Ein Traum
Ich träume sehr oft. Daran ist wohl nichts Besonderes aber vor einigen Jahren hatte ich einmal einen ganz merkwürdigen Traum, den ich bis heute nicht vergessen konnte.
Ich stand in einem sterilen weißen Raum und um mich herum war nichts außer schneeweißen Wänden. Doch sie bewegten sich. In immer wiederkehrenden Formationen wanden sie sich um mich herum. Es war nicht beängstigend, sondern nur faszinierend für mich. Ich sah dem Ganzen eine Weile zu bis ich bemerkte, dass neben mir plötzlich ein Junge stand und mich traurig anblickte. Ich betrachtete ihn. Er war etwa sechs Jahre alt, hatte kurze blonde Haare und tiefblaue Augen. er sah ein wenig verwahrlost aus. Ich wusste nicht warum, aber sein Blick machte mich unendlich traurig. Was hatte er nur? Innerlich spürte ich, dass ihm etwas ganz Schlimmes zugestoßen sein musste. Ich wollte ihn fragen, was denn los sei und warum er so traurig war, doch ich konnte nicht sprechen. Der Junge sah mich weiter an, doch nun umspielte ein wissendes Lächeln seine Lippen. Ich wusste nicht, was los war. Ich versuchte wieder zu sprechen, doch meine Stimme versagte mir erneut den Dienst. Der Junge führte einen Finger an seine Lippen und irgendwo in meinem Kopf hörte ich ihn sagen: "Psst. Sonst kannst du es nicht sehen." Was, warum, wo? Ich bekam Panik. Was sollte das denn bedeuten? Ich sah ihn fragend an, doch er deutete nur wortlos an die Wand. Doch ich sah nichts. Ich wollte nur weg. Weg von dem traurigen Jungen, weg von den pulsierenden Wänden, einfach nur weg. Plötzlich wurde mir schwindelig, der Raum fing an sich zu drehen und ein fast unerträglicher Schmerz bohrte sich immer tiefer in meinen Kopf hinein. Was war hier nur los? Dann, ganz langsam, drehte sich der Junge zu mir, sah mich ernst an und zuckte mit den Schultern. Danach spürte ich nichts mehr.
Röchelnd wachte ich in meinem Bett wieder auf. Was war geschehen? Zitternd vor Furcht und Kälte schlang ich die Arme um meinen Körper und versuchte wieder klar zu werden. Ich konnte mir keinen Reim auf das eben Erlebte machen.
Ich spürte förmlich die Anwesenheit des fremden Jungen, doch ich war alleine im Zimmer. Oder etwa nicht? Spürte ich nicht einen eisigen Windhauch, der mich streifte? Sah ich nicht dürre Schatten, die sich an den Wänden entlangschlängelten? Oh Gott, jetzt fing ich schon an zu fantasieren. Das Fenster war offen und die tanzenden Schatten waren nur meine Gardinen, die sich im kalten Nachtwind bewegten. Erleichtert stand ich auf um in der Küche ein Glas Milch zu trinken. Vielleicht konnte ich dann ja wieder einschlafen. Ich öffnete den Kühlschrank und schrak zurück. Dort wo vorher Wurst, Milch, Joghurt und sonstige Lebensmittel standen, war nur noch endlose Leere. Die Wände schienen sich zu bewegen. Doch dann erschien inmitten dieser weißen Leere der fremde Junge. Er hob mir die Hände entgegen, so als wolle er mich um Hilfe bitten. Doch wie sollte ich ihm helfen? Ich taumelte zurück, meine Augen noch immer auf den Miniaturjungen gerichtet, dessen Blick sich tief in meine Seele zu bohren schien. Ich spürte eisige Kälte, die mich immer mehr der Bewusstlosigkeit entgegentrug. "Nein, ich will nicht...", dachte ich noch, doch dann befand ich mich schon wieder in diesem merkwürdigen Raum. Das Kind zeigte wieder auf irgendetwas an der Wand. Ich ging näher heran um zu sehen, was er mir zeigen wollte. Plötzlich sah ich einen verschwommenen braunen Fleck an der Wand, der sich nicht bewegte. Ich berührte ihn mit meinen Fingern. Er war kalt und rauh. Dann hörte ich wieder die Stimme in meinem Kopf: "Geh noch näher ran, dann kannst du es sehen. Und sei ganz still. Hilf mir bitte." Ich hielt den Atem an und trat so nah an die Wand, dass meine Nasenspitze sie schon fast berührte. Plötzlich sah ich es. Der Fleck fing an sich vor meinen Augen zu verändern, er nahm langsam Form an. Eine Scheune war zu sehen, davor stand ein alter Traktor. Das Scheunentor war weit offen. Um das Gebäude herum wuchsen viele Apfelbäume und an einem lehnte eine Leiter. Es war kein Fleck, es war die ganze Zeit ein Bild gewesen, doch ich hatte es nicht sehen können. Das also hatte das Kind mir zeigen wollen. Doch was hatte das Bild zu bedeuten? Die Scheune kam mir bekannt vor, doch ich konnte sie nicht einordnen. Wo war sie nur und was sollte damit gemeint sein? Fragend sah ich den Jungen an. Er blickte zu Boden und wieder hörte ich ihn in meinem Kopf: "Du bist meine einzige Hoffnung. Versuch doch es zu verstehen. VERSTEH es. Bitte!" Dann wurde wieder alles verschwommen.
