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- 13.02.2003
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Ein Tag in einem Leben
Sergio dachte, dass das Klingen, das er vernahm, ein Teil seines Traumes war. Doch dann wurde ihm bewusst, dass es aus der realen Welt zu ihm drang. Er drehte sich zur Seite, ließ einen Arm aus dem Bett gleiten, um den Wecker am Boden seinen Augen zuzuwenden. Er blinzelte zweimal und die Anzeige blinzelte ihm genauso oft die Uhrzeit zurück. Es war 05:12Uhr.
Das Klingen ließ nicht nach und wurde in Sergios Ohren immer intensiver. Er versuchte diesen Ton irgendwie einzuordnen. Als er letztendlich doch noch das Läuten seines Telefons erkannte, schnellte er nach oben und riss die Decke zur Seite. Gewöhnlich war das für ihn noch lange kein Grund in einen derartigen Erregungszustand zu geraten, doch an diesen Morgen wusste er, dass sie es war, dass nur sie es sein konnte. Er fühlte es, er spürte sie.
Doch natürlich konnte er sich auch irren und um vorsichtshalber nicht irgendwem Erklärungen abgeben zu müssen, hauchte er vom Schlaf noch halb betäubt nur ein knappes, fragendes >Ja< in die Muschel. Am anderen Ende der Leitung war es still. Er presste den Hörer fester an sein Ohr und horchte. Nach einigen Augenblicken wurde aufgelegt, und Sergio kehrte mit einem leichten Lächeln in sein Bett zurück.
Vom Nachbarhaus drang Licht durch das Fenster und warf einige Schatten an die Decke und Wände. Sergio zog die Bettdecke bis ans Kinn und ließ die Geschehnisse der letzten Wochen nochmals Revue passieren.
In Gedanken versetzte er sich wieder in die Altstadt einer rheinischen Karnevalshochburg in der die jecken Tage gefeiert wurden und wo er auf den Pillenmann stieß. Der Pillenmann hatte einen weißen Kittel an, das mit leeren Tablettenschachteln beklebt war. Auf den Kopf trug er einen weiß lackierten Strohhut und auf seinem Shirt hatte er mit einem dicken schwarzen Filzstift das Supermann-Emblem gezeichnet, nur mit dem Unterschied, dass anstelle des -S- jetzt ein -P- stand.
Das Gesicht des Pillenmanns war mit feinen Blutäderchen durchzogen und große hervorstehende Augen schauten durch eine dicke Hornbrille, von der Sergio nicht genau wusste, ob sie jetzt Teil der Kostümierung war, oder vielleicht auch nicht.
„Hallo, ich bin der Pillenmann. Hast du mal Feuer für mich?“
Der Pillenmann grinste mit offenem Mund und brachte ein paar gelbe Zähne zum Vorschein. Ihm fehlten ein halber Schneidezahn und ein Eckzahn deren Lücken er mit der Zunge zu schließen versuchte. Sergio gab ihm Feuer und wandte sich wieder der Theke zu. Im gegenüberliegenden Spiegel sah er, dass der Pillenmann immer noch neben ihm stand und grinste.
„Darf ich dir ein Bier ausgeben?“, fragte der Pillenmann.
„Klar“, antwortete Sergio.
Der Pillenmann machte ein paar hastige Verrenkungen, um den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen und bestellte zwei Bier.
„Weißt du, ich glaub' du bist ganz in Ordnung“, sagte der Pillenmann.
„Wie kommst du drauf?“, fragte Sergio.
„Na ja, du scheinst keine Probleme mit zu haben, wenn Fremde auf dich zukommen. Du scheinst nicht direkt zu verkrampfen und bist ganz du selbst. Dir ist es egal, was die Leute von dir denken oder was sie über dich sagen könnten. Du stehst einfach zu dem was du tust.“
„Aha“, sagte Sergio und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. Ihm schwante böses. Durch das Lokal ging gerade eine Polonäse. Als sie an ihnen vorbeizog, klinkte sich ein Kerl aus, blieb hinter dem Pillenmann stehen, riss ihn an den Schultern zu sich rum und schob seine Zunge in Pillenmanns Rachen. Dann reihte er sich, genauso schnell wie er gekommen war, wieder in die Polonäse ein und war weg.
Der Pillenmann sah etwas verlegen zu Sergio rüber und sagte entschuldigend: „Freund von mir.“
„Aha“, sagte Sergio und trank sein Glas in einen Zug leer, um dann den Pillenmann den Rücken zuzudrehen und sich im Lokal nach einem Fluchtweg umzusehen. Der Pillenmann stand von seinem Hocker auf, ging um Sergio rum, setzte sich rechts von ihm wieder hin und grinste durch seine Zahnlücken.
