Ein Tag wie jeder Andere
Ein Tag wie jeder andere 6.12.2001
1
Es war kühl hier oben, auf dem Dach des sechsstöckigen Hochhauses, in dem Dennis mit seiner Familie lebte. Ein leichter Wind ging. Dunkle Wolken verdeckten die abendliche Sonne. Es roch nach Regen. Dennis stand am Geländer und betrachte den leeren Hinterhof unter ihm. Nur ein paar
Mülltonnen, sonst Nichts. Obwohl er eine dicke Jacke trug, fror er. Seine Hände umklammerten fest das Geländer. Es war Donnerstag, der 5. November. Ein Tag wie jeder andere. So beschissen wie jeder andere, und so sinnlos wie jeder andere zuvor. Nur mit einem Unterschied. Einem gewaltigen. Es würde
der letzte sein. Nicht für diese längst verlorene Welt, sondern für ihn. Bald würde Dennis Geschichte sein. Niemand würde ihn vermissen. Bis auf seine Mutter. Sie war der einzigste Mensch der ihm etwas bedeutete. Sie würde um ihn trauern, jeden Tag sein Grab besuchen, bis sie selbst auf dem Friedhof liegen würde. Dennis bekam ein schlechtes Gewissen.
Er würde ihr weh tun. Sie tief verletzen. Aber es ging nicht anders. Er konnte nicht mehr.
Dies würde sein letzter Tag auf dieser Erde sein. Endgültig. Unwiderruflich.
Aus seiner Hosentasche holte er eine Packung Lucky Strike heraus, und ein Feuerzeug. Er rauchte seit drei Jahren. Erst eine Kippe am Tag, mittlerweile waren es fast zwei Schachteln. Er hatte einmal versucht aufzuhören, aber es machte nicht viel Sinn. Schon damals, vor einem knappen Jahr, wusste er, das er bald sterben würde. Er würde dem Krebs zuvorkommen. Er holte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie sich an. Dann steckte er die Schachtel wieder zurück in die Hosentasche. Er schaute sich die Kippe eine Zeitlang an.Es würde seine letzte sein. Seine Gedanken schweiften ab.
2
Dieser Tag hatte begonnen wie jeder andere. Morgens um sechs Uhr war er mühsam aufgestanden. Er hatte die Nacht davor schlecht geschlafen. Er hatte geduscht und sich seine besten Klamotten angezogen. Er machte sich seine Haare ( was ihm heute sinnlos vorkam) und packte seinen Schulranzen.
Als nächstes machte er seine Stereoanlage an. Harter Gitarrensound dröhnte aus den Boxen. Es war Master of Puppets von Metallica. Eins seiner Lieblingslieder. Er hatte die CD zu seinem Geburtstag, von seiner Mutter, bekommen. Es war nicht all zu lange her, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Beim Gedanken daran traten Tränen in seine Augen. Es war vielleicht nicht das teuerste Geschenk, das er je bekommen hatte, aber es war das schönste, und das, was ihm am meisten gefreut hatte. Er erinnerte sich wie glücklich er an jenem Tag war. Damals hatte er das Gefühl gehabt, es würde sich alles zum Guten wenden. Er würde es schaffen, sich verändern. Damals.
Dennis fing an zu weinen. Warme Tränen flossen an seinen Wangen herunter und sammelten sich an seinem Kinn. Er steckte sich noch eine Kippe an und verlies dann die Wohnung. Bis zur Bushaltestelle brauchte er eine knappe Viertelstunde. Er lies sich Zeit. Sonst brauchte er nur zehn Minuten. Aber was spielte es für eine Rolle, ob er den Bus verpasste, oder nicht. Im Grunde genommen war es scheißegal. Dennis war aber noch rechtseitig da. Der Bus kam später als sonst. Viele kleine Gruppen standen an der
Haltestelle.
Ein paar kleinere Kinder, und Jugendliche ungefähr in seinem Alter. Sie beachteten ihn nicht. Das hatten sie noch nie getan. Dennis blieb allein für sich.
Er war froh, wenn man ihn in Ruhe lies. Das war an diesem Morgen zum Glück der Fall. Manchmal machten ihn welche an, oder nahmen ihm sogar sein Geld weg. Heute schienen sie noch nicht einmal zu bemerken, dass er anwesend war.
