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Ein Tag wie jeder andere
Es ist kalt geworden in London. Viel zu früh haben sich in diesem Jahr die Blätter rot gefärbt, die Schaals haben ihren Weg aus verstaubten Kisten zurück an die Hälse ihrer Besitzer gefunden und kleine Schirme ragen aus den Handtaschen der eilig vorbei hastenden Frauen. Ich weiß nicht, wie lange ich jetzt schon auf dieser kalten Parkbank sitze und mit meinen Fingerkuppen die kleinen Buchstaben nachfahre, die ein schwer verliebter Junge mit einem scharfen Schlüssel in die Bank geritzt haben muss.
„Marie und Patrick“ steht dort. Um die Namen rankt sich ein leicht schiefes Herz und darunter steht forever, wobei ein Teil des Wortes geschickt durch die Zahl vier ersetzt worden ist. Ich denke an Marie und Patrick, male sie mir aus vor meinem inneren Auge und verpasse Marie einen blonden Lockenkopf und Patrick eine schlimme Akne, die dringend von einem Dermatologen behandelt werden sollte. Ich stelle mir vor, wie die beiden Arm in Arm auf der Parkbank gesessen haben und Patrick mit seinem Fahrradschlüssel die ewige Liebesbotschaft romantisch in das graue Stahl der Bank gekratzt hat. Doch Marie ging alles zu schnell, irgendwie dachte sie so Ernst sei das mit ihnen doch gar nicht gewesen und wusste er nicht, dass sie sich auch noch mit Fynn traf, Fynn aus seinem Fußballverein? Eine Botschaft auf einer Parkbank, eingeritzt und für alle lesbar, das war schon eine ganz schön große Sache.
Zu groß, fand Marie. Und so war die vermeintliche Liebe in die Brüche gegangen, Fynn und Marie waren ein Paar geworden, Patrick traf beim Fußball den Ball nicht mehr richtig, saß auf der Ersatzbank, hatte keine Freunde, aß abends immer mehr Chips und wurde dicker dicker und seiner Akne, nein der tat das ganze Fett aus den Chips auch nicht gerade gut. Meine Fingerkuppen fühlen sich schon ganz taub an von dem ganzen nachfahren der Namen und ich stecke sie in die Tasche, schließlich ist die Liebesgeschichte von Marie und Patrick schon vorbei.
Als ich aufblicke merke ich, dass es leise zu nieseln begonnen hat. Der kleine Spielplatz mit der trostlosen roten Rutsche, von der seit Jahren die Plastikfarbe abblättert und der furchtbar quietschenden Schaukel liegt ganz verlassen da und panisch sehe ich mich um. In meinem Kopf formen sich bereits die Gedanken zu wilden Erklärungen, wilden Phantasien von Kindesentführern, Vergewaltigern und äußerst bösen Menschen, als ich ihn entdecke. Mit seiner blaugestreiften Matschhose sitzt er auf der Bank neben mir, blickt stumm auf seine kleinen Händchen, an denen noch ein wenig nasser Sand klebt.
Er dreht sie hin und her, legt die Handinnenseiten aneinander und versucht es mit den Handrücken. Verwirrt klappt er die Daumen ein, versucht verbissen, ach die Handrücken deckungsgleich zu bekommen. Ich stehe auf und setze mich neben ihn. Als er mich ansieht mit seinen großen blauen Augen, die umrahmt sind von einem dichten Rand schwarz gefärbter Wimpern wird mir wieder einmal bewusst, wie sehr er mich an seinen Vater erinnert.
„Geht nicht“, sagt Jona und deutet mit dem Kinn auf seine Hände.
„Das sind Enantiomere, deine Hände“, sage ich und lache ein wenig, als er mich verständnislos ansieht. „Das lernst du noch im Chemieunterricht, oder erst wie ich an der Uni irgendwann.“
Etwas skeptisch sieht er noch einmal hinab in seinen Schoß, wischt sich dann die Hände an der Matschhose ab und springt elegant von der für ihn ein bisschen zu hohen Bank auf den Boden.