Sergio dachte sich, womit er das verdient hatte, schließlich hatte er in seinem Leben nie etwas wirklich Schlechtes getan. Gut, er hatte seine Frau betrogen, auch schuldete er ihr noch für drei Monate die Alimente, aber im Grunde war er doch kein schlechter Mensch. Also warum?
Plötzlich stand sie da.
„Gehen wir?“
Sergio schaute über seine Schulter nach hinten. Da war sie. Die Antwort auf seine Gebete. Das Licht schimmerte durch ihre kastanienbraunen Haare und sie zwinkerte ihm mit einem ihrer dunkelbraunen Augen zu, als sie nach seiner Hand griff und ihn vom Hocker zog.
Sergio kniff die Mundwinkel zusammen und zuckte, dem Pillenmann zugewandt, entschuldigend mit den Schultern.
„Na ja“, sagte der Pillenmann, „vielleicht sieht man sich ja noch.“
Aber da waren die beiden auch schon weg.
Sergio ließ sich, immer noch ihre Hand haltend, aus dem Lokal raus auf die Straße führen, wo sie dann unter einer Straßenlaterne zum Stehen kamen.
„Du hast mir das Leben gerettet. Wie kann ich mich bei dir revanchieren?“ fragte er.
Die Frau, die Sergio auf Anfang 20 schätzte, winkte mit einer Hand ab.
„Das geht auf Kosten des Hauses. Irgendjemand musste dich doch schließlich da rausholen. Du sahst so verzweifelt aus.
Daraufhin hielt er ihr seine rechte Hand hin und stellte sich lächelnd vor: „Ich heiße Sergio.“
„Freut mich deine Bekanntschaft zu machen, Sergio.“, sagte sie, seine Hand ergreifend. „Ich bin die Sandrine.“
Das Licht im Nachbarhaus ging aus und Sergio lag wieder ganz im Dunklen. Die Ziffern des Weckers leuchteten rot. Es war jetzt 06:07Uhr. Sergio überlegte kurz, ob er doch noch arbeiten gehen sollte. Seine Verspätung würde sich jetzt noch im Rahmen halten. Er drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Dann gab er sich einen Ruck und schwang sich aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Binnen zwanzig Minuten hatte er gepinkelt, seinen Kopf unter kaltem Wasser gehalten, den Schleim, der an seinem Rachen haftete, ins Becken gespieen und sich die Zähne geputzt. Nachdem er sich angezogen hatte, ging er in die Küche und brachte etwas Wasser zum Kochen, das er in eine Tasse goss und in das er ein Beutel schwarzen Tees plumpsen ließ.
Er setzte sich an den Tisch und schlurfte den Tee. In seinem Kopf herrschte eine schläfrige, angenehme Leere. Es war jetzt 07:15Uhr. Seine Wohnung war nur wenige Minuten vom Busbahnhof entfernt und um kurz nach halb hielt Sergio dem Fahrer seine Karte unter die Nase. Der Fahrer musterte Sergio misstrauisch von oben bis unten und hielt Sergio am Ärmel fest, um einen genaueren Blick auf die Monatskarte zu werfen. Dann ließ er ihn mit einem Naserümpfen wieder los und Sergio ließ sich auf einem Fensterplatz fallen.
Außer Sergio waren noch ein paar andere Fahrgäste auf den Plätzen verteilt, die alle in sich vertieft und apathisch vor sich hin starrten.
Schräg rechts vor ihm saß einer mit politisch korrekt frisiertem Haar und mit einem langen Trenchcoat bekleidet steif auf seinem Sitz und in einem, wie dieser wohl annahm, unbemerkten Augenblick holte er aus seinem Aktenköfferchen, der auf seinen Knien ruhte, einen Flachmann hervor, aus dem er zwei kurze Schlücke nahm, um dann die Flasche sofort wieder im Koffer verschwinden zu lassen.
Doch dann drehte sich der Mann nach hinten, gerade so als ob Sergios Blicke ihn an die Schulter getippt hätten. Sergio kaute ein Gummi und sah dem Mann ausdruckslos in die Augen und gab ihm unmissverständlich zu verstehen, dass er ihn ertappt hatte. Der Mann öffnete seinen Mund ein Spalt, um etwas zu sagen, schloss ihn dann doch wieder und drehte sich resignierend nach vorn. Sergio drehte etwas enttäuscht über diesen leichten Sieg seinen Kopf zur Seite und schaute durch die Scheibe nach draußen, wo Häuser, Autos, Bäume und Menschen mit der aufgehenden Sonne ein undefinierbares Farbgemisch bildeten, dass emsig an seinen Augen vorbeizog.
