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Ein unbeschreibliches Gefühl

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02.03.2002
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Ein unbeschreibliches Gefühl

„Egoist? Sozialschmarotzer? Also, das ist ja starker Tobak, den du mir an den Kopf wirfst.“ Bernd beugt sich vor, und greift sich sein Glas.
„Nur weil ich keine Kinder habe? Den Staat nicht unterstütze? Zahle doch mehr Steuern, als ihr, mit eurer günstigen Steuerklasse, die ihr obendrein noch massig Kindergeld in den Allerwertesten geschoben kriegt. Und ihr seid die Guten? Weil ihr Kinder in die Welt gesetzt habt?“ Er hat sein Glas in einem Zug geleert, man sieht ihm deutlich die Erregung an, er schenkt sich nach.
Marion bemüht sich Ruhe in das Gespräch einzubringen.
„Mal ganz ruhig, Bernd. Es gibt viele gute Gründe, Kinder zu haben. Du hast neulich selbst zugestanden, dass dir Kinder zu teuer sind, wenn man ihnen auch etwas bieten will. Und alle Welt weiß, dass der Staat Kinder, bzw. dazugehörige Eltern nicht ausreichend fördert.“
Bernd lehnt sich zurück, ist wieder er selbst und lenkt ein.

„Okay, Marion. Gibt es diese Gründe? Die Frage ist doch: Warum habt ihr euch Kinder angeschafft, was ist der Grund, dass ihr euch über die so genannten Sozialschmarotzer erheben könnt? Ihr wusstet doch, dass euch die Kinder Geld kosten werden, mehr als ihr vom Staat bekommt. Lass mich mal ein paar Fragen stellen und beantworte sie kurz, präzise und ehrlich: Habt ihr euch Kinder angelacht, damit sie euch im Alter finanziell unterstützen?“
„Das wäre ja der Hammer. Soll ich auf Kosten meiner Kinder leben? Nö, habe mein Alter selbst abgesichert.“

„Habt ihr zielgerichtet zum Wohle unserer Gesellschaft gepoppt? Damit der Staat später mal in der Lage ist, die Renten anderer Leute zu bezahlen? Für euch, sagtest du, war´s ja nicht.“
„Wie stellst du dir denn das vor? Ich bin mit Horst Hand in Hand in die Kiste gesprungen, um Vater Staat was Gutes zu tun? Ich glaube, wir hatten eigennützigere Interessen dabei.“ Dabei lächelt sie und schaut zu Horst, der zurückgrinst.

„Stand der Aspekt der Arterhaltung im Vordergrund? Die Rettung des Familiennamens über die Generationen hinweg?“
„Sei nicht albern. Über Arterhaltung macht man sich heute nur bei seltenen Tierrassen, seltenen Pflanzengattungen Gedanken, nicht bei Menschen – Steinzeit ist passé.“ Da fiel Horst ihr ins Wort.
„Und wenn ich so am Familiennamen hängen würde, hätte ich wohl kaum Marions Nachnamen angenommen, oder?“

„Eventuell wolltest du, Marion, deiner biologischen Bestimmung als Weib und Gebärmaschine nachkommen?“
„So ein Quatsch. Dann müsstest speziell du, jede Frau die dir über den Weg läuft anspringen und begatten, weil es deine männliche, biologische Bestimmung ist. Ich denke, das ist ebenso wenig zutreffend, wie deine Vermutung.“

„Dann habt ihr die Kinder aus Versehen, als Abfallprodukt eurer triebhaften Aktivitäten gezeugt?“
„Nein, keineswegs. Wir wollten Kinder und haben sie ganz bewusst gezeugt.“

„Also, fasse ich zusammen: Ihr wusstet, dass Kinder teuer sind, wusstet, dass ihr euch dafür einschränken müsst, wolltet sie nicht für eure Altersabsicherung, nicht aus gesellschaftspolitischen Erwägungen, nicht für die Rente anderer, nicht aus Gründen der Arterhaltung, nicht um deinen geschlechtsspezifischen Eigenschaften zu frönen, nicht um das Familienwappen, den Stammbaum weiterzuführen. Warum also?“

„Wer keine Kinder hat, wird das nie verstehen können.“ Marion streichelt dabei Horst über die Hand, der beifällig nickt.
„Als ihr euer erstes Kind gezeugt habt, hattet ihr noch keines und habt es trotzdem getan. Bewusst, wie ihr sagt. Warum?“
„Wenn du erleben würdest, wie es ist, wenn dein Kind, dich das erste Mal bewusst anlächelt, wie es sich nach einem Sturz von dir trösten lässt, die großen Augen, wenn es die Geschenke unterm Weihnachtsbaum sieht, der erste Schultag, du darfst beraten beim ersten Freund, siehst deine Kinder heranwachsen, lebst ein zweites Leben, begreifst, was es heißt eine Familie zu sein.. Das gibt dir so ungeheuer viel, weiß gar nicht wie ich es dir anders verständlich machen soll. Es ist einfach ein unbeschreibliches Gefühl.“

Bernd atmet tief durch.
„Ich glaub, jetzt habe ich verstanden. Könnte man sagen: reiner Egoismus?“

 

Hallo querkopp,

deine Geschichte gefällt mir gut. Ein Ausschnitt aus einer Diskussion, wie sie wirklich stattfinden könnte. Der Kinderlose muss sich gegenüber dem Paar mit Kind rechtfertigen und umgekehrt. Es kann nicht einfach akzeptiert werden, dass sich jemand dafür oder dagegen entscheidet, Kinder zu bekommen. Eine sehr persönliche Entscheidung, die m.E. keiner Rechtfertigung gegenüber Dritten bedarf. Dem einen bedeuten Kinder eben mehr, dem anderen eben weniger.
Leider glauben viele, was gut für sie ist, sei auch für andere das Richtige...