Die Schule war ein weiterer Ort der Erniedrigung für Dennis. Er hasste die Schule seit dem ersten Tag. Er ging auf eine Realschule ganz in der Nähe seines Hauses. Mit dem Bus war er in zwanzig Minuten da. Als er die Tür zu seinem Klassenzimmer öffnete, begrüßte ihn Tom, einer seiner Klassenkammeraden.
>> Na, Schwuchtel. Wie geht’s? << Rief er. Ein paar Mädchen, die in der Nähe standen, fingen an zu kichern.
>> Lass mich in Frieden, << sagte Dennis und versuchte so gelassen wie möglich zu klingen. Tom ging auf ihn zu. Er war mindestens einen Kopf größer als Dennis und hatte ein verdammt breites Kreuz. Er packte Dennis am Kragen seiner Jacke und drückte ihn gegen die Wand.
>> Willst du mir sagen was ich zu machen habe, kleiner Scheißer. Willst du das? << Fragte er und drückte noch fester zu. Dennis brachte kein Wort heraus. Seine Knie zitterten.
Es klingelte und der Lehrer kam ins Klassenzimmer.Tom lies ihn los.
Der Lehrer, Herr Müller, war ein alter, gebrochener Mann, der auf seine Pension wartete, und der die letzten zwei Jahre seiner Karriere keinen Ärger mehr bekommen wollte. Er tat so, als hätte er nichts gesehen. Dennis atmete tief durch und ging dann zu seinem Platz in der letzten Reihe. Sofort wurde es still.
>> Guten Morgen, << sagte Herr Müller und öffnete seinen Aktenkoffer.
Von draußen hämmerte der Regen gegen die Fensterscheiben.
Der Unterricht war langweilig, und zu schwer für Dennis. Er kam nicht mit.
Genau genommen war er noch nie mitgekommen, aber damals hatte er sich wenigstens bemüht. Zum Glück hatten sie heute nur fünf Stunden.
In der letzten Stunde hatten sie Englisch. Das langweiligste Fach von allen.
Zehn Minuten, bevor es klingeln würde und er dieses verfluchte Gebäude nicht mehr betreten musste, meldete er sich und fragte, ob er auf die Toilette gehen dürfe. Frau Ronnstein willigte ein. Dennis schritt mitten durch den Klassenraum, vorbei an kicherten Mädchen, die nach seiner Meinung alle als heroinsüchtige Nutten enden würden, und hasserfüllten Blicken von Vollidioten. Einer versuchte ihm sogar das Bein zustellen.
Aber lässig stieg Dennis drüber. Heute nicht, dachte er und verlies die Klasse. Der Flur war nur schwach beleuchtet und verlassen. Es passte zu Dennis Stimmung. Langsam schlenderte er weiter. Die Toiletten waren in der untersten Etage. Überall lagen ausgetretene Zigarettenstummeln auf dem Boden. An den Wänden waren Graffitis. Es stank fürchterlich nach pisse. Hier war Dennis oft zusammengeschlagen worden. Meist waren sie mit zu viert oder zu fünft auf ihn zugekommen. Zwei hatten seine Arme festgehalten, einer passte auf, dass sie nicht gesehen wurden und einer schlug auf ihn ein. Manchmal, weil sie Geld wollten, oder aber einfach nur so zum Spaß, wenn sie sich abreagieren wollten, wenn sie schlechte Noten geschrieben hatten. Scheiße, wie er dieser Wichser hasste! Es waren meist Ältere und er hatte keine Chance sich irgendwie zu wehren. Wäre er zu einem Lehrer gegangen, wäre alles nur noch schlimmer geworden, vielleicht hätten sie ihn sogar umgebracht. Außerdem machten die Lehrer nichts. Sie hatten selber Angst. Es kam fast jede Woche vor, dass ein Lehrer geschlagen oder mit einer Waffe bedroht wurde. Dennis versuchte an was anderes zu denken und steckte sich eine Zigarette an. Er hatte noch nie in der Schule geraucht.
Aber heute würde es keine Rolle spielen, ob er erwischt wurde oder nicht.