Nach einigen Minuten Fahrt erschien auf dem elektronischen Anzeigefeld der Name der Haltestelle, an der er aussteigen musste. Sergio ließ mit einem Knopfdruck neben dem Namen die Worte - Wagen hält - rot erleuchten und an seinem Ziel angekommen stieg er aus.
Nach einem kurzen Fußmarsch war er dann endlich da. Er hielt dem Pförtner, der in seinem Häuschen saß und die Morgenzeitung las, seinen Werksausweis hin und der ließ ihn mit dem Kopf nickend passieren. Sergio begab sich in die Umkleideräume. Da er seinen Blaumann schon anhatte, brauchte er nur seine Jacke in den Spind zu hängen und in seine Sicherheitsschuhe zu steigen.
Auf dem Weg in seine Abteilung rastete er kurz am Kaffeeautomaten, um sich einen Becher weiß mit extra Zucker zu ziehen.
Mit dem Getränk in der einen Hand und seiner Arbeitstasche, die er um die Schulter gehängt hatte, tastete er sich weiter an die Blechverarbeitung, so wurde sein Revier tituliert, heran.
Unterwegs kam er an der Montage vorbei, wo Frauen in blauen, roten und gelben Kitteln an langen Arbeitstischen saßen und fleißig Teile zusammensetzten, die am Ende der Kette von Männern zusammengeschraubt oder genietet wurden. Kettenmontage nannten sie das. Sergio wurde mit kurzen Blicken verleugnet. Niemand wollte anscheinend mit ihm in Verbindung gebracht werden.
Als er die Grenze zu seiner Abteilung überschritt, wurde die Luft merklich stickiger und stank nach Öl. Oder bildete er sich das nur ein? Das Dröhnen und Stampfen der großen Pressen war Ohrenbetäubend.
KA-WUMM, KA-WUMM. Das waren die Maschinen der Morlocks.
KA-WUMM, KA-WUMM. Das war das Durchbrechen der Schallmauer.
KA-WUMM, KA-WUMM. Das waren die Bomben über Bagdad.
KA-WUMM, KA-WUMM. Das war das Geräusch der zivilisierten Welt.
Sergio deponierte seine Tasche in zur Zone gehörendem Pausenraum und ging dann zu seiner kleinen Presse, an der er den Hauptschalter umlegte, um sich dann vor ihr auf seinen Hocker zu schwingen. Die Maschine summte vor sich hin und Sergio trank seinen Becher leer, als neben ihm ein Gabelstapler zum Stehen kam.
„Buenas dias, muchacho.“
„Ciao Franco.“
Franco war ungefähr im gleichen Alter wie Sergio und hatte wenige Monate vor ihm in der Firma angefangen. Das war vor 5 Jahren gewesen. Franco war wie er Sohn von Gastarbeitern, die in den 60ern nach Deutschland gekommen waren, um sich mit den hier verdienten Geld in ihrer Heimat einen neuen Anfang zu finanzieren.
Die meisten Gastarbeiter, die damals kamen, hatten eigentlich nur vor, ein paar Jahre in Deutschland zu verbringen. Doch ehe sie sich versahen, wurden aus den paar zehn, zwanzig, dreißig Jahre. Man hatte sich eingelebt und obwohl in ihren Herzen die Liebe zu ihrer Heimat fest verwurzelt war, entstanden hier neue Freundschaften, Familien wurden gegründet und Kinder wurden hier geboren, die wiederum hier aufwuchsen, die Schule besuchten, sich verliebten und ihre eigenen Familien bildeten. Zwei Beispiele dafür waren Franco und Sergio.
Der einzige Unterschied in diesen groben Lebenslauf war, dass Francos Eltern aus Italien stammen und Sergios aus Spanien.
„Mit dir habe ich heute nicht mehr gerechnet. Aber an deiner Stelle wäre ich im Bett geblieben. Der Alte ist heute Morgen wieder besonders gut gelaunt“, sagte Franco.
„Ach der musste bestimmt letzte Nacht bei seiner Ollen ran.“
„Was, ist denn schon wieder ein Monat um?“
Beide fingen an zu lachen und Franco schien dabei fast vom Stapler zu stürzen, doch plötzlich verstummte er und Sergio, der ihn die ganze Zeit angeblickt hatte, war zwar im ersten Moment etwas verblüfft, doch zugleich wusste er, dass Francos deuteln mit der Augenbraue nur eins zu bedeuten hatte.
