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Ein Tag im Schnee
Ich wandere durch die Stadt, es schneit. Es schneit solange ich mich erinnern kann, vielleicht auch schon davor. Ich weiß es nicht, niemand kann es mir sagen, niemand ist da.
Allein, ich bin allein, seit wann?
Ich weiß es nicht. Dumpfe Erinnerungen pochen durch den Nebel in meinem Kopf. Kinder, eine Familie, Gesichter von Menschen deren Namen ich nicht kenne, waren sie meine Familie oder sind sie Fremde, denen ich einst begegnet bin. Sie schreien in Todesqualen, ich bin unfähig ihnen zu helfen.
Ich wandere schwerfällig durch den hohen Schnee. Durch die Gasmaske fällt mir das Atmen schwer, aber ich gehe weiter. Es gibt kein Ziel, auf das ich mich zubewege und keinen Ort, an dem ich sein muss. Niemand ist mehr hier, nur noch ich.
Um mich herum zerfallen die Häuser der Stadt, einsam und verlassen, das Zeichen einer untergegangenen Zivilisation.
Was haben wir nur getan?
Das Erbe unserer Kinder wurde zerstört, im nuklearen Feuer verbrannt. Gier und Neid haben uns zerfressen, solange, bis es zu spät war. Das Ende wurde unvermeidlich. Unausweichlich steuerten wir darauf zu. Wir alle, ja auch ich trage die Schuld, nur ich bin noch da, um die Schuld zu tragen.
Warum lebe ich, wenn alle anderen tot sind?
Eine dumpfe Erinnerung.
Ein Zischen, meine Augen fast blind, erwache ich. Aus Schlaf?
Nein, vielleicht ein Koma, mein Kopf pocht in Schmerzen. Meine Sicht wird klarer. Ich liege in einem Sarg, langsam kehren meine Kräfte zurück und ich schaffe es, ihm zu entsteigen. Blinkende Lichter erlöschen langsam. Es ist kalt, durch die zerbrochenen Fenster fällt langsam der Schnee.
Nicht der Schnee meiner Kindheit, in dem ich mit Freunden spielen konnte, nein, dieser Schnee ist grau und tödlich.
Hustend entsteige ich dem Sarg, um mich herum liegen die Überreste toter Menschen, nur ihre Skelette und synthetische Kleidung ist noch übrig.
Warum liegt ein Lebender im Sarg und die Toten sind frei?
Das Atmen fällt mir schwer und ich trage nur einen einfachen Kittel. Ich brauche warme Kleidung um zu überleben.
Sollte ich überhaupt leben?
Ich finde etwas zum Anziehen, warme Klamotten, sie liegen dort als wären sie nur für mich gedacht.
Hat sie jemand bereitgelegt?
Aber wer?
Ich bin allein.
Eingekleidet mache ich mich auf den Weg durch die düstere Stadt.
Die Erinnerung ist jetzt ein Jahr alt und noch immer muss ich annehmen, dass es außer mir keinen anderen Menschen mehr gibt. Nicht hier an diesem Ort, in dieser Stadt.
Ich wandere umher, immer auf der Suche nach etwas zu Essen.
Es gibt sonst nichts mehr hier, nichts zu lesen, keine Literatur, keine Zeitschriften, keine Zeitungen, keinen Strom und kein Internet.
Manchmal finde ich eine Notration, sie liegen überall in der Stadt, in den zerstörten Gebäuden, so als wären sie nur für mich bestimmt.
Oft stehe ich kurz vor dem Hungertod, nur um gerade rechtzeitig eine von ihnen zu finden, wie ein Wunder kommt es mir oft vor.
Halluziniere ich? Ist dies ein Traum?
Vielleicht ist das Essen schlecht für mich oder es ist einfach die Strahlung. Ich habe keinen Schutz vor ihr, aber ich weiß noch nicht einmal, ob es sie überhaupt gibt.
Ich kann sie nicht sehen, nicht entdecken, mich nicht vor ihr schützen. Meine Maske hilft mir dennoch beim Atmen, auch wenn es nur Einbildung sein sollte, sie hilft.