Ich rang nach Luft. Wo war ich? Ich lag wieder in meinem Bett, schweissnass und zitternd. Hastig stand ich auf, zog mich an und rannte zu meinem Auto. "Was mache ich hier nur?", dachte ich verzweifelt. Irgendwo in meinem Verstand regte sich etwas. Ich musste schnell zu dieser Scheune kommen, doch wie? Plötzlich fiel es mir ein. Der Hof auf dem Bild war der von Bauer Huber, etwas außerhalb der Stadt. Als Kind habe ich oft bei ihm gespielt. Doch der Hof war seit Jahren verlassen, was also sollte ich dort? Intuitiv fuhr ich den richtigen Weg zum Hof, obwohl ich ihn bestimmt zehn Jahre nicht mehr gefahren war. Nach etwa 15 Minuten sah ich die Scheune, die sich gegen die aufgehende Januarsonne abzeichnete. Ich fuhr die Auffahrt hinauf und sah genau die Szenerie vor mir, die ich schon auf dem Bild gesehen hatte. Ich rannte in die Scheune und sah mich um. "Wo bist du? Ich bin hier!", rief ich laut. Keine Antwort. Systematisch begann ich die Scheune abzusuchen. Weiter hinten bemerkte ich plötzlich ein grosses Loch in dem morschen Holzboden. Ich rief nochmal nach dem Jungen, doch wieder bekam ich keine Antwort. Instinktiv suchte ich nach einer Tür oder einer Treppe, die hinunter führte. Doch es standen schwere Maschinen und Arbeitsgeräte auf beiden Seiten des Gebäudes, so dass Türen ohnehin verdeckt sein würden. Dann suchte ich nach einer Leiter um in das Loch zu kommen. "Am Apfelbaum!", fiel mir siedendheiss ein. Ich hetzte hinaus, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Dort war sie! Ich schnappte mir das sperrige Ding und schleifte sie zurück in die Scheune. Vorsichtig kletterte ich die Sprossen hinunter. Hier unten war es eisig kalt. Das musste wohl eine Art Lagerraum für die alten Möbel des Bauern sein. Mein Blick streifte einen alten Gasherd ohne Ofenklappe, ein Sofa, einen defekten Kühlschrank und eine verwitterte Holzkiste, wahrscheinlich für Werkzeug. Moment mal. Ein Kühlschrank? Ich eilte in die Ecke, in der er stand und öffnete die Tür. Ein Paar ängstlicher Augen blickten mich an. Dort lag doch tatsächlich der kleine Junge aus meinem Traum frierend und schmutzig an die Rückwand gekauert. Schnell zog ich ihn heraus. "Geht es dir gut", fragte ich ihn aufgeregt. Er sah mich nur mit grossen Augen an. Gott, war der kleine Körper in meinen Armen kalt. Er musste schnellstens in ein Krankenhaus. Ich trug ihn, immer noch geschockt von dem erbärmlichen Anblick des Jungens, die Stufen hinauf. Vorsichtig lagerte ich das Bündel auf dem Rücksitz und fuhr in das nächste Krankenhaus in die Stadt zurück. Dort übergab ich ihn den diensthabenden Schwestern und Ärzten und setzte mich bibbernd vor Angst und Kälte in den Warteraum. Was war da eben nur passiert? Ich konnte es mir nicht erklären.
Nach einer schier endlosen Stunde kam der Arzt herein. "Er schläft jetzt. Wir haben ihn aufgewärmt und ihm Flüssigkeit zugeführt. Wie ist das überhaupt passiert?", fragte der Arzt mich. Ich erzählte ihm nur, wie ich ihn aufgefunden hatte, denn das mit dem Traum würde er mir nicht glauben. Er sagte mir, dass ich ihn im letzten Moment hergebracht hätte, denn nur eine halbe Stunde später wäre das arme Kind erfroren gewesen. Ein paar Minuten später betrat eine Schwester den Raum. "Ich habe gerade mit dem städtischen Kinderheim telefoniert und die haben einen Jungen, der auf die Beschreibung passt, als vermisst gemeldet. Er ist schon gestern früh nach einem Ausflug auf´s Land verschwunden. Anscheinend hat er sich verlaufen und ist in dieses Loch gefallen. Er hat sich wohl in den defekten Kühlschrank gekuschelt, weil das der einzige Platz war, an dem er sich wenigstens ein bisschen vor der Kälte schützen konnte. Er muss einen aufmerksamen Schutzengel gehabt haben, denn sonst wäre er jetzt nicht mehr am Leben. Der arme Kleine konnte ja noch nicht mal um Hilfe rufen!" sagte sie mitgenommen zu mir. "Warum denn nicht?", fragte ich verwundert. "Der Kleine ist taubstumm, wussten sie das nicht?", antwortete die Schwester überrascht.
Geschockt ließ ich mich auf einen Stuhl fallen. Deswegen also hatte er auf mein Rufen nicht geantwortet.
Als ich mich vergewissert hatte, dass Jonas, so hieß der Kleine nämlich, gut versorgt wurde, fuhr ich gemächlich nach Hause. Ich wusste zwar nicht, wie ich mir das erklären sollte, doch ich war einfach nur glücklich, das Jonas noch am Leben war.
Nach einer Riesenmütze voll Schlaf ging ich mittags wieder in das Krankenhaus. Diesmal war Jonas wach und sah mich dankbar an. Er streckte mir die Arme entgegen und ich drückte ihn glücklich an mich. Jonas und ich hatten einen ganz bestimmten Draht zueinander und verstanden uns auch ohne Worte. Nach ungefähr zwei Wochen setzte ich mich mit dem Jugendamt und dem städtischen Kinderheim in Verbindung und was glaubt ihr nun? Jetzt lebt Jonas bei mir. Ich habe ihn adoptiert und nun habe ich MEINEN Engel gefunden. Ich habe bis heute keine Erklärung für das Ganze, aber ist das jetzt nicht egal?
Es war das letzte Mal, dass ich einen solchen Traum hatte.
[ 30.07.2002, 10:11: Beitrag editiert von: ivy ]