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Ein Traum im Verborgenen
Ein Traum im Verborgenen
In einer längst vergessenen Zeit, an einem fremden Ort wandere ich eine Allee entlang. Es ist Frühling. Am Rande bemerke ich die Kirschbäume, deren Blütenblätter auf mich wie rötliche Schneeflocken herabfallen. In meinem Kopf tönt immer noch die selbe Melodie. In meinen Gefühlten tobt ein Sturm aus bittersüßer Melancholie und etwas, das sich nur noch als himmelhoch jauchzend beschreiben lässt.
Ich hasse dieses Wechselbad! Auch wenn es mich nur selten heimsucht, ist es dieses Mal anders. Neugierig gebe ich mich in meinem Halbschlaf weiter dem Traum hin. Nun erkenne ich auch aus der Ferne meinen Körper. Ich trage die Kleidung eines asiatischen Schwertmeisters. Die weite Überhose, auch ‚Hakama’ genannt, ist braun gefärbt. Auf meiner linken Seite trage ich ein wundervoll gearbeitetes Langschwert. Die Stimmung ist friedlich, aber gespannt.
Diese Melodie in meinem Kopf. Sie macht mich einerseits rasend und andererseits auch traurig.
Ich erkenne, wie meine Hand zu dem Griff des Schwertes gleitet. Die Klinge fühlt sich leicht und ausgewogen an. Immer noch wandere ich auf dieser Allee aus Kirschbäumen, die langsam ihre Blüten verlieren. Für einen Moment lang sehe ich nichts mehr. Als ich wieder zu mir komme, hat sich jedes einzelne Blütenblatt in eine Träne verwandelt. Mir kam es so vor, als ob jemand um mich weinen würde...
Weit entfernt in der Wirklichkeit höre ich meinen Namen: „Tristan!“ Erst beim zweiten Mal reagierte ich mit einem fragenden Blick. Meine Sinne wurden wieder der knisternden Wärme eines Feuers gewahr. Verwirrt sah ich mich um – tastete nach meinem Stein, den ich immer um den Hals trage. Nun weiß ich wieder, wo ich bin. In dem Spiel von Licht und Schatten, auf einem Holzklotz steht meine alte Tasse aus Birkenholz, in der sich die Flammen des Feuerscheines spiegeln.
Marianna sah mich fragend von der Seite an: „Was ist los mit dir, Tristan? Ich möchte gerne wissen wie die Geschichte weiter geht.“ Verdutzt hebe ich die Augenbrauen. Stimmt, da war noch irgend etwas – ich hatte begonnen eine Geschichte zu erzählen, die ich bisher nicht vollendet hatte. "ich hatte begonnen eine Geschichte zu erzählen, die bis jetzt noch nicht vollendet war.
Langsam nahm ich einen Schluck Wasser aus meiner Holztasse und füllte mir aus einem Krug wieder neues nach. Der Wind rauschte leise an meinem Ohr vorbei, als wollte er mir Mut machen. Die Flammen knisterten und prasselten fröhlich wie ein unaussprechliches Lächeln. Nachdenklich blickte ich noch einmal in die gefüllte Tasse, bevor ich sie auf die Seite stellte. Ein Stern verlosch am fast wolkenlosen Nachthimmel und sprach mir noch einmal Mut zu, endlich zu beginnen.
Ich zupfte meinen rechteckigen Mantel zurecht, der mit zwei Spangen über der Schulter zusammen gehalten wurde. (Im offenen Zustand hätte er an eine schäbige alte Decke aus abgewetztem braunen Loden erinnert.) Darauf nahm ich meine kleine Trommel in die Hand und setzte mich noch ein letztes Mal zurecht. Mit warmer, leiser Stimme erzählte ich die Geschichte weiter, welche ich bereits begonnen hatte. Die Zeit verlor wieder ihre Bedeutung. Die Umgebung verschmolz mit meiner Geschichte zu einer anderen Dimension. Nachdem ich diese Geschichte beendet hatte, sah mich Marianna fragend von der Seite an. Die Flammen hatten mich wieder in eine andere Kultur und eine andere Welt getragen.
Die Klänge meiner Trommel, die ich leise zu manchem Wort schlug wurde zu den Schwerthieben eines Kriegers. Stark wie ein Baum und geschmeidig wie der Wind zugleich. Mein geistiges Auge sah ein unaussprechliches Blutbad, während in meinem Mund die Worte versiegten. Der Feuerschein zeichnete einen merkwürdigen Gesichtsausdruck auf meinen Kopf. Die Geschichte war vorbei.
Stumm streckte ich mich neben den Flammen aus und ließ die Trommel sinken. Ich griff mit meiner linken Hand hinter mich in meinen Gürtel, um meine Flöte hervorzuziehen. Kaum hörbar, mit bleierner Zunge stimmte ich eine sehr alte Melodie an, die aus Salzburg stammte. Es war eine feierlich–traurige Prozession, mit der ich meinem zerfahrenen Denken eine Stimme, einen Ausdruck geben wollte. Meine Gedanken verschmolzen mit der Musik, schweiften auf den Schwingen der Klänge in die Ferne und fanden schließlich ihren eigenen Rhythmus im Dunkel der Nacht. Marianna hatte unbemerkt meine Trommel ergriffen und fing an, mit einem doppelseitigen Schlegel einen Takt zu schlagen. Ihre Schläge wurden schneller und schneller; peitschten meine Finger voran. Aus der Melodie wurde ein Tanz, und aus dem Tanz wurde ein Aufschrei meiner widersprüchlichen Gefühle, die ich versuchte, in geordnete Bahnen zu bändigen.
