Ein Tag wie jede Nacht
„Form und Riegel mussten zerspringen,
Welt durch aufgeschlossene Röhren dringen;
Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen,
doch mich reißt es Ackerschollen umzupflügen.“
Ernst Stadler 1914
Ich ging, wie ich jeden Tag ging. Hinaus hinter den Schuppen, wo die Enten ihren Zaun hatten. War es nicht ein Tag wie jeder anderer? Die Frühlingssonne lockte die Blätter aus den Bäumen und leise Winde bliesen den Staub von den Feldern. Ich ging, den langen Stab in der schwieligen Hand haltend, um sie in ihren Stall zu treiben, um diesem Tag des Schaffens ein Ende zu bereiten, wie es jeden Tag geschah. In ihren Stall müssen die Enten, damit der Fuchs sie nicht finden kann, jeden Abend. Die Steine, die sich in dem Gummiprofil meiner Schlappen verhackt hatten, rieben auf dem vom braunen Staub gefärbten Asphalt. Vorbei ging ich an der kronenlosen Birke und an den Narzissen, deren gelbes Blühen für wenige Wochen den Vorgarten mit vergänglichen Tupfen zierte. Ich hielt den langen Haselstab in der Hand, sein weißen Holz diente mir schon so lang. Neben mir zog sich der Stacheldraht um die vom Wetter angezehrten Sandsteinpfosten. Ich blickte durch das vom Wind verzogene Maschendraht hinüber zu dem Pferch, wo die Enten tagtäglich das alte Gras des Winters annagen.
Doch was ist geschehn? In Pferch und Flur war keiner der großen Vögel zu sehen. Besucht uns der Fuchs schon am Tage? Ist dort ein Loch in dem Zaun? Konnten etwa jene schwerfälligen Geschöpfe mit ihren fetten Leibern die Flucht ergreifen? Was auch immer geschehn war, es spielte keine Rolle. Es galt nur sie zu finden, sie, die ihre Eier in den Stall legten und von so manchen Zuchtrichter begutachtet worden waren. Waren sie nicht zu wertvoll um einfach zu verschwinden? Doch was mag an diesen Vögeln wertvoll sein? Ihre Federn in braunen Pastelltönen, sind sie nicht zu dunkel für weiße Feder-Betten. Ihre breiten, walzigen Körper, sind sie nicht alt und zäh wie ein Suppenhuhn. Und ihre Flügel, sie sind viel zu kurz um den massigen Körper in die Höhe zu heben. Denn sie sind nicht wertvoll, sie sind nur mir wertvoll. Kann denn ein Tag enden, ohne dass ich die Enten in ihren Stall treibeb. Kann denn die Sonne überhaupt unterm Horizont verschwinden, ohne dass sie im Stall dort drüben hinter hölzernen Türen sitzen. Kann ich denn überhaupt meinen Abend finden ohne jene Enten zu finden, die ich jeden Tag füttere?
Ich drückte meine Zehen in die Gummisohle der Schlappen und lief. Ich lief hinaus zu den Feldern. Hinter mir flogen die Steine des Feldweges auf und nieder. Ich hielt den Haselstab fest in der Hand, ich lief um sie zu finden - dort draußen, wo nur die grünen Äcker vom Leben der Menschen zeugten. Es fiel mir schwer die Schlappen beim Laufen nicht zu verlieren, denn es ging bergauf und bergab. Neben mir wuchs das Korn hinauf zu den Wolken - hinauf zu den Wolken, dort ist es nicht eng. Zwischen den jungen Pflänzchen lagen uralte Steine, rostige Nägel und spröde Fetzen einer Plastikplane. Schweigend sahen sie zu, wie sich die grünen Pflänzchen ihrem Wachen entzogen, während ich hinfortlauf um die fehlenden Enten zu suchen. Ich lief und sie lagen. Ich lief.
Ich erreichte die Kuppe des Hügel. Da sah ich sie, die Enten. Der Erpel und seine drei Weiber bohrten mit ihren Schnäbeln im schlammigen Grund eines Grabens. Sie bohrten in der Erde, wie es Enten so tun. Sie bohrten jeden Tag in der Wiese hinter dem Schuppen. Jeden Tag baute ein Maulwurf seine Hügel über dem im Winter gewachsenen Gras auf. Und jeden Abend griff auch ich zur Schaufel. Ich schob die körnige Erde des Hügel auf die Schaufel und streute sie in die schnabelbreiten und fingertiefen Löcher. Jeden Tag wurde aus der gepflegten Wiese ein löchriger und holpriger Grasflecken, und doch an jeden Abend gab ich ihr ihre Form zurück. Doch dieser Graben sollte nicht erneut sein glattes Bett finden, ich ließ ihn mit seinem löchrigen Schlamm zurück.