Plötzlich sah er Lisa vor seinem geistigen Auge. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen. Es war seine erste große Liebe gewesen. Sie hatte langes, braunes Haar gehabt und noch längere Beine. Aber sie war letzten Sommer weggezogen. Raus aus Berlin. Irgendwo aufs Land. Sie war so was wie eine Freundin für Dennis gewesen. Sie hatte gesagt sie würde ihm schreiben, aber das hatte sie nicht getan. Monate hatte Dennis sehnsüchtig auf einen Brief von ihr gewartet, und jeden Tag wurde er enttäuscht. Fahr zur Hölle, dachte er und spürte das Hass in ihm aufstieg. Das Gefühl des Verlusts, das er verspürt hatte, war längst verschwunden. Jetzt hatte er nur noch Wut auf sie. Mehr nicht, nur erbitterte Wut. Dennis zog an seiner Zigarette. Er musste zurück in die Klasse. Es würde bald klingeln. Also warf er die Kippe weg und beeilte sich.
Gerade als er angekommen war und er die Tür öffnete läutete es. Er packte schnell seine Sachen zusammen und folgte dann den anderen Schülern aus dem Gebäude. So ging sein letzter Schultag zu Ende. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen, es nieselte nur noch
Ein bisschen. Um zwei Uhr kam Dennis nach Hause.
Es war still. Verdächtig still. Der Fernseher ( der normal immer lief) war nicht eingeschaltet. Im Flur blieb er bei einem Bild stehen. Es stach jedem Besucher
Sofort ins Auge. Es war größer als die anderen Gemälde und war alles andere
Als farbenfroh. Es entsprach normalerweise nicht dem Stil seiner Mutter.
Dennis fiel auf, dass er zwar unzählige Male an diesem Bild vorbeigegangen
War, es aber noch nie richtig betrachtet hatte. Es hatte keine Aussage für ihn gehabt. Das war in diesem Moment schlagartig anders. Das Bild zeigte eine Reihe von Männern, allesamt in Mänteln und mit Hut ( was Dennis darauf schließen lies, das es aus den 20. oder 30. Jahren stammte ), die alle in einer Reihe standen. Ihre Gesichter sah man nicht, weil sie dem Betrachter den Rücken zukehrten. Alle bis auf zwei Männern. Der eine schaute zur Seite, und ein Mann hatte sich komplett umgedreht. Mit einem fragenden Gesicht blickte er Dennis jetzt an. Der Hintergrund des Gemäldes war dunkel, wie auch die Kleidung der Männer. Der erste Gedanke, der Dennis durch den Kopf ging lautete Konzentrationslager.
Und die Männer erinnerten ihn an die Juden.
Diese Männer werden, wie die Juden damals, wie Lämmer zur Schlachtbank geführt. Und alle lassen sich ohne Widerstand dorthin führen. Manche wissen noch nicht einmal was sie erwarten wird. Wenn sie es wissen, wird es zu spät sein. Nur die beiden Männer erkannten die Gefahr, aber zum umkehren war es bereits zu spät. Genauso erging es ihm, Dennis. Er sah die Gefahr in dieser Welt, die von Medien und falschen Idealen gelenkt wurde. Er hatte so lange wie möglich versucht gegen diesen Strom von Korruption, Lügen und Angst anzuschwimmen, doch er hatte genauso wenig Erfolg damit gehabt, wie der Mann auf dem Bild, der ihn mit traurigen, verängstigten Augen anschaute ( Dennis fand mehr, dass er ihn regelrecht anflehte).
Er ging in die Küche, um sich etwas zu Essen zu machen. Im Schrank fand er noch eine Tütensuppe. Im war jetzt nach etwas Warmen. Er setzte Wasser auf und deckte den Tisch. Um sich die Zeit zu vertreiben las er in der Zeitung. Ein kleines Mädchen wurde seit drei Tagen vermisst, eine Rentnerin wurde von einem Kampfhund angegriffen. Nichts neues also. Das Selbe wie jeden Tag. In seinen Augen sammelten sich Tränen. Seine Kehle fühlte sich auf einmal wie zugeschnürt an. Mit Mühe unterdrückte er seine Gefühle. Wie so oft.
Als die Suppe endlich fertig war, hatte er sich wieder beruhigt. Er hatte Hunger und die Suppe schmeckte relativ gut. Der Begriff Henkersmahlzeit kam ihm in den Sinn. Na und, was soll’s, dachte er sich.