„Gehen wir nach Hause“, sagt er und nimmt meine Hand. Sie fühlt sich so klein an, so zerbrechlich. Ich wünschte, ich könnte ihn für immer hier behalten, hier an meiner Hand und aufpassen, dass ihm nie etwas geschieht, dass ihn nie jemand entführt und ihm nie eine Marie das Herz bricht. Ich nehme seine Kapuze und setze sie ihm auf die aschblonden Haare. Sie würden dunkler werden, mit der Zeit fast dunkelbraun, genau wie bei seinem Vater. Es waren nur zwei Straßen bis zu dem roten Ziegelsteinhaus mit den einladenden weißen Fensterläden und der kleinen Treppe hoch zur Haustür, die sie immer ein wenig an die Häuser in New York erinnerte. Ich drücke die Tür auf und Jona quetscht sich an ihr vorbei direkt in den Flur, warf im Gehen seine Gummistiefel ab und rannte in die Küche.
„Mama“, ruft er, und ich höre wie ein Becher klirrend auf den Boden fällt. Als ich in die Küche komme sehe ich, wie Lucy gerade ein Handtuch auf die kleine Pütze wirft, die Jona mit seiner überschwänglichen Begrüßung herbeigeführt hat. Ich hebe den orangenen Becher auf und stelle ihn auf die Spüle der cremefarbenen Küchenzeile.
„Danke dir, na du“, sagt Lucy, umarmt mich und ich rieche ihr süßes Parfüm, dass sie wie immer umgibt.
„Wie geht’s dir, setzt dich, Liebes“, sagt sie und deutet auf den großen Eichentisch, auf dem selbstgebackene Kekse stehen und Jona bereits aus einem anderen kleinen Becher Milch schlürft.
„Ja, setz dich doch Tante Lou“, sagt er mit vollem Mund und Kekskrümel landen vor ihm auf dem Tisch.
„Tut mir Leid, ihr Lieben. Das nächste Mal bleibe ich ein wenig, aber heute muss ich noch mal los, ich bin zum Essen verabredet.“
Lucy lächelt und zieht vielsagend die Augenbrauen hoch. „Wieder dieser nette Tanzlehrer, den du jetzt beim Elternabend kennengelernt hast?“, fragt sie.
Nein, will ich sagen, nicht der nette Tanzlehrer, den ich nach dem letzten Lehrerabend erfunden habe. Nein, ich bin zum Essen verabredet mit meiner alten und blinden Katze und einer halb angegessenen Pizza Hawaii, die seit zwei Tagen in meinem Kühlschrank liegt und die ich eigentlich wohl nicht mehr essen sollte.
Ich liebe deinen Mann, Lucy, ich habe ihn schon immer geliebt und wenn ich dich sehe und euren perfekten Sohn, dann wird mir schon ganz schlecht und ich kann echt nicht bleiben. Achso, und wenn ich gleich zu Hause meine Pizza esse, dabei wahrscheinlich wieder mal Dirty Dancing anschaue und heule, da wird ein Bild von mir und deinem Mann vor mir stehen. An der Stelle, an der sein weiches Gesicht zu sehen ist ist das Fotopapier schon ganz dünn vom vielen Streicheln meiner Finger.
Doch das kann ich nicht sagen, denn so etwas gehört sich nicht und so etwas sagt man nicht zu der Frau, bei deren Hochzeit man Trauzeugin war und deren Sohn mein Patenkind ist und die einen schon mehrfach betrunken aus dem Irish Pub abgeholt hat, in dem ich manchmal dazu neige, meinen Liebeskummer in Bier und Whiskey zu ertränken.
„Na gut, Herzchen, aber nächstes mal auf jeden Fall. Ich hab dir Kekse eingepackt, kannst du ja mit zur Arbeit nehmen“, sagt sie und gibt mir eine der vielen Tupperdosen, die sie mir immer mitgibt und die ich generell immer vergesse, ihr zurückzugeben.
„Grüß Luke von mir“, sage ich beiläufig mit der Stimmlage, die ich seit Jahren perfektioniere und gehe durch den Flur, durch die Gallerie von glücklichen Familienfotos auf denen er seine perfekte Frau umarmt und Jona auf dem Arm hat. Mal stehen sie an der Nordsee in Deutschland, dann auf einem Kreuzfahrtschiff, im Vorgarten, auf dem Spielplatz. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. Als Lucy die Tür hinter mir schließt rollt eine verirrte Träne an meiner Wange hinunter. Das wird schon, hatten meine Freundinnen gesagt, das geht ganz von allein wieder weg. Irgendwann vergisst du ihn einfach und dann kommt der nächste.
Doch ich hatte ihn nicht vergessen. Und auch jetzt, zwölf Jahre später, fühlte es sich so an, als sei dort wo mein Herz einmal gewesen war nichts, als ein großes schwarzes Loch.