
„So ein Quatsch. Dann müsstest speziell du, jede Frau die dir über den Weg läuft anspringen und begatten, weil es deine männliche, biologische Bestimmung ist. Ich denke, das ist ebenso wenig zutreffend, wie deine Vermutung.“
„Dann habt ihr die Kinder aus Versehen, als Abfallprodukt eurer triebhaften Aktivitäten gezeugt?“
„Nein, keineswegs. Wir wollten Kinder und haben sie ganz bewusst gezeugt.“
„Also, fasse ich zusammen: Ihr wusstet, dass Kinder teuer sind, wusstet, dass ihr euch dafür einschränken müsst, wolltet sie nicht für eure Altersabsicherung, nicht aus gesellschaftspolitischen Erwägungen, nicht für die Rente anderer, nicht aus Gründen der Arterhaltung, nicht um deinen geschlechtsspezifischen Eigenschaften zu frönen, nicht um das Familienwappen, den Stammbaum weiterzuführen. Warum also?“
„Wer keine Kinder hat, wird das nie verstehen können.“ Marion streichelt dabei Horst über die Hand, der beifällig nickt.
„Als ihr euer erstes Kind gezeugt habt, hattet ihr noch keines und habt es trotzdem getan. Bewusst, wie ihr sagt. Warum?“
„Wenn du erleben würdest, wie es ist, wenn dein Kind, dich das erste Mal bewusst anlächelt, wie es sich nach einem Sturz von dir trösten lässt, die großen Augen, wenn es die Geschenke unterm Weihnachtsbaum sieht, der erste Schultag, du darfst beraten beim ersten Freund, siehst deine Kinder heranwachsen, lebst ein zweites Leben, begreifst, was es heißt eine Familie zu sein.. Das gibt dir so ungeheuer viel, weiß gar nicht wie ich es dir anders verständlich machen soll. Es ist einfach ein unbeschreibliches Gefühl.“
Bernd atmet tief durch.
„Ich glaub, jetzt habe ich verstanden. Könnte man sagen: reiner Egoismus?“