Unbemerkt glitt ich wieder in eine andere Bewusstseinsebene ab. Meine Gedanken flogen fort. Hinüber in eine andere Welt. Ich sah mich wieder in dieser merkwürdigen Kleidung und mit dem schlicht aber beeindruckend gearbeiteten Schwert unter einem alten Kirschbaum sitzen. Meine Augen waren geschlossen, sodass ich zu der Ansicht kam, in meinem seltsamen Traum zu meditieren. Undefinierbare Schatten umschwirrten mich in diesem Traum.
Endlich beendete ich das Lied und mein Geist begann, sich für die Schönheit dieser Nacht zu interessieren. Meine Sinne lauschten in die Nacht hinaus um eine neue Geschichte oder ein neues Lied zu erhaschen. Die Flammen des Feuers wurden kleiner und kleiner. Ein feines glockenhelles Lachen drang an mein Ohr. Mariannas Augen flackerten wie Wellen im Mondlicht. Erst jetzt bemerkte ich, dass sich in der Zwischenzeit mehrere Leute um das Feuer versammelt hatten. Marianna verteilte notdürftig einige Holzklötze zum Sitzen. „Spiel oder singe bitte noch ein Lied, Tristan“, bat sie mich. Ich, Tristan, schloss meine Augen und besann mich auf meinen Atem. Als der sanfte Abendwind mein Haar liebkoste, begann ich, eine wunderschöne aber schmerzvolle Ballade zu singen. Zuerst leise und verzagt, erzählte sie von einem Spielmann, den ein Adeliger missachtete und schließlich selbst durch seinen eigenen Hochmut ums Leben kam. Nachdem ich verstummt war, schloss ich erneut meine Augen und lauschte auf die Klänge des kühlen Abendwindes und der Geräusche, die von den alten Mauern dieser Burgruine an mein Ohr drangen. Unter mir schimmerte im nächtlichen Dunkel der Vater aller Flüsse. Sein Herz pochte für meine Sinne langsam und schwerfällig dahin. Wieder suchte mich eine Welle zerfahrener Gedanken heim. Dieses Mal verdrängte ich sie nicht, sondern versuchte, den Phantasien und Gestalten einen Namen – und sofern sie es noch nicht hatten – ein Gesicht zu geben. Um mir eine Pause zu gönnen, bat ich meine Begleiterin Marianna um ein Lied oder eine Geschichte. Sie begann, gleich einer Minnesängerin von der Liebe eines jungen Mannes zu erzählen. Das Ende ließ sie jedoch wie jedes Mal offen und hüllte sich in ein schweigendes Lächeln. Als ich mich umsah, waren nur noch wenige Zuhörer anwesend. Ich erkannte, dass es weit nach Mitternacht sein musste, als ich leise die Trommel neben mir abstellte und aus einem Ledersäckel etwas dunklen Weihrauch hervor zog. Mit einer unbeschreiblichen Ruhe streute ich eine Prise davon in die verschwindende Glut. Ein schwerer, süßlicher Rauch stieg mir und den anderen in die Nase. Zusammen mit dem frischen Holz verströmte dieser Duft eine Art magische Atmosphäre, die ich für meine nächste Geschichte verwenden könnte. Ich griff nach meiner Lederkette mit dem Bernstein und begann mit fester und warmer Stimme: „Liebe Freunde! Die folgende Geschichte erzählt die Nacht selbst. Marianna, leg bitte noch ein Scheit Holz in die Glut, damit unsere Freunde nicht frieren. Und nun liebe Reisende, von nah und fern; öffnet eure Herzen für den Zauber von Sonne und Mond...“ Mein Atem begann unwillkürlich zu beben. Während mir Marianna ihre Hand auf den Arm legte, machte ich eine kurze Pause um mich wieder zu sammeln. Hoffentlich schlägt sich meine Aufregung nicht in meiner Sprache nieder. Die Spannung steigt ins Unerträgliche, bevor ich fortfahre: „... Entdeckt einen Funken in euch, der zu neuem Leben erwacht ist. Lasst euch von dem Weihrauch die schlechten und schweren Gedanken vertreiben. Dies wird meine letzte Geschichte in dieser Nacht.“ Das Erzählen gestaltete sich leichter, als ich dachte. Dieses Mal war es nur anders. Ich bekam die Ahnung, dass sich meine Stimme nahtlos in die Geräusche der Nacht eingliederte. Die Grillen woben mit ihrem Gezirpe die Musik dazu, eine Eule unterstrich die schaurigen Momente mit ihren Rufen und das Rauschen des Vaters aller Flüsse trug die Sehnsüchte der Zuhörer in die Nacht hinaus.
Marianna schichtete für mich die Glut zusammen. Auch wenn wir als Wanderer in einer modernen Welt leben, sind die einfachen Dinge wie Zunder, Feuerstein und Eisen äußerst kostbar. Müde rollte ich mich in meinen Mantel ein und streckte mich auf einem Fell aus. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass Marianna nicht schlafen konnte. Ihre Gedanken waren immer noch bei mir. Ich selber wälzte mich unruhig auf meinem Schlafplatz. Schließlich schlief sie am Feuer ein. Da ich nicht schlafen konnte, stand ich auf, nahm eine zweite Decke aus meinem Tragegestell und bettete sie auf einem zweiten Fell mit ihrem Mantel zur Ruhe. In ihrem Gesicht spiegelte sich ihr Geist, der sich zu einem verborgenen Traum erhob. Um in der Weite der dahinschwindenden Nacht Gestalt anzunehmen und mehr als tausendfach zu leben.