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Ein Tortenstück
„Oh, nein …“
Warum musste ihm das ganze Ausmaß der Tragödie gerade jetzt bewusst werden, jetzt, wo alles bereits zu spät war. Prinzipus Kohn hätte sich selbst geohrfeigt, würde er nicht halb nackt in einer hohlen Torte hocken und ziemlich bewegungsunfähig sein.
„Oh, nein … Oh, nein …“
Schuld war eigentlich seine Mutter. Wer nannte seinen Sohn schon Prinzipus? Sicher, sie war traditionsbewusst und der älteste in den Familienchroniken genannte Urahn hieß Arachnos. Vermutlich war es der griechische Klang dieses Namens, der ihr hellenische Hochkultur vorgaukelte und sie zu dieser Wahl veranlasste. Dabei war Arachnos nicht einmal Grieche. Vielmehr sollen es die stark behaarten, aber extrem dünnen Beine des damaligen Säugling gewesen sein, die namensgebend wirkten. Aber wahrscheinlich war auch nur dessen Mutter schuld. Überhaupt, die Frauen. Sie hatten den Kohns nie Glück gebracht, wie Prinzipus nur zu gut wusste, jetzt – in einer Torte und viel zu spät. Dabei kannte er doch die Familienchronik.
Keiner seiner männlichen Vorfahren war alt geworden. Im Normalfall waren sie nach Eintritt in den Ehestand und planmäßiger Fortpflanzung verunfallt und immer waren Frauen schuld daran, oftmals die eigenen. Sein Vater war am Mittagstisch gesessen, hungrig auf Pfannkuchen wartend, als sich die Pfanne, in der Prinzipus’ Mutter die Kuchen mit eleganten Schwüngen vorbereitete, vom Stiel löste und ihn tödlich am Hinterkopf traf. Ein anderer Vorfahr wurde von einem Kaktus erstochen, der seiner Frau bei Umräumarbeiten aus der Hand fiel. Den Vogel abgeschossen hatte ein früherer Verwandter, der das Sonnenbad seiner Frau in einem Freibad mit Sonnencreme unterstützen wollte, zuviel davon erwischte, über den wohlgeformten Rücken seiner Frau ausrutschte, einen Salto machte, sich noch aufrappelte und sagte: „Nichts passiert“, als er an dem Siegerkern erstickte, welcher nach dem Kirschkernweitspucken einer Mädchengruppe unschuldig daher flog. Selbst jener seiner Ahnen, der eremitisch in einer Waldhütte lebte, wurde bei seiner täglichen Sitzung im Außenklo von einer Bärin erwischt, die wohl zu lange gewartet hatte.
Und jetzt war wohl er dran. Er hörte sie bereits kommen. Sirenengekreische des nahenden Untergangs. Seines Untergangs.
Wie hatte er, der clevere und nebenbei blendend aussehende Prinzipus Kohn die Zeichen übersehen können? Alle Alarmglocken hätten schrillen müssen, als ihm beim Morgenlauf im Park jene gut aussehende, eindeutig multitaskfähige Gegner-Joggerin entgegenkam. Gewichte an Beine und Arme geschnallt, fröhlich ins Headset plaudernd und Smoothie trinkend. Am Wegrand saß auf einer Bank ein Exemplar des anderen Endes der weiblichen Nahrungskette. Unschön, unförmig und ungeheuer hungrig auf irgendetwas mit Majonäse. Kurz triumphierte Prinzipus, als er wahrnahm, dass es kein Kohn-Mann war, der auf der üppig verspritzten Majo ausrutschte, sondern die athletische Gazellenfrau. Erkenntnis wurde ihm erst zuteil, als ein losgelöstes Bein-Gewicht, dicht gefolgt von klebriger (konservierungsmittelfrei) Smoothigkeit ihn seinerseits schmerzverzerrt zu Boden schickte.
Die Stimmung außerhalb der Torte begann zu brodeln. Kurz streifte ihn Licht und eine Stimme circte: „Gleich … gleich bist du dran.“ Prinzipus schluckte.
Während die untröstliche Bankbesetzerin peinlich berührt, wenn auch nicht unhämisch, das Weite suchte, war die Gewichtsverlüstige liebevolle Aufopferung in Person. In Prinzipus’ smoothierosa Gedanken hallten „Es tut sooo leid, Eventagentur, Duschen, Café Latte, Erste-Hilfe-Koffer“. Letztendlich landete er in einer sauberen, Musik- und Warmwasserberieselten Duschkabine mit Aloe Vera-Seifen und Koffeinshampoos und genoss den Verlust der Smoothie-Fruchtigkeit. Träumerisch, nur mit weichgespültem Handtuch gegürtet, schwebte er dem Kaffeeduft zu. Geschockt riss Prinzipus Kohn seine Augen auf. Der Schwebezustand erreichte Lichtgeschwindigkeit und er schlitterte an einem Hauskleid-Hintern einer dicklichen Dame vorbei, die gerade ein Schild mit „Vorsichtig Rutschgefahr!“ aufstellte, als er auch schon in einer nie gesehenen Kammer kopfüber in eine Schachtel stürzte. Dass deren Deckel hinter ihm zufiel, bekam Prinzipus Kohn aufgrund leichter Ohnmacht gar nicht mehr mit.
Die Nixen sangen ein Jubellied. Prinzipus war entschlossen. Er war ein Kohn, er war ein Mann, er glaubte nicht an Schicksal. Diesen Tag würde er heldenhaft zu Ende bringen. Nichts und Niemand(in) konnte ihn erschüttern. Beim finalen „Happy Birthday“ sprang er aus der Torte, gut aussehend wie er war. Ob das Handtuch noch da war, kümmerte ihn schon gar nicht. Er war glücklich, sah o-geformte Kusslippen sich ihm entgegenrecken, hörte das „Plopp“ und seine schielenden Augen sahen den Hochgeschwindigkeitsstoppel ...
„… das ist das Ende!“