Ich nahm den Haselstock und trieb sie hinunter, dorthin wo sie eingentlich hätten sein sollen. Ich ging in meinen Gummischlappen - das runde Holz in der Hand. Ich trieb sie den Graben hinunter, hinunter zu ihrem Stall. Doch der schlammige Grund war nicht ewig. Mitten im Grab lag ein graues Rohr. Ein Rohr wie es an jedem Feld im Graben liegt. Über die Röhren fahren die Traktoren und bringen die Felder in Form. Sie sähen das grüne Getreide und ackern die Felder, wie die Enten den schlammigen Grund. Die Enten verließen den Graben, sie wollten nicht durch das dunkle Rohr aus Beton. Die drei Weiber des watschelnden Paschas kletterten mit ihren plumpen Körpern aus dem Graben. Ihr weiche Schwimmhäute berühren den harten Schotter des Feldweges. Ob sich in ihre Ruderfüße die spitzen Steine genauso bohren wie in die Sohlen meiner Schlappen? Doch dem Herrn Erpel schienen die Füße zu schade oder war nur sein Körper zu träge. Er tauchte seinen bläulichgrauen Kopf in die Dunkelheit des Rohres, er folgte dem Weg des Grabens. Ich trieb die hellbraunen Enten mit meinem Haselstab an und dachte mir, dass der große Erpel schon den Ausgang aus der Dunkelheit finden würde. Seine rötlichen Füße folgten dem düsteren Schlamm. Hier oben vor meinen Füßen, da kackerten seine Frauen, und er watschelte dort unter den hellgrünen Pflanzen dem Licht entgegen. Die Enten sie liefen zum Stall, sie kannten ja selbst den Weg. Ich ging hinunter wie sie hinunter und hielt mein Stab in der Hand. Ein gelber Schnabel verließ die düstere Röhre, ihm folgte ein bläulicher Kopf. Er hatte die Röhre verlassen, wie ich es mir gedacht hatte. Ich kannte den flugscheuen Erpel. Ich ging ja mit ihm jeden Tag. Er verließ den schlammigen Graben, der am Ende des Rohrs wieder grünte. Ich fragte mich, ob er die Dunkeheilt fürchten gelernt hatte oder nur seine schwankenden Weibern folgte. Ich wußte es nicht, obwohl ich jeden Abend hinter ihm ging. Ich hielt den Haselstab in meiner Hand. Die vier gingen den steinigen Feldweg hinunter. Sie kannten den Weg, von dem ich glaubte, dass sie ihn selbst gefunden haben müßten. Ich folgte ihnen, den Stecken hinter ihnen haltend.
Dort vorn war die Wiese der Enten. Hinter dem Zaun waren Löcher in Erde. Die Enten bohren sie jeden Tag neu , und jeden Abend schütt ich sie zu mit dem was ein blinder Maulwurf an einem Tag aus der Tiefe geholt hat. Doch dort zwischen dem kurzen Gras war ein Loch, das größer als alle anderen war. Es war nicht so dünn wie Schnabel. Ich wollte das wunderliche Loch im Boden ansehen. Die Enten kannten den Weg, sie wollten zurück in den Stall, denn sie fürchten den Fuchs in der Nacht. Ich ließ sie allein weiter watscheln und lehnte den Stab an den Zaun. Über den Zaun kletterte ich und behielt mit Geschick meine Latschen an den Füßen. Das Loch war breit wie ein Mann. Ich ging in die Knie und schaute hinein. Nach unten wurde das Loch immer breiter. An seinen Rändern waren die Spuren von Entenschnäbeln. Es muß wohl Tage gedauert haben um dieses Loch mit den dicken Schnäbeln zu bohren. Doch dann fiel mir ein, dass ich die Löcher ja jeden Tag zuschauffle. Das Loch war sehr tief und es war darin wundersam hell. Der von Enten bearbeitete Rand ging mit gerader Linie in eine weiße verputzte Wand über. Etwas weiter unten stand Wasser. Es war vollkommen durchsichtig und erhellt von dem Licht aus der Tiefe. Und unten im Wasser lag das Schiff einer kleinen Kirche. Es war eine Kirche im Boden. Ich