„Das freut mich aber, dass Sie sich doch noch entschieden haben, zu erscheinen.“
Der Meister hatte es irgendwie geschafft, sich lautlos von hinten anzupirschen und war sichtlich stolz darauf. Er hatte die Hände hinten am Rücken ineinander gelegt und versuchte seine kleine Körpergröße dadurch zu kompensieren, indem er auf den Zehen wippte.
„Morgen Herr Matuschek. Tut mir leid, dass...“
„Dass was? Dass Sie zum wiederholten Male zu spät zur Arbeit erscheinen, dass der Wecker wieder mal gestreikt hat, oder der Bus Verspätung hatte, oder wurden Sie vielleicht Opfer eines Überfalls? - Wissen Sie eigentlich wie eilig dieser Auftrag ist? Und jetzt ist es...“
Gerhard Matuschek unterbrach seinen Satz und schwang dynamisch seinen linken Arm nach vorn, so dass der Ärmel seines grauen Meisterkittels hoch rutschte und den Blick auf seinen Chronometer freigab.
„Jetzt ist es genau 08.30Uhr und wie ich sehe, haben Sie immer noch keinen Finger gerührt. Und wenn wir schon dabei sind. Herr Maratea, haben Sie eigentlich nichts zu tun?“
Franco schreckte unwillkürlich auf und legte den Gang ein.
„Ich bin schon unterwegs. Wir sehen uns später Sergio.“
Nachdem Franco hinter einen Turm aufeinander gereihter Container verschwunden war, wandte sich der Meister wieder Sergio zu.
„So, nun schwingen auch Sie mal die Hufe. Sie werden hier schließlich nicht fürs Schwatzen und Kaffeetrinken bezahlt.“
„Ich hätte da nur noch eine Frage Herr Matuschek.“
„Und die wäre?“ wollte der kleine Mann wissen und wippte, nachdem er eigentlich schon seinen Abgang vorbereitet hatte, erneut auf den Zehen.
„Wenn der Auftrag so brandeilig ist, warum haben Sie dann keinen anderen schon mal weitermachen lassen? Schließlich hätte ich doch auch krank sein können.“
„Wer hier was und wann zu erledigen hat, das entscheide immer noch ich. Merken Sie sich eins: Ich bin hier der Abteilungsleiter und ich habe es nicht nötig, irgendetwas mit Ihnen auszudiskutieren.“
Der Meister war nun innerlich außer sich und so fügte er mit bibbernden Lippen hinzu:
„Falls Ihnen das nicht passen sollte. Wir haben momentan vier Millionen Arbeitslose, die Ihre Stelle mit Kusshand nehmen würden. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?“
„War nur eine Frage“, antwortete Sergio, der sich nun wahrlich nicht vorstellen konnte, dass jemand sich so herablassen könnte, dieses zu tun.
Durch Sergios Gelassenheit auf seine Drohung verunsichert, kehrte Gerhard Matuschek schnellen Schrittes in sein Büro zurück.
Sergio zog sich die schweineledernen Arbeitshandschuhe über und begann seine Pflicht auszuüben. Ein großer Berg von Blechteilen, die wie Schneckenhäuser aussahen, wartete darauf abgearbeitet zu werden. Die Schneckenhäuser befanden sich in einem Container, der auf einem Gestell stand, das auf Brusthöhe abgewinkelt war, so dass die Teile aus dem Container auf den Arbeitstisch vor ihm rutschten.
Die Teile mussten nun in die Form eingelegt werden und durch ein gleichzeitiges Betätigen zweier Drucktasten, die links und rechts an der Maschine angebracht waren, wurde die Form zusammengefahren und mit einem knackenden Geräusch wie bei diesen Blechfröschen, mit den man als Kind gespielt hatte, wurden die Teile gelocht.
Hiernach fuhr die Form von selbst wieder auseinander und das gelochte Schneckenhaus konnte (mit der linken Hand wohlgemerkt) entnommen werden, während man gleichzeitig (und mit der rechten Hand wohlgemerkt) ein Neues einsetzen musste, damit das Spiel von Vorne beginnen konnte. Und so ging es dann die ganze Zeit. Links raus, rechts rein, auf die Tasten, links raus, rechts rein und auf die Tasten.
Eigentlich alles halb so schlimm, wenn man die letzte und wichtigste Regel beachtete. Und die hieß: HIRN AUSSCHALTEN!
