Ein Tag im Leben des Altenpflegezivis Tim
Der Tag eines Altenpflegezivis beginnt meistens sehr früh. Genauer gesagt um 5.00 Uhr, dann wenn der Wecker die erholsame, viel zu kurze Schlafphase beendet. Lustlos und noch kaputt von der gestrigen Spätschicht quält sich Tim aus dem Bett, um seinen neunten Arbeitstag in Folge zu bestreiten. Seine schlechte Laune wird nur dadurch aufgebessert, dass das Dienstende wieder um einen Tag näher rückt.
Pünktlich zur Schichtübergabe betritt Tim um 6.30 Uhr die Station. Wer ist wohl heute Nacht gestorben, denkt er sich. Der Arbeitstag fängt nicht gut an. Die Schichtzusammensetzung lässt Schlimmes erahnen. Examinierte Altenpfleger, welche laut Gesetz 50 Prozent einer Schicht ausmachen sollten, sind gegenüber ungelernten Pflegehelfern, FSJlern und dem Zivi deutlich in der Unterzahl. Nach der Übergabe teilt die Stationsleitung ihren „motivierten“ Mitarbeitern die Patienten zu. „Nein, gerecht ist das hier nicht“, denkt sich der Tim, als er auf der Magnettafel die ihm zugeteilten Patienten begutachtet. Patienten, die größtenteils dement und bettlägerig sind. Patienten, die ein Zivi, ohne dreijährige pflegerische Ausbildung, eigentlich nicht übernehmen darf. Doch der Mangel an qualifiziertem, teurerem Personal macht auch die Stationsleitung erfinderisch, da die Bewohner versorgt werden müssen, egal wie oder durch wen!
Bereits beim ersten Bewohner erwartet Tim eine unangenehme Überraschung. Der Bewohner liegt in einem komplett mit Stuhlgang und Urin verschmiertem Bett. Die Ausscheidungen, die bereits eingetrocknet sind, erlauben die Schlussfolgerung, dass die Nachtschwester bei ihrem letzten Kontrollgang den stuhlgangverschmierten Bewohner wohl bemerkte, gleichzeitig aber ignorierte, um sich die lästige Arbeit zu ersparen.
Fakt ist, dass die Grundsätze der Menschlichkeit in Alten- und Pflegeheimen nicht von jedem gewissenhaft erfüllt und teilweise auch einfach missachtet werden, besonders wenn der Bewohner nicht danach verlangt, ihn ordnungsgemäß zu versorgen.
Die Betten komplett beziehen, die Bewohner duschen und anziehen steht für Tim nun auf dem Programm. Plötzlich klopft es an der Tür. Es ist die Stationsleiterin, die in sichtlicher Erregung dem Zivi eröffnet, dass die für die Hauswirtschaft eingeplante FSJlerin sich soeben krank gemeldet habe und die ehrenvolle Aufgabe der Hauswirtschaft demnach an den Zivi übertragen werden müsse. „Zivildienstleistende sind Arbeitskräfte mit einem Verfallsdatum von neun Monaten.“, lautet die Antwort auf zwecklose Einwände.
8.00 Uhr. Kaum hat Tim die Essenswagen aus der Küche geholt, verlangen bereits die ersten ziel- und planlos in den Gängen der Station umherirrenden dementen Bewohner eindringlich nach ihrem Frühstück. Frühstück austeilen heißt Zimmerservice. Dabei schlüpft der Zivi für eine dreiviertel Stunde in die Rolle einer lebenden Auskunft, eines Seelsorgers, um den meist total verstörten Bewohnern Fragen wie: „Wo bin ich? Was mache ich hier? Wie komme ich nach Hause?“, zu beantworten.
Das Frühstück ist ausgeteilt, die Bewohner kurzzeitig zufriedengestellt. Doch eine Pause ist für Tim nicht in Sicht, schließlich müssen die eigenen Patienten auch noch versorgt werden. Der Zivi ist häufig auf sich allein gestellt und muss seine Aufgaben eigenständig bewältigen können, denn Teamwork bedeutet für die meisten Kollegen, die ausschließlich ihren Aufgaben nachgehen, ein Fremdwort.
Acht Bewohner müssen noch versorgt werden. Acht Mal waschen, anziehen, das Bett machen und reden. Reden ist sehr wichtig. Die Bewohner trösten und sie aufmuntern, ihnen zeigen, dass es jemanden gibt, der für sie und ihre Sorgen da ist, dass “eine Tablette zum Sterben”, keine Lösung ist. Weil das Leben auch in einem Altenheim trotzdem noch lebenswert ist. Diese Gespräche mit den Senioren machen Tims Tag einigermaßen erträglich und ermöglichen es ihm, während dieser Gespräche persönlich und zwischenmenschlich zu reifen.
Um 10.35 Uhr bringt Tim die abgeräumten und sortierten Frühstücktabletts in die Küche. Fünf Minuten zu spät eigentlich, und diese Verantwortungslosigkeit soll sich rächen, in Person eines cholerischen Kochs, welcher dem Zivi wie ein Staatsanwalt die Ausmaße seiner Schuld und die Folgen dieses Vergehens für seine Spülküche und deren Personal offen legt. Das Ganze in einer abwertenden Sprache und einem deutlich überhöhten Tonfall.