kannte diese Kirche, doch nicht dort unten im Wasser. Es war erst vor ein paar Tagen gewesen, als ich auf einer Bank in ihr saß. Eine Frau war verstorben, sie war schon über neunzig Jahre. Wir alle saßen in der Kirche und sangen alte Lieder über jenen, der an rostigen Nägeln gestorben und dann hinauf zum Himmel gefahren war. Der bärtige Pfarrer stand vor uns, er trug einen silbernen Ring im Ohr. Er sprach, dass die Dahingeschiedene, jeden Sonntag in der kleinen Dorfkirche saß, so lange sie es noch konnte. Ich schaute wieder an den Anfang des Lochs, das die Spitze eines weiß verputzten Gewölbes war. Es war erst vor ein paar Tagen, da stand ich vor dem tiefem Grab. Fast wären mir Tränen gekommen, die meine Augen nur selten sehen. Ich nahm eine winzige Schaufel und schüttete eine Hand voll Erde auf den hölzernen Sarg. Eine handvoll reicht gewöhnlich um ein Loch zu füllen, das die Enten in den Boden bohren. Ich entdekcte plötzlich ein weißes Schild an der braunen Wand. Darauf stand mit dickem Filzstift geschrieben, wo man sich Gummistiefel und Boote leihen konnte, um die Kirche zu besichtigen. Ich wußte nicht, was das alles bedeuteten sollte, und wunderte mich, was sich unter meinen Füßen befand. Doch ehe ich über all dies richtig nachdenken konnte, hörte ich jemanden laut rufen. Er rief nach mir, er rief des Geflügels wegen. Es war wohl in Not. Ich erhob mich vom tiefen Geheimnis und kletterte über den Zaun. Ich rannte in meinen Gummischlappen und ließ den Haselstab an dem Zaun stehn. Ich rannte vorbei an den dornigen Drähten, vorbei an den Osterglocken. Ich rannte.
Ich rannte die Einfahrt hinauf Richtung Stall. Winzige Steine flogen hinaus aus dem Profil meiner Schlappen. Ich sah hinüber zum Pferch der Zwerghühner. Herumgedreht lag der Kasten aus Draht auf dem Rasen, indem sie sonst eingesperrt waren. Davor saß ein Schwan und biss nach den fliehenden Hühnern. Sie waren noch jung und hatten erst die Hälfe ihrer vollen Größe erreicht. Der Schwan schnappte nach ihren grauen Schwänzen, doch eigentlich waren sie schon längst tot. Ich zog sie vor einigen Jahren mit Liebe und Sorgfalt heran. Nun waren sie schon lange gestorben, ich hatte kein einziges mehr. doch nun flohen sie vor dem Langhals. Es gab hier doch gar keine Schwäne, weder hier in den Gärten noch draußen an den nahen Bächen, aber an jenem Tag dachte ich nicht daran und ich hatte auch vergessen, dass diese Hühner schon längst tot waren. Ich rannte auf den Schwan zu, denn ich hatte - zumindest in diesem Moment - keine Angst vor seinem kräftigen Schnabel. Ich jagte ihn gegen Zäune und fing den weißen Vogel mit bloßen Händen. Ich klemmte den weiß gefiederten unter meinen rechten Arm. Mit der linken hielt ich seinen dünnen Hals wie sonst den Haselnußstab. Ich sah dem Biest in die Augen und auch ins ganze Gesicht. Ich erschrack beim Anblick des Vogels, denn statt des schwarzen Höckers, wie ihn ein Schwan nun mal haben sollte, war über den Schnabel des Vogel ein haariger Bogen gewachsen. Ich drückte die Klemme meines Armes fester und jener schwarze Bogen mit weißen Haare bewegte sich wie eine Raupe auf einem Ast.
Nun erwachte ich in meinen Decken. Ich erwachte um die Enten nach draußen zu treiben, auf ihre Wiese hinter dem Schuppen. War es nicht eine Nacht gewesen, wie es sie viele gibt? Die Sonne schien durch das Fenster, sie schien mir nie untergegangen. Sie stand wohl die ganze Nacht am Himmel, ich weiß nicht: „Waren die Enten im Stall?“