Nachdem er fertig gegessen hatte, ging er ins Wohnzimmer. Noch ein letztes Mal wollte er sich mit der Droge Fernsehen befassen. Im wurde bewusst, wie viel Zeit er mit ihr verschwendet hatte. Beschissenes Geschwafel von Talkshowmoderatoren und gestellte Interviews. Jetzt, wo er darüber nachdachte, mussten es mindestens drei bis vier Stunden am Tag gewesen sein.
An manchen auch mehr. Als er den Fernseher einschaltete wurde er nicht enttäuscht. Wieder eine dieser elenden Talkshows, in denen Verrückte zu noch verrückteren Zuschauern sprachen. Einer von diesen Zuschauern war Dennis, aber er war aufgewacht. Er hatte erkannt was es für ein Schwachsinn war. Für einen kurzen Moment war er dafür dankbar. Er verbrachte die nächste halbe Stunde auf Coach. Dann wollte er noch einmal die wenigen Freuden des Lebens genießen. Er ging schnellen Schrittes in die Vorratskammer. Der Raum war dunkel und kühl. Würste hingen von der Decke runter. Es roch nach Fäulnis. Überall waren Spinnweben. Leichter Ekel überkam ihn. In der Vorratskammer bewarten sie auch die Getränke auf. Hinter dem Mineralwasserkasten, in der hintersten Ecke, fand Dennis wo nach er suchte. Bier. Er nahm sich zwei Flaschen und ging damit in sein Zimmer. Seine Mutter würde ausflippen, wenn sie bemerken würde, dass er sich Bier klaute und es auch noch in der Wohnung trank.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und versuchte seine Mutter aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er steckte sich eine Zigarette an. Nach dem ersten tiefen Zug musste er husten. Aber das Nikotin beruhigte ihn. Er bemerkte, dass seine Hände etwas zitterten.
Jetzt brauchte er noch etwas harte Musik. Also machte seine Anlage an. Die Boxen begannen zu vibrieren. Auf dem Schreibtisch fand er einen Collageblock. Er riss eine, noch unbeschriebene, Seite heraus. Es sollte ein Abschiedsbrief werden. Das Schreiben fiel ihm leicht. Er bedankte sich bei seinen Eltern, weil sie versucht hatten, ihm das Bestmögliche zu bieten. Dies waren die letzten Worte, die er niederschrieb.
Irgendwann am Nachmittag rief seine Mutter an, und sagte ihm, dass sie erst später nach Hause kommen würde, weil sie erst noch einkaufen musste.
Von seinem Vater hörte er nichts mehr. Wahrscheinlich würde er in einer stinkenden Kneipe abhängen und mit den Leuten, die er seine Freunde nannte, Poker spielen. Irgendwann nachts, würde er dann nach Hause kommen, stockbesoffen und stinkend.
3
Es war an der Zeit. Jetzt würde in nichts mehr aufhalten. Erlösung. Seine Hände klammerten sich noch fester um das Geländer. In wenigen Augenblicken würde sein Körper zermatscht auf der Straße liegen.
Vielleicht würde ihn irgend ein Penner noch in dieser Nacht finden, wahrscheinlicher war aber, das man ihn erst Morgenfrüh fand. Ein Kind aus der Nachbarschaft würde die grausige Enddeckung machen. Dennis Augen funkelten, als er daran dachte. Es befriedigte ihn. Aber erst mal musste er es tun. Er musste auf das Geländer steigen und springen.
Was kommt nach dem Tod? Dieser Gedanke schoss ihn plötzlich durch den Kopf. Gab es einen Gott? Einen Himmel und eine Hölle, und wenn ja, würde er in Gottes Reich kommen? Dennis war zwar katholisch, war aber selten in die Kirche gegangen. Meist nur an Weihnachten und Ostern. Scheiß drauf, sagte er sich. Er stieg auf das Geländer. Wieder musste er an das Bild mit den Männern denken, Es gab ihm den nötigen Impuls.
Hitze durchflutete seinen Körper. Er hatte ein kribbelndes Gefühl im Bauch. Der Wind fuhr ihm durchs Haar. Er atmete tief ein und aus. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod, sprang er.
Er schrie nicht. In der Luft breitete er die Arme aus. Er sah aus, wie ein Engel der vom Himmel fiel. Noch bevor er auf dem harten Asphalt aufschlug, war er bewusstlos.
ENDE