Natürlich klappte dies nur in Ausnahmefällen. Bei denjenigen, die genauso leblos waren wie die Teile, die sie bearbeiteten und sich trotz allem einredeten, dass ihr Leben doch eigentlich gar nicht so übel war, abgesehen davon, dass die Frau andauernd maulte, die Kinder plärrten, das Auto ständig in der Werkstatt war und für dessen Reparaturen wieder mal auf das Urlaubsgeld zurückgegriffen werden musste, sodass man auch im sechsten aufeinander folgendem Jahr darauf verzichten musste, so wunderschöne Städte wie Paris, Rom, Madrid, New York oder Melbourne zu besichtigen. Aber vielleicht klappte es ja im nächsten Jahr und wie war das gleich noch mal? Ach ja. HIRN AUSSCHALTEN!
Links raus, rechts rein auf die Tasten. Links raus für die ausstehende Zahlung an die Ex, rechts rein für die kommende Miete. Die Tastenbetätigung für die vorletzte Rate, um den Ziel das Nigelnagelneue Heimkinoset sein Eigen nennen zu dürfen, ein Stückchen näher zu kommen. War die Garnitur eigentlich schon abbezahlt? Na ja egal. Links raus, rechts rein ... 09.26Uhr.
Die nächste Viertelstunde war Frühstückspause, die der Spanier wie immer und wie alle seine Pausen mit Franco verbrachte. Franco drückte gerade eine von diesen italienischen kleinen Tomaten auf seinem Brot aus, als Sergio zu ihm an den Tisch kam.
„Wie ist es mit dem Alten noch gelaufen?“ fragte Franco, der sich jetzt mittlerweile schon sein zweites Brot zwischen die Kiemen schob.
„Der kann mich mal. Lass uns über was anderes reden, sonst vergesse ich mich und sag dem Kleinen, was ich wirklich von ihm halte.“
„Jetzt rege dich doch nicht auf. Du weißt doch wie er ist.“
„Ich schwör's dir Franco. Irgendwann hat er mich soweit. Fehlt nicht mehr viel und ... oh ich schwör's dir Franco.“
„Ist ja gut. Erzähl mal lieber wie es mit deiner Kleinen so läuft.“
Franco grinste neckisch und biss ein großes Stück vom Brot ab, was aber sein Grinsen nicht minderte.
Sergios Gesichtszüge wurden schlagartig weicher und er lächelte etwas verlegen.
„Wie soll's schon laufen. Wir verstehen uns ganz gut. Außerdem ist sie nicht meine Kleine. Wir sind Freunde, mehr nicht.“
„Natürlich. So rein platonisch meinst du. Ich respektiere dein Geschlecht und deine Intelligenz und du meine.“
„Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen. Stell dir vor, es gibt noch mehr auf dieser Welt als Sex.“
„Ja klar. Ich sag dir mal eins. Freundschaften zwischen Männern und Frauen sind genauso utopisch wie der Weltfrieden. Und wenn du der Kleinen nicht bald erzählst, was Sache ist, wird sie denken, dass du kein Interesse hast und sucht sich einen anderen Lover.“
Sergio schwieg ein Augenblick und dachte über seines Freundes Worte nach, an denen wahrhaft was dran sein konnte.
„Weißt du, ich will's ...“
Mitten im Satz ertönte die Sirene, die das Ende der Pause verkündete.
„Wir reden Mittag weiter, aber glaub' mir Sergio. Langsam aber sicher musst du in Angriffsstellung, sonst wird es immer schwerer, ihr klarzumachen, dass du mehr für sie empfindest als bloße Freundschaft.“
Sergio machte sich auf den Weg zurück zu seiner Maschine, doch Francos Worte wollten ihm nicht aus dem Kopf gehen. Und auch als er wieder seine Links - Rechts Kombinationen durchzog, musste er immerzu an seine Worte denken. An den Menschen, den sie betrafen.
Er versank in einem Meer von Gedanken. Er versuchte sich an einem zu halten. Ihn auszubauen. Jedoch herrschte ein ziemlich heftiger Wellengang. Jede Welle, die kam, war höher und gewaltiger. Alles was blieb war Meerschaum. Und ihr Name. Sandrine. Sandrine. Sandrine.
Tagtraum.
„Ich bin hier. Komm, das musst du dir ansehen.“
Sandrine schaute durch ein paar Gitterstäbe auf einen Geier, der völlig regungslos auf einem dicken Ast saß. Die Rinde des Baumes war abgeschabt und das Holz sah sauber und glatt und anziehend aus und Sergio wäre gerne mit seiner Hand drüber gestrichen. Der Geier, der desinteressiert durch seine Knopfaugen auf die beiden hinabblickte, sah aber nicht danach aus, als ob er es so einfach hinnehmen würde. Schließlich war dieser Ast alles was ihm geblieben war. „Mach mal so“, sagte Sandrine und streckte einen Arm zur Seite.
