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- Anmerkungen zum Text
Dies ist die erste Kurzgeschichte, die ich hier veröffentliche. Ich freue mich schon auf eure Anmerkungen.
Ein Traum von Wärme
Die Regenwolken hingen schwer und dunkel am Abendhimmel. Seit Tagen hatte es geregnet. Auch heute hatte es den ganzen Tag geschüttet, aber nun nieselte es nur. Zum Glück. Der Bahnsteig lag nass vor ihr. Das Licht der künstlichen Beleuchtung spiegelte sich auf dem nassen Asphalt. Die Feuchtigkeit kroch ihr in die Knochen. Sie schob ihre Hände in die Jackentaschen um sie zu wärmen. Ihre Finger waren schon taub vor lauter Kälte. Eigentlich wunderte es sie, dass es nicht schneite, so kalt war es. Warten. Sie betrachtete die großen Werbeplakate auf der anderen Seite der Gleise. Der Regen der letzten Tage hatte auch dort seine Spuren hinterlassen. Eines der Plakate hatte sich bereits von der Wand gelöst und hing traurig an einer Ecke nach unten. Die S-Bahn sollte in wenigen Minuten kommen.
Sie sah auf die Anzeige über dem Bahnsteig. Eigentlich sollte der nächste Zug gleich kommen. Doch der Bildschirm bliebt leer.
Es begann stärker zu regnen. Eine nasse Strähne klebte auf ihrer Stirn. Sie schob sich zu den anderen Wartenden unter den Unterstand. Es gab zwar keinen Sitzplatz mehr, aber Schutz vor dem Regen. Einer der anderen Wartenden rauchte. Es roch nach feuchter Wolle und Zigaretten, aber der schwere Gestank war immer noch besser als die nasse Kälte.
Der Regen trommelte laut aufs Dach. Die Neonröhren der Beleuchtung surrten in einer Frequenz, die ihr in den Ohren weh tat. Sie beobachtete, wie mehrere Busse den Bahnhof anfuhren. Die Türen öffneten sich, ein Gewühle von Menschen ergoss sich auf den Gehweg und verstreute sich in alle Richtungen. Einige hielten ihren Kopf nach unten, um sich vor den Regentropfen und der Kälte zu schützen, andere spannten einen Schirm auf.
Die meisten Leute strömten auf den Bahnsteig, vom Zug fehlte weiterhin jede Spur.
Am Himmel zogen die grauen Regenwolken immer mehr zusammen. Mehr und mehr Menschen drängten unter den Unterstand. Sie wurde von einer älteren Frau unsanft zur Seite geschoben. „Hey“, sagte sie in einem scharfen Ton. Die ältere Frau stierte sie mit einem grimmigen Blick an. Sie schüttelte den Kopf und sah zur Anzeige. Keine neue Info, wann die S-Bahn kommen sollte. Eigentlich sollte sie im Zug sitzen, auf dem Weg nach Hause. Nach Hause, dachte sie. Dahin, wo es warm und trocken ist. Sie rieb ihre Hände aneinander. Wieder wurde sie angerempelt, diesmal von hinten. Sie war nun nur noch Zentimeter vom strömenden Regen entfernt.
Vor ihr lag der nasse Bahnsteig, Regentropfen fielen in die Pfützen und spritzten in alle Richtungen. Ihre Hose war bis zu den Knien durchnässt und sie fror. Ihre Füße waren bereits so nass und kalt, dass sie sie kaum noch spürte. Sie presste ihre Arme fester an ihren Körper um nicht bis auf die Knochen durchzufrieren. Zuhause, dachte sie, würde sie sich ein heißes Bad einlassen. Ein Bad mit viel Schaum, das nach Eukalyptus riecht. Vielleicht würde sie in der Wanne ein Glas Wein trinken.
Sie gab sich dem Traum von der heißen Badewanne hin, als plötzlich eine blecherne Stimme über den Bahnhof voller Menschen ertönte. „Aufgrund eines schadhaften Zuges verzögert sich die Weiterfahrt noch um zehn bis zwanzig Minuten.“ Gemurmel wurde auf dem Bahnsteig laut, einige der Wartenden stöhnten laut auf. Unter dem Unterstand wurde wieder kräftig gerempelt. Ihre Laune sank. Die heiße Badewanne lag plötzlich wieder in weiter Ferne. Sie hatte plötzlich das Gefühl, für immer auf diesem kalten, nassen und stinkenden Bahnsteig bleiben zu müssen. Ihr fiel eine Liedzeile ein, die sie am heutigen Tag gehört hatte. „Frust kommt auf, denn der Bus kommt nicht...“ Nun, es war nicht der Bus, sondern die Hamburger S-Bahn, die da nicht kam, aber der Frust war auf jeden Fall da. Und nicht nur bei ihr. Hinter ihr regten sich einige der Wartenden laut auf. Außerdem hörte sie, wie weiter unten jemand auf die Gegensprechanlage des Infopunktes einbrüllte. Jemand stieß sie von hinten in den Rücken. Sie drehte sich um. „Können Sie nicht aufpassen? Sie stehen hier nicht alleine“, motzte sie die ältere Frau von vorher an.
Sie verließ den Unterstand und ging im Regen den Bahnsteig hinunter. Fast ganz am Ende stand eine große Uhr, dort würde sie sich unterstellen.
Die Uhr bot nicht den gleichen Schutz vor dem Regen wie der Unterstand, doch war die Luft hier nicht stickig und die Stimmung nicht aufgeladen.
Der Regen trommelte auf ihre Schultern und ihren Kopf. Dicke, kalte Regenwassertropfen liefen ihre Schläfen hinunter. Ihre Haare klebten nass auf ihrer Stirn. Mit klammen Fingern schob sie eine Strähne hinter das linke Ohr. Sie hatte das Gefühl, ihre Haare würden an ihrem Kopf festkleben. Falls sie jemals Zuhause ankommen würde, würde sie heiß baden. Danach würde sie sich in ihren warmen, weichen Bademantel kuscheln. Sie würde ihre Haare mit dem Fön trocknen und sich dann in ihr warmes Bett legen.
Die Luft wurde kälter. Ihr Atem kondensierte vor ihrem Gesicht zu weißem Dampf. Sie sah nach oben – aus dem Regen war Schnee geworden. Dicke, weiße Flocken fielen sanft auf ihre Schultern. In der Ferne sah sie zwei weiße Lichter näher kommen. Die Bahn fuhr ein, die Türen öffneten sich. Sie stieg in den Zug. Die warme Badewanne war nun nicht mehr fern.