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Ein Traum
Eine Kurzgeschichte von Anja Albus
Ein Traum, der so real erscheint, dass man befürchtet, er könne Wirklichkeit sein. Ein Leben, das so trügerisch dahin schleicht, dass man meint, es wäre ein Traum. Ist es Realität, oder Illusion?
Martina sitzt am Bett ihres Kindes. Es ist dunkel. Durch das Fenster dringt der Schein der Straßenlaterne und hin und wieder auch der Lichtstrahl eines Autoscheinwerfers, der wie zufällig das Zimmer erhellt.
Sie hält die kleine Hand ihres Sohnes fest in ihrer Hand, drückt sie an sich und spürt seine Wärme. Wie weich seine Glieder sind, wie dünn und lang die schmalen Finger. Mit der Unterseite ihres Daumens fährt sie unablässig über seine Fingernägel hinweg, nur ganz leicht,um den zarten Druck auf ihrer eigenen Haut zu spüren.
Es ist still in dem Zimmer. Nur jede Stunde schlägt die Uhr der Elisabethkirche und ihr leises Klong dringt durch das geschlossene Fenster. Der Atem des Knaben geht eintönig und leise, er wirkt einschläfernd und gedämpft, lädt ebenfalls zum schlafen ein.
Doch Martina will nicht schlafen. Sie sitzt nur da, hält die Hand ihres Kindes und lächelt bei jedem zufälligen Lichtschein, der auf sein Gesicht fällt.
Ihre Augen sind müde, ihr Rücken schmerzt, ihr Magen knurrt und doch merkt sie es nicht. Denn etwas anderes ist ihr wichtiger, so wichtig, dass es ihre eigenen Bedürfnisse weit in den Schatten stellt.
Plötzlich scheint sein Körper aus der Eintönigkeit des Schlafes zu erwachen. Seine lang ausgestreckten Beine zucken ruckartig, seine Hand gleitet aus der Berührung seiner Mutter. Sein Atem geht schnell und unruhig und der Junge zittert am ganzen Leib.
Martina richtet sich auf. Jetzt ist es also soweit. Steht ihr nun der Moment bevor, den sie schon so lange fürchtet? Das Blut weicht aus ihrem Kopf und hinterläßt ein leichtes Gefühl des Schwindels. Sollte sie den Knopf drücken?
Sie beugt sich über ihr zappelndes Kind, seine Bewegungen werden immer schneller, ruckartiger und unmenschlicher. Trotz der Dunkelheit kann sie seine weißlich schimmernden Gesichtszüge erkennen, die so verzerrt sind, dass das Gesicht kaum noch Ähnlichkeit mit ihrem Jungen aufweist.
Ein leises Röcheln schlägt ihr entgegen und es klingt fast wie ein Wort. „Hilfe“. Ihr Sohn schrie danach, ja bettelt förmlich darum. Sie schaut ihn nur an, beugt sich noch tiefer über ihn und eine Träne löst sich aus ihrem Auge und benetzt sein Gesicht.
Ihre Hand greift nach dem Kabel, an dessen Ende sich ein runder, roter Knopf befindet. Sie fühlt das kalte Plastik, spürt mit ihrem Daumen die leichte Vertiefung des Schalters, doch sie drückt ihn nicht.
Wieder tritt eine Träne aus ihren Augen, kullert über ihre Wange und fällt herab zu ihrem Sohn. Seine Bewegungen werden nun wieder ruhiger, geräuschvoll rasselt sein Atem, doch weniger eintönig als zuvor. Seine Arme und Beine entspannen sich zusehends, die Gesichtszüge wandeln sich von einem Fremden zu einem Bekannten.
Dann wird es still. Das Rasseln verschwindet, kein Beben mehr, kein Glockenschlag.
Am nächsten Morgen öffnet Martina die Augen. Sie liegt im Krankenzimmer neben dem Bett ihres Sohnes. Gerade hat die Schwester das Fenster geöffnet, um ein wenig frische Luft in das stickige Zimmer zu lassen. Er liegt ganz entspannt da, sein Gesicht ist blass, doch sein Brustkorb hebt leicht das weiße Laken auf und ab. Seine Haut wirkt transparent, seine Arme dünn und ausgemergelt.
Martina steht leise auf, schreitet langsam zu seinem Bett herüber und drückt einen sanften Kuss auf die Stirn ihres todkranken Kindes. Dann ergreift sie seine Hand.