„Das kannst du vergessen“, sagte Sergio, „der rührt keine Feder.“
Das Mädchen stand immer noch mit ausgestrecktem Arm da, machte einen Schmollmund und wiederholte ihre Bitte.
„Ach komm schon, sei nicht so. Mach mal so. Mmh? Ach bitte!“
„Gib es auf“, sagte Sergio und zupfte dabei an ihrem Ärmel. Plötzlich schüttelte der Geier seinen Kopf und spannte den rechten Flügel aus. Sandrine hüpfte vor Freude auf der Stelle und klopfte gleichzeitig Sergios Schulter ab. Sie klopfte, hüpfte und lachte an einem Stück.
„Schau, schau, schau“, begeisterte sie sich. Dann hielt sie inne und ging wieder in ihre Ausgangsposition.
„O.K., O.K., O.K. Und jetzt den Andern auch. Bitte, bitte, bitte.“
Der Vogel spannte den zweiten Flügel aus und ließ sich in seiner ganzen Pracht bewundern.
„Wahnsinn Sandrine“, sagte Sergio, „warst du früher mal beim Zirkus?“
„Tja, ich bin nun mal ein Naturtalent. Man muss nur wissen wie", sagte das Mädchen, die wie eine ans Kreuz geschlagene dastand und dem Tier Küsschen zuschickte.
Sergio konnte die Energie, die von dieser Frau ausging nicht fassen. Es schien aus jeder Pore ihres Körpers zu kommen. Sie umflutete ihn, riss ihn regelrecht mit und am Liebsten hätte er sie gepackt, sie an sich gedrückt, um ihre Lippen zu schmecken und etwas von dem Leben, das sie in sich hatte, in sich aufzunehmen. Doch er tat es nicht.
Seitdem war wieder einige Zeit vergangen. Eine unendliche luftleere Ewigkeit, ohne ihre Stimme, ihr Lachen oder eine von ihren abendfüllenden Anekdoten gehört zu haben. Er hätte sie natürlich ohne weiteres anrufen oder gar bei ihr zuhause vorbeischauen können. Doch hatte er die Befürchtung, dass sie sich eingeengt fühlen könnte. Nein, er wollte kein Klammeraffe sein. Und überhaupt, er durfte sich einfach keinen Fehler bei dieser Frau erlauben. Schließlich, so dachte er, war sie eine der wenigen Chancen, seinem Leben einen Sinn zu geben.
Er befand sich auf dem Prüfstand und wenn er keine Mängel aufwies, würde ihm mehr als eine dämliche Plakette zustehen. Dennoch hatte Franco Recht. Die Zeit das Gesäte zu ernten war gekommen.
Sergio arbeitete nach und nach den Haufen Schneckenhäuser ab und bis zum Mittag geschah nichts Außergewöhnliches mehr und auch der Nachmittag blieb ruhig. Der Meister wollte es anscheinend nicht auf eine weitere Konfrontation ankommen lassen und blieb im sicheren Büro.
Jede Arbeitsminute dehnte sich ins Unermessliche. Etwas, was man von den Pausen nicht gerade behaupten konnte. Diese verrannen stets wie der Sand in einer Eieruhr. Doch schließlich kam dann doch noch wie immer der Feierabend. Mit einem gelösten und entspannten Gesichtsausdruck warteten nun alle in der Schlange vor der Stempeluhr darauf, wieder Mensch sein zu dürfen. Dann ging es in einem Rauschen von Gesagtem in die Umkleide. Die Brausen wurden aufgedreht, so dass bald Wolken von Wasserdampf aus den Duschräumen in den Umkleideraum drangen, in dem sich auch langsam der Mief getragener Socken bemerkbar machte. Man hörte das stete Öffnen und Schließen der Spindtüren und mit einem gewohnten –Bis Morgen- ging es hinaus in die freie Welt.
Draußen hatte es gerade zu regnen begonnen und dicke Tropfen trafen Sergio auf die Nase und auf die Stirn. Sergio schlug den Kragen seiner Jacke hoch und machte sich mit gesenktem Kopf Richtung Stadtmitte auf. Über ihn zogen noch dunklere Wolken auf und von weiten grollte und donnerte es. Gerade rechtzeitig vor dem großen Regen, rettete er sich in ein Café, das er mit ca. einem halben Dutzend anderer Leute teilte, die die gleiche Idee gehabt zu haben schienen.
