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Ein Tag in Hemmelbach

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11.09.2024
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Anmerkungen zum Text

Angelehnt an die Hörspiel-Reihe Stenkelfeld des Norddeutschen Rundfunks (NDR)

Ein Tag in Hemmelbach

Samstag, 22. Juli 2024, 10:07 Uhr

Mit etwas Verspätung eröffnet Bürgermeister Heribert Göller den „Tag der Nachhaltigkeit“ auf dem Rathausplatz des 583-Seelendorfes Hemmelbach. Jedoch entgeht nur wenigen Anwesenden, dass er dabei nicht auf den fakultativen Krokodilledergürtel aus dem letzten All-inclusive-Urlaub in Afrika verzichtet hat, was die Vertreter*innen des Hemmelbacher Tierfreunde e.V. dazu veranlasst, dem Festtagsredner demonstrativ den Rücken zuzukehren. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht die Ansprache erst mit dem langersehnten Schlusssatz.

10:15 Uhr
Am Infostand der Zero-Waste-Bewegung kommt es zu ersten Wortgefechten zwischen der Standbetreiberin Sieglinde F. und dem hiesigen Fleischermeister Paul Pönselmeier, da man sich nicht auf einen gemeinsamen Konsens über die Verwendung von Tierfetten einigen kann. Zeitgleich beginnt Vikar Otto Jörgensen den unter dem Motto „Auch im Alter dreifaltig“ stehenden Seniorengottesdienst in der St. Nikolaus-Kirche.

10:41 Uhr
Bei einer Podiumsdiskussion mit Vertretern der lokalen Wirtschaft lässt sich der örtliche Autoschrauber Günther K. zu dem grob fahrlässigen Geständnis hinreißen, seine Ölfässer im von Artenreichtum nicht besonders üppigen Fissenbach auszuspülen. Dies führt zu einem spontanen Flashmob der, auch im Nachbarort unbeliebten, Blechinstrumenten-Gruppe „Grünbläser Hichelfeld“, die einen musikalischen Kreuzzug startet und die Mauern der Werkstatt jerichoartig niederzuposaunen versucht.

11:09 Uhr
Nach einem kollektiven Versagen dutzender Hörgeräte des Herstellers Hörgut (Produktreihe Seniorenohren, LOT-Nr. VN154V016 bis LOT-Nr. VN154V021) endet der Seniorengottesdienst in der St. Nikolaus-Kirche verfrüht. Von der aus der Kirche stürmenden Menge überrascht, entscheidet sich Fleischermeister Paul Pönselmeier, den Gasgrill seiner Würstchenbude noch einmal ordentlich aufzudrehen.

11:10 Uhr
Die meterhohe Stichflamme vor der St. Nikolaus-Kirche in Hemmelbach weckt nicht nur den diensthabenden Einsatzleiter der Feuerwehr in Hichelfeld ruckartig auf und veranlasst ihn dazu, sämtliche Einsatzkräfte unverzüglich anzufordern, sie ist auch im Hintergrund des TikTok-Videos von Trompetenspieler Julian E. zu sehen, der seine Community zum Kreuzzug nach Hemmelbach ruft.

11:31 Uhr
Am Stand der Hemmelbacher Imkervereinigung entlädt sich plötzlich die angestaute Spannung, als der Standortleiter eines ortsansässigen Pestizid-Konzerns Gustav W. einen Vortrag über „effiziente Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft“ hält. Dies ruft nicht nur dem Hemmelbacher Imkerverband, sondern auch die Mitglieder der Umweltschutzinitiative „Rettet die Bienen“ auf den Plan. Während die Diskussion zunächst noch hitzig, aber verbal bleibt, führt der Versuch eines Anwesenden, mit einem angeblich ökologisch unbedenklichen Sprühmittel ein paar Wespen zu vertreiben, zu einem Wutanfall bei den Imkern, die daraufhin ihre Bienen zurücklassen und die Bühne stürmen, um den Vortrag gewaltsam zu unterbrechen.

11:56 Uhr
Bürgermeister Heribert Göller bedankt sich bei den Einsatzkräften der Feuerwehr Hichelfeld und der Freiwilligen Feuerwehr Hemmelbach, die zwar weder die Gesichtsbehaarung des Fleischermeisters noch die 79 handgedrehten Thüringer Bratwürste retten konnten, aber immerhin schnell vor Ort waren. Der Aufforderung radikal nachhaltiger Fleischfreunde, die gefallenen Würstchen zu bestatten, kommt Vikar Jörgensen nur ungern nach. Die Trauerfeier muss jedoch abgebrochen werden, als ein abhandengekommener Bienenschwarm mit unerträglichem Brummen stört.

12:31 Uhr
Mittlerweile stehen hunderte Blechbläser vor der Kfz-Werkstatt „Motorschadenfreude“ und spielen lauthals den umgedichteten Choral „Wir reißen heute nieder“. In einem späteren Interview erklärt Schrauber Willi K., Sohn des Werkstattbesitzers, er habe sich in die Defensive gedrängt gefühlt und den Schlauch der werkstatteigenen Zapfsäule, der über 50 Liter Super bleifrei durch die Rohre so mancher Tuba spülte, nur in Notwehr eingesetzt. Verletzte Waldhornspieler werden daraufhin in jenes Krankenhaus gebracht, in dem schon der zusammengeschlagenen Standortleiter Gustav W. sein Zimmer bezogen hat.

Vom „Tag der Nachhaltigkeit“ wird in nächster Zeit nicht mehr gesprochen. Dauerhaft in Erinnerung bleiben nur die Ausschreitungen zwischen den Menschen; Menschen wie du und ich, die sich einfach nur über die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft informieren wollten.

 

Hallo @Emhyr,

schöner Lokalkolorit-Humor und eine tolle Persiflage. Den Tag "Gesellschaft" hätte ich auf jeden Fall auch noch gewählt.

Ich liebe es, wie die schnell die Vorfälle aufeinanderaufbauen und die Eskalation so nebenbei erwähnt wird. Das macht den Humor und die Stärke deines Textes aus.

Das Ende zerstört leider diesen Effekt und wirkt belehrend. Das passt für mich nicht zum Rest des Textes.

Ich hätte eher ein Ende gewählt, dass in diese Richtung ginge:

"Die Gemeindeälteste Hildebrun, die so alt ist, dass weder jemand ihren Nachnamen kennt, noch dass sie sich selbst daran erinnern könnte, reckt mahnend ihren aus Mandelholz gefertigten Krückstock in die Luft und mahnt. Sie schafft es beinahe, dass die mannigfaltigen Krater in ihrem Gesicht sich zum einem verschmitzten Lächeln formieren. "Mal wieder ein wirklich richtig nachHALLtiger Tag!"

ENDE

VG
Jizzle

 

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