Ich wandere umher und entdecke ein altes Verkehrsschild, das von einem der Gebäude hängt. Dort muss es einst befestigt gewesen sein. Das erste Wort das ich seit langem lese.
STOP steht dort. Sollte ich der Aufforderung Folge leisten und hier stoppen? Sollte ich aufhören zu suchen? Sollte ich mich einfach hinsetzen und auf den Tot warten?
Nein, ich kann nicht. Ich muss weiter. Ich suche etwas, aber was es ist, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.
Plötzlich über mir, ein lauter Knall, ein greller Lichtblitz am Himmel, der mich kurz blendet.
Eine Rakete, ich muss mich in Sicherheit bringen, aber wohin, zu spät.
Ein seltsames Gefühl überkommt mich. Mein dem Himmel zugewandtes Gesicht wird gewärmt. Ich öffne die Augen und werde geblendet. Die Rakete hat einen Riss in der dichten Wolkendecke geschaffen, durch den die Sonne scheinen kann.
Für einige Minuten genieße ich das so vertraute Gefühl, welches ich schon vergessen glaubte, dann schließen sich die Wolken und es wird wieder grau um mich herum.
Was geschah mit der Rakete? Sie ist nicht explodiert, aber irgendwo in der Stadt eingeschlagen.
Ich begebe mich auf den Weg dorthin. Es werden einige Kilometer sein.
Langsam komme ich voran, arbeite mich durch den tiefen Schnee. Meine Spuren verschwinden schon nach kurzer Zeit wieder. Ich hinterlasse nichts.
Es dauert Stunden bis ich den Ort erreiche, aber Zeit spielt für mich keine Rolle mehr. Vor mir liegt ein großer Platz, ein Krater befindet sich dort, wo das Objekt aus dem Himmel stürzte.
Kühn und ohne Angst gehe ich auf den dampfenden Krater zu. Um mich herum wird es spürbar wärmer. Ich erreiche den Rand und sehe hinunter. Dort liegt etwas, es sieht nicht aus wie eine Rakete.
Ich klettere hinunter, um es mir genauer anzusehen. Es ist ein alter Satellit.
So allein wie ich in der Stadt bin, war er dort oben im Weltall, bis er nicht mehr konnte und hinabstürzte. Ich kann ihn verstehen. Die Einsamkeit ist nur schwer zu ertragen, so wie ich allein durch die Stadt wandere, umkreiste er allein die Erde.
Eine Linse in dem Satelliten nimmt mich ins Blickfeld und fokussiert mich, dann erlöschen alle Lichter an der alten Maschine. Sie stammt aus einer anderen Zeit, an die sich niemand mehr erinnern kann, am wenigsten ich.
Für einen kurzen Augenblick fühle ich mich dem Satelliten verbunden, als wäre er ein alter Freund, der gestorben ist. Ein letztes Zeichen von Zivilisation.
Das war es. Er hat mir nichts mehr zu sagen. Aus den Trümmern kann ich die Kameralinse bergen. Ich werde sie mitnehmen, als einen Talisman, vielleicht auch nur, um meinen alten Freund den Satelliten nicht zu vergessen, denn vergessen habe ich schon zu vieles.
Ich mache mich wieder auf den Weg.
Bald wird es dunkel und so unerträglich kalt, dass selbst die dickste Kleidung mich nicht mehr schützen wird.
Ich begebe mich in eines der Gebäude. Alte Möbel aus Holz stehen dort und tief in ihm gibt es einen kleinen Fleck, der frei vom alles umfassenden Schnee ist.
Ich zertrümmere alles, was ich finden kann und häufe es auf, um es zu entzünden. Das wärmende Feuer wird mich vor der Nacht schützen. Ich lege mich so nah wie möglich an die Flammen und schlafe ein.
Mein Tag im Schnee endet. Morgen wird ein neuer kommen. Tage, Wochen, Monate, sogar Jahre vergehen, aber es ist immer ein Tag im Schnee, solange, bis die Leere mich umschlingen wird.