Er bestellte sich einen Cappuccino und beobachtete aus dem Fenster, wie die Leute hierhin und dorthin liefen, um sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen. Die Bäume bewegten sich im Wind, der den Regen mit zunehmender Stärke gegen die Scheibe prasseln und ihn in eine melancholische Stimmung verfallen ließ. An einer Ecke fiel eine Mülltonne um, deren Inhalt sich über die Straße ergoss und vom Wind schnell weiter getragen wurde. Wieder blitzte es hell auf und der Donner folgte prompt. Der Wind pfiff eine Melodie, während das Gewitter die Stadt eroberte. Niemand wagte es nunmehr in diese Schlacht zu ziehen, die man nicht gewinnen konnte. Aber welche Schlacht machte einen wirklich zum Gewinner, dachte er.
Und dann wieder, kam sie ihm in den Sinn. Was sie jetzt wohl tat? Ob sie wohl an ihn dachte?
Wie gerne wäre er jetzt bei ihr. In ihrer Nähe. Ihr Gesicht vor Augen träumte er vor sich hin. Doch dann ganz unvermittelt klopfte es an der Scheibe und Sergio schreckte aus seinen Gedanken auf. Draußen vor dem Fenster stand Sandrine. Das Wasser lief ihr nur so runter, doch schien ihr das nichts auszumachen. Sie stand da, winkte Sergio zu und machte den Eindruck, sich wirklich zu freuen, ihn im Café entdeckt zu haben. Er ließ seine halb getrunkene Tasse stehen und ging zu ihr nach draußen, wo er sie zur Begrüßung in den Arm nahm. Es war gut, sie so nah zu spüren, sie zu halten und ihren Duft in sich aufzunehmen. Dann leider verstrich dieser Augenblick und sie standen sich gegenüber und ließen den Regen über sich ergehen.
„Was machst du denn hier?“ fragte er.
„Ich wollte nur ein paar Besorgungen machen. Es ist nämlich was Sensationelles passiert.“
„So? Was denn?“
„Das sage ich Dir heute Abend, das heißt, wenn Du Lust hast, mit mir essen zu gehen. Ich lade dich ein.“
„Wow. Was ist los? Hast du im Lotto gewonnen, oder so?“
„Nein, viel besser. Aber das erzähle ich dir alles heute Abend. Kommst du mich abholen?“
„Die Neuigkeiten lasse ich mir doch nicht entgehen. Wann soll ich da sein?“
Pünktlich um Acht stand er wie vereinbart hinter ihrer Tür. Sie sah phantastisch aus. Sergio konnte sich an ihr nicht satt sehen. Es hatte ihn ganz schön erwischt. Er wollte die Chance nutzen. Heute soll es geschehen, dachte er. Er war dieses Gespräch in seiner Fantasie schon x-mal durchgegangen. Hatte auf jede mögliche Reaktion eine Antwort einstudiert. Nichts konnte schiefgehen. Nichts durfte schiefgehen. Wiederholt hatte er seinem Spiegelbild das Liebesgeständnis aufgesagt, wobei er seine Haltung, seinen Ausdruck und die Wahl der Worte von Mal zu Mal korrigierte und änderte, bis er meinte, die optimale Auswahl getroffen zu haben.
Vergnügt betraten die beiden „ihren“ Griechen. Demetri, der Inhaber, begrüßte sie mit Handschlag und führte sie zu dem reservierten Tisch. Nachdem sie abgelegt hatten, kam der Kellner und brachte die Speisekarten. Hierbei nahm er die Abdeckung der Öllampe ab, zündete sie an und fragte, ob er ihnen schon was zu trinken bringen dürfe.
Beide bestellten einen Rotwein. Der Kellner wiederholte ihre Bestellung und entfernte sich wieder.
Das Licht im Restaurant war gedämmt und im Schein der brennenden Lampe glänzte ihr Gesicht schöner denn je. Im Hintergrund wurde leise „Alexis Sorbas“ gespielt und die Unterhaltungen der Nachbartische drangen zu ihnen, doch schon bald waren sie selber in ein Gespräch vertieft, so dass sie die anderen um sich herum nicht mehr wahrnahmen. Der Kellner brachte den Wein, nahm ihre weitere Bestellungen auf, wobei er dieses Mal alles sorgfältig notierte und überließ sie wieder sich selbst.
„Nun sag schon“, begann er, „ was gibt es so Aufregendes, dass du mir so dringend sagen musst?
Du musst nämlich wissen, dass ich dir auch etwas mitzuteilen habe.“
„So? Was denn?“
„Nein, erst du.“
„Na gut. Ich lasse dich nicht raten, denn du wirst sowieso nicht draufkommen, weil ich dir nichts davon erzählt habe.“
„Na jetzt mach es nicht so spannend und schieß endlich damit los“, drängte er sie.