Zurück auf der Station denkt sich der noch vom jüngsten Streitgespräch mitgenommene Zivi, während er sich in einen Sessel im Aufenthaltsraum fallen lässt: O.K., die Bewohner sind versorgt, die Hauswirtschaft eigentlich auch soweit erledigt. Der Zeitpunkt für eine kleine Pause ist gekommen!“
Doch nirgendwo ist Tim vor neuen Aufgaben sicher, da er sich quasi auf der Spitze eines zu explodieren drohenden Vulkans befindet. Plötzlich kommt die Stationsleiterin, die sich von einem hochspannenden Telefonat mit einer Busenfreundin losreisen musste, näher. “Dir ist klar, dass du noch den Müll runterbringen, die Schmutzwäschesäcke aushängen und die Getränkebestände auffüllen musst?”, fragt sie den Zivi, sichtlich über seine Ruhepause erstaunt. “Pflege und die gesamte Hauswirtschaft. Das geht doch nicht, das ist unmenschlich.”, versucht Tim zu entgegnen. “Du brauchst mit mir nicht diskutieren, sonst melde ich das dem Bundesamt für den Zivildienst und sorge dafür, dass du ein Disziplinarverfahren kriegst.”, sagt die Stationsleiterin kühl und entfernt sich. Widerstand ist zwecklos. „Nein, gerecht ist das hier nicht.“, denkt sich Tim und macht sich auf zu den Schmutzräumen, welche die examinierten Altenpfleger und die Pflegehelfer konsequent versuchen zu meiden.
Die Schmutzräume bieten ein Bild des Grauens. Schwarze Müllsäcke mit verbrauchtem Inkontinenzmaterial türmen sich zu kleinen Bergen, Schmutzwäschesäcke quellen über, und überall schwirren kleine Fliegen. Der Gestank ist unerträglich! Das einzig Positive daran ist, dass während intensiver Arbeit die Zeit schneller vergeht.
11.30 Uhr. Seit mittlerweile fünf Stunden ist Tim im Dienst, 15 Minuten davon Frühstückspause. Doch das ist zweitrangig. Wichtig ist, dass die Station auf Vordermann gebracht wird. Sprudelkästen müssen aus der Küche geholt werden und zwischendurch auch die Wagen mit dem Mittagessen. Mittagessen heißt wieder Zimmerservice. 28 Apartments, 33 Mittagessen und immer wieder dieselben Fragen: Wo bin ich? Was mache ich hier? Wie komme ich nach Hause?
Mittagessen bedeutet für den Zivi gleichzeitig auch mindestens drei bis vier Mal nach unten in die Küche zu gehen, um nach langem und hartem Kampf mit dem Küchenpersonal, wobei vordergründig die Schuldfrage geklärt werden soll, ein falsch geliefertes Bewohneressen gegen das richtige Menü einzutauschen. Beim anschließendem Abräumen des Mittagessens hilft Tim glücklicherweise eine gerade zur Spätschicht eingetroffene FSJlerin, wobei die examinierten Altenpfleger und die Pflegehelfer aus Spaß an der Freude eine Kaffeepause einlegen.
13.30 Uhr. Während der Schichtübergabe kommt eine MRSA-Patientin zurück aus dem Krankenhaus und verlangt durch dauerhaftes Klingeln eindringlich nach ihrem Mittagessen. Der Multi-Resistente-Staphylococcus-Aureus, hat gegen mehrere wichtige Antibiotika Resistenzen erworben und stellt aufgrund der schlechten Behandelbarkeit eine Gefahr dar. Neben harmlosen Furunkeln können MRSA-Bakterien schwere Wundinfektionen, Pneumonien und Blutvergiftungen hervorrrufen. Die Stationsleitung beauftragt Tim damit, der Patientin das Essen zu servieren und diese gleichzeitig beim Toilettengang zu versorgen. Die Einwände des verzweifelten und beunruhigten Zivis, er wisse nicht, wie er sich und die anderen Patienten anschließend vor den MRSA-Keimen schützen soll, werden durch die Stationsleitung einfach ignoriert! „Nein, gerecht ist auf dieser Station rein gar nichts. Hier ist es grausam und unmenschlich.“, denkt sich Tim.
14.20 Uhr, Zeit für die Nachmittagsmahlzeit. Kaffee und Kuchen austeilen ist eine Kunst für sich. Ein totales Chaos und der Zivi mittendrin. Wer trinkt einen schwarzen Kaffee, wer einen Milchkaffee, einen Tee oder eine warme Milch? Wer bekommt Zucker und wer Süßstoff? Wer einen normalen und wer einen Diabetikerkuchen? Diese Fragen sind momentan wesentlich. Denn viele mit sich und ihrem jetzigen Leben unzufriedene Bewohner, die seit Jahrzehnten über feste Gewohnheiten verfügen, können und wollen die Fehler eines einfachen Zivildienstleistenden nicht tolerieren.
14.50 Uhr, die Schicht endet in zehn Minuten. Eigentlich kann und sollte jetzt nichts mehr schief gehen. Eigentlich. Falsch gedacht! Wie unter Starkstrom stürmt die Stationsleitung auf den Zivi zu: „ Du weißt aber schon, das heute Dienstag ist und du noch die schmutzige Bewohnerwäsche aus den Zimmern einsammeln musst?“ Ohne Widerrede und in Vorfreude des baldigen Feierabends nimmt der Zivi auch diese letzte Aktion in Angriff.
15.10 Uhr. Der Tag ist geschafft. Tim erwarten jetzt knapp 15,5 Stunden Freiheit und Leben. Am nächsten Morgen beginnt alles wieder von vorne.