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Ein Traum
Liebes Tagebuch, letzte Nacht hatte ich einen Traum, der mich seitdem nicht mehr losläßt. Im ersten Moment sah ich alles nur wie durch Nebel, doch je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto klarer wurde mir alles. Ich hatte noch nie so ein deutliches Bild vor Augen wie von diesem Traum und manchmal wird es mir ein bißchen unheimlich, wenn ich mir dieses Bild ins Gedächtnis rufe, weil es mir oft so real erscheint, als ob ich selbst hineingehen könnte und das macht mir Angst, weil ich weiß, daß es nicht möglich ist. Und jedesmal, wenn ich mich an den Traum erinnere, ist es so, als ob ich ihn noch einmal durchlebe:
Ich gehe durch einen wunderschönen Wald. Die Bäume sind bedeckt von Schnee, so daß man kaum noch ihre Zweige erkennen, sie nur erahnen, kann. Auch der Weg, auf dem ich gehe, ist zugeschneit und jeder Schritt, den ich mache, hinterläßt so ein knatschendes Geräusch. Die Luft ist kühl und nach jedem Atemzug steigt eine kleine weiße Wolke empor, die sofort wieder verschwindet. Doch es ist nicht kalt, im Gegenteil, mir ist angenehm warm und die Sonne, die zwischen den Baumkronen hervorblinzelt, bestärkt dieses Gefühl in mir. Ich bin so glücklich und zufrieden und fühle mich vollkommen ausgeglichen. Und obwohl ich ganz allein in diesem Wald bin, fühle ich mich nicht einsam und habe keine Angst. Ich bin ausgefüllt und mein einziger Wunsch ist es, diesen Weg entlang zu gehen, durch diesen wunderschönen Wald mit den schneebedeckten Bäumen. Und ich genieße es, die frische, kühle Luft einzuatmen, die Augen zuzukneifen, wenn mich ein Sonnenstrahl, der es geschafft hat, durch das dichte Geäst hindurchzukommen, blendet, immer mit dem knatschenden Geräusch meiner Stiefel, an denen der Schnee teilweise haften bleibt, im Ohr. Und wenn ich an diese wunderschöne Landschaft denke, dann sehne ich mich dorthin zurück, um nur einmal wieder dieses Gefühl der Ruhe zu spüren, doch dann erinnere ich mich an das Ende des Traumes und habe plötzlich nicht mehr das Bedürfnis, dort zu sein. Der Weg, von dem ich dachte, er würde ewig weitergehen, endet plötzlich in einer Kreuzung. Ich stehe nun vor zwei Wegen, die völlig unterschiedlich sind und zwischen denen ich mich jetzt entscheiden muß. Der eine ist besäumt von kleinen, mageren Bäumen, die mit ihren kahlen und abgebrochenen Ästen wie unglückliche Geschöpfe aussehen. Die Erde ist trocken und brüchig, als ob sich in jedem Moment die Erde auftun könnte, um alles zu verschlingen, was wächst und lebt. Es scheint keine Sonne, man hat den Eindruck als hätte es sie nie gegeben. Alles sieht grau und ausgeblichen aus, und ich habe das Gefühl, daß, wenn ich diesen Weg einschlüge, auch ich langsam an Farbe verlieren würde. Deshalb gehe ich den anderen Weg entlang, der so ist, wie ich ihn kenne, und bei dem ich mich sicher fühle. Ich komme noch zu vielen solcher Abzweigungen, wo ich mich jedesmal zwischen diesen beiden Arten von Wegen entscheiden muß. Und immer wieder wähle ich den gleichen- den einfacheren. Und wie ich so diesen Weg entlang gehe, sehe ich plötzlich in weiter Ferne ein schwarzes Loch, in das meine wunderschöne Landschaft verschwindet. Ich bleibe stehen und frage mich, was ich tun soll. Schließlich entscheide ich mich, einfach zurückzugehen, doch als ich mich umdrehe, sehe ich, wie sich der ganze Wald verändert. Die Bäume werden immer kahler, es ist weit und breit kein Schnee mehr zu sehen, statt dessen kahle, mickrige Gestalten, die unnatürlich aus dem aufgerissenen, trockenen Boden herausragen. Alles wird nach und nach immer grauer und dunkler und ich muß zusehen, wie sich meine schöne Winterwelt in das verwandelt, vor dem ich die ganze Zeit weggelaufen bin- nämlich vor dem Weg, den ich bisher immer gemieden hatte. Plötzlich packt mich die Angst, als ich sehe, daß die Verwandlung des Waldes immer weitere Ausmaße annimmt und immer näher kommt. Ich gerate in Panik und will weglaufen, doch ich weiß, daß auf der anderen Seite dieses schwarze Loch auf mich wartet. Verzweifelt schreie ich um Hilfe, drehe mich wieder um und sehe mit weitaufgerissenen Augen dem schwarzen Loch entgegen mit der Gewißheit, daß mich jeden Moment die Dunkelheit der Verwandlung erfaßt. In diesem Augenblick wache ich auf und schaue erschrocken um mich. Ich suche das Loch, den Wald, doch es ist alles verschwunden.
Und jetzt sitze ich hier und frage mich, warum dieser Traum so ausgegangen ist, was ich falsch gemacht habe. Woher hätte ich denn wissen sollen, welchen Weg ich nehmen muß? Warum habe ich nicht eine zweite Chance bekommen und konnte den Weg noch einmal zurückgehen? Ich bin seit diesem Traum so unsicher und weiß nicht, ob ich die richtigen Entscheidungen treffe. Bete für mich, liebes Tagebuch, daß ich nicht irgendwann in diesem schwarzen Loch ende und mich die Vergangenheit einholt. Mir ist klar geworden, daß der bessere Weg nicht immer der richtige sein muß, doch werde ich das auch im richtigen Moment erkennen?