„O.K.. Ich habe mich vor kurzen um eine Au-Pair Stelle beworben und heute habe ich die Zusage bekommen. Ist das nicht klasse? Ich kann’s kaum fassen, dass sie mich genommen haben. Wie du siehst, bin ich immer noch völlig außer mir.“
„Au-Pair? Soll das etwa heißen, du ziehst ins Ausland?“
„Ja. Ist das nicht super? Und weißt du auch wohin?“
Sergio setzte ein ahnungsloses Gesicht auf, um sie zur Antwort zu bewegen.
„Ich ziehe nach Chicago. In die Vereinigten Staaten von A-ME-RI-KA“, sagte sie, jede Silbe betonend, wobei sie übers ganze Gesicht strahlte.
Es verlangte Sergio alles ab, sich den Schock, den er gerade erlitt, nicht anmerken zu lassen. Somit bemühte er sich so gut es ging, sich mit ihr zu freuen und sein verletztes Inneres zu verbergen. Er wünschte sich, dies alles zu träumen. Aufzuwachen und darüber zu lachen. Er kniff sich unterm Tisch in den Oberschenkel und der Schmerz, den er dabei verspürte, machte ihn mit aller Klarheit deutlich, dass er dies alles gerade wirklich erlebte.
„Sergio, ist alles O.K.? Ich meine, geht es dir gut? Du schaust so komisch.“
„Nein, nein. Alles bestens. Aber sag mal. Wann soll es denn losgehen?“
„Oh, ich brauch nur noch ein paar Formalitäten erledigen und dann bin ich schon weg. Spätestens in einem Vierteljahr hoffe ich, den Umzug hinter mich gebracht zu haben.“
„Das ist klasse Sandrine. Ich freue mich wirklich für dich. Wow, Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Wahnsinn, da für einige Zeit zu leben, das wünscht sich doch jeder. Und du hast jetzt die Chance dazu. Du bist wirklich zu beneiden.“
„Und was war die Neuigkeit, die du mir mitzuteilen hast?“
„Oh“, sagte Sergio, „das war nicht so wichtig. Neben deiner Neuigkeit, würde meine nur blass aussehen. Ich sag’s dir lieber ein anderes Mal.“
Sandrine schaute ein wenig verwundert, doch Sergio war froh darüber, dass sie nicht weiter nachhakte. So widmeten sie sich weiter ihren überbackenen Auberginen und dem Grillteller und plauderten den Rest des Essens über Amerika. Über die Wolkenkratzer, die Highways, das Fast-Food-Essen dort und wie gigantisch das alles drüben doch wäre.
Sergio versuchte der übliche gute Zuhörer und Gesprächspartner zu sein, doch bisweilen kam es ihm so vor, als ob jemand mit beiden Händen seine Eingeweide gepackt hielt und diese wieder und wieder auswringe. Er wusste nicht, ob Sandrine von seinen inneren Qualen, die er gerade durchlitt irgendetwas mitbekam. Wenn doch, dann verstand sie es bestens, die Situation zu wahren und einfach alles zu überspielen, als ob nichts wäre.
Nach dem Essen täuschte Sergio ein leichtes Unwohlsein vor, so dass der geplante anschließende Kinobesuch ausfallen musste. Auch hier hielt sich Sandrines Anteilnahme in Grenzen, was ihn endgültig glauben ließ, dass sie vielleicht doch etwas von den Gefühlen, die er für sie empfand, ahnte, jedoch absichtlich ein Gespräch darüber meiden wollte.
Sie verabschiedeten sich voneinander und Sergio blickte noch einen Augenblick dem Taxi nach, mit dem sie wegfuhr und ihn alleine zurückließ.
Wieder Zuhause ließ sich Sergio in seinen Klamotten aufs Bett fallen. Er versank seinen Kopf ins Kissen und schrie mit ganzer Kraft hinein. Dann ging es ihm ein wenig besser und bald darauf schlief er ein. Als am nächsten Morgen, der Radiowecker sich meldete und ihn aus den Schlaf riss, hatte er es aus der Drehung gepackt und an die Wand geschleudert, von wo es in viele kleine Teile auf den Boden plumpste.
In diesem Moment hatte Karin März wieder einen von ihren Panikattacken. Diese hatten sich seit dem Tod ihres Mannes gehäuft. Jedoch hatte sie ein Mittel gefunden, was ihr half sich zu beruhigen. So griff sie, wie sie es schon an vielen Morgen getan hatte, zum Telefon und wählte wahllos eine Nummer. Die Stimmen, die sie dann vernahm waren zwar fremd, doch wenigstens kam sie sich nicht so allein und einsam vor.
Aber das ist eine andere Geschichte...