Gelungene Geschichte, die mich zum Nachdenken gebracht hat.

Viele Grüße
Cat

 

Hallo Maris,

ich habe die ganze Zeit während des Lesens das Gefühl gehabt, du hast bevor du diesen Text geschrieben hast, vorher einen tiefen Blick in meinen Kopf getan.

Als kinderlose verheiratete Frau werde häufig gefragt ob ich denn keine Kinder hätte und ich würde am liebsten ganz unhöflich nachfragen, weshalb ich das erklären solle, ich würde ja auch nicht nachfragen, weshalb mein fragendes Gegenüber Kinder hat.
Ich laß es meistens, weil ich denke, die Gesellschaft geht irgendwie mit großer unüberlegter Selbstverständlichkeit davon aus, dass ein Ehepaar irgendwann mal Kinder haben möchte. Wenn sie keine haben, dann hat es wahrscheinlich noch nicht geklappt oder es sollen erst später welche gezeugt werden.

Die Frage, weshalb sich jemand dafür entscheidet, Kinder zu zeugen wird heute immer noch als eigentlich unverschämte Frage gesehen, während man umgekehrt als kinderloser Mensch begründen muß, weshalb das so ist. Das ging mir die ganze Zeit durch den Kopf als ich diese Unterhaltung las.

Das Thema gefällt mir daher sehr.
Ich fand auch die Art, es in eine Unterhaltung zu packen eine gute Idee.

Was mir nicht so gut gefällt ist, dass du nur den Bernd und die Marion sprechen läßt, dadurch wirkt es eher wie ein Dialog und teilweise ein wenig wie ein verbissen geführter Dialog.
Deine Marion wird von Bernd, ich übertreibe jetzt mal, wie bei einem Quiz mit Fragen bombardiert.
Was wäre, wenn auch der Ehemann von Marion ab und zu mal was einflicht in diese Unterhaltung. Was wäre, wenn alle drei mal kurz miteinander scherzen, also fast vom Thema abkommen, um dann aber wieder konsequent, nach einem kleinen Ausflug ins Lustige, zum Thema zurück zu kehren?
Ich glaube, diese Unterhaltung könnte dadurch ganz erheblich an Leichtigkeit gewinnen, ohne dabei an Gewicht zu verlieren.
Der Leser braucht nicht so arg an die Hand genommen zu werden, wie du es in dieser Unterhaltung machst. Ich meine damit, dass du eigentlich Bernd's Sachargumente nicht bis ins letzte I-Tüpfelchen ausbreiten mußt.

Aber, bitte versteh mich nicht falsch, ich halte diese Unterhaltung durchaus nicht für mißlungen, sondern wünsche mir für deinen Text, dass er brillant wird.

Liebe Grüße
elvira

 

Danke Cat für deine positive Einschätzung.

Allerdings wird offensichtlich nur ein Teilaspekt deutlich und das zeigt mir, dass ich im philosophischen noch viiiiel üben muss.

Gruß
Maris

 

Hallo Elvi,

vorab möchte ich betonen, dass ich nie wagen würde einen tiefen Blick in den Kopf einer Frau zu werfen; lieber in ein gefülltes Glas, da bleibe ich zurechnungsfähiger :)

Danke für deine Meinung, die mir auch die Schwachstellen aufzeigt. Ich hatte ehrlich gesagt, gewisse "Hemmungen" im philosophischen einen eher alltäglichen Dialog reinzustellen und habe folglich alles drumherum nur sachte angedeutet.
Aber inhaltlich ist bei dir schon das angekommen, was ich gehofft hatte (kein Wunder bei so´ner Analytikerin).

Werde versuchen, deine Anregungen umzusetzen. Wäre ja schon mal Zeit, dass der arme Horst, als gebeutelter Ehemann, eine Sprecherlaubnis bekommt. ;)

Thanks
Maris

 

Hallo querkopp,

ich fand es eine gute Idee, dieses Thema zu behandeln. Letztlich ist die Kinderfrage auch eine Lebensphilosophie: Gibt man das Leben weiter, oder nicht?
Interessant ist,daß in diesem Zusammenhang „reiner Egoismus“ durchaus positiv aufgefaßt werden kann (da die Erzählenden den Nachwuchs als Altersversorgung ausschließen).
Du zeigst gewissermaßen auch das Gute im Menschen („trösten“, „beraten“), einfach die Freude für andere `da` zu sein. Diese Möglichkeit haben natürlich auch Leute ohne Kinder (es gibt auch Nachbarskinder) und nicht nur Kinder brauchen ihre Mitmenschen.

Tschüß ... Woltochinon

 

Kann mich meinen Vorrednern nur anschließen, hat mir sehr gut gefallen, der Dialog. Besonders, dass du am Ende nicht darauf bestanden hast, Partei zu ergreifen und der Geschichte einen Schluß zu verpassen, bei der eine Seite letztendlich "Recht" bekommt.

Irritiert hat mich nur der Gesprächsanfang, der hier nicht zu lesen ist. Irgend jemand muss Bernd ja wohl zunächst mal angegriffen und als "Sozialschmarotzer" bezeichnet haben, nur weil er keine Kinder hat.

Wie ist das zu verstehen?

Für Aufklärung dankbar, falls Zeit und Lust vorhanden
Pip

 

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