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Ein Tag für Gustav

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11.03.2002
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Ein Tag für Gustav

Verschiedene Persönlichkeiten liegen verstreut im Zimmer umher. Ein arbeitsloser, alt aussehender Mann, der immer im Park sitzt und die Tauben füttert, hängt über einer Sessellehne. Das kleine weinende, blondbezopfte Mädchen, das schon jetzt jedes Männerherz schmelzen lässt, wenn es großäugig vor dem Eisautomaten steht, liegt achtlos in der Küche auf dem Fußboden. Hier eine alte Frau, dort ein Politiker, ein Haus voller Persönlichkeiten. Auf der Fensterbank liegt es. Noch müde blinzelt es in die Welt. Es lässt seinen Blick schweifen und horcht in sich hinein, auf wenn es heute Lust hat. Doch die Entscheidung war eigentlich schon nach den ersten Sekunden des Aufwachens gefallen: Heute ist in Tag für Gustav! Das Wetter ist wie geschaffen für ihn. Die Stadt liegt in grauem Dunst. Ein optimistischer Mensch könnte späteren Sonnenschein erahnen. Ein Wetter, bei dem die Menschen grimmig und hoffnungsvoll zugleich sind. Ein Tag um in Cafes mit interessanten Menschen und besonders mit netten Damen zu plaudern. Gustav hat diese besondere Ausstrahlung, diesen Optimismus, diesen Charme. Es schlüpft pfeifend in Gustav Persönlichkeit – er hat wirklich so gar nichts melancholisches. Gustav zieht seine Fliege zurecht, steckt sich eine Blume ins Knopfloch, nimmt seinen Spatzierstock, wirft übermütig die Tür hinter sich ins Schloss und schreitet vergnügt aus. Es genießt die Fröhlichkeit Gustavs. Nach einem ausgedehnten Spaziergang durch das Vorstadtviertel, das auch schon bessere Tage gesehen hat, lenkt Gustav, fast unbewusst, seine Schritte in Richtung dieses angenehmen italienischen Cafes, wo er neulich Adele kennengelernt hat. Seine zögerlichen Blicke, die das Innere des Cafes erforschen, werden durch ihren Anblicke belohnt. Er ist von ihrem Erscheinen gefesselt. Einen Moment hält er inne, betrachtet sie durch die Scheibe. Dann - mit einem Ruck – reißt er sich los, tritt durch die Tür und steuert direkt auf sie zu. Mit ein wenig Stolz gewahrt er das kurze Flackern ihrer Augen als sie ihn bemerkt. Und natürlich wird es ein schöner Nachmittag, voll von Augenblicken. Als es anfängt zu dämmern erhebt sich Gustav langsam. Eine Frage schwebt in der Luft und löst sich wieder auf, ohne in Worte gefasst worden zu sein. Gustav geht.
Sobald er die Haustür hinter sich geschlossen hat, fährt es aus ihm heraus. Es ist wütend. Es legt sich auf die Fensterbank, ohne Gustav noch eines Blickes zu würdigen und dämmert vor sich hin. Morgens ist noch immer nicht alle Wut verstrichen. Hetzend stürzt es sich in den Politiker, verlässt herrschsüchtig das Haus. Es ist Zeit für Veränderungen!
Der Tag geht vorbei, hektisch, aggressiv und als der Politiker abends, schutzsuchend und mit klopfendem Herzen hinter geschlossener Tür steht, schlüpft es heraus, froh ihn los zu sein. Was bleibt ist eine gewisse Melancholie. Der obligatorische Platz auf der Fensterbank wird eingenommen. Noch bevor es einschläft, weiß es, dass morgen ein „ganz unten Tag“ sein wird.
Das Wetter hat sich seiner Stimmung angepasst. Regnerisch und dunkel beginnt der neue Tag. Rastlos durchstreift es seine Gemächer und sucht nach der perfekten Persönlichkeit für heute. Ein paar probiert es aus, aber die eine ist zu fröhlich, die andere zu optimistisch, und die nächste zu gesund. Dann stößt es auf Lucy – oder wie auch immer ihr Name ist. Lucy ist 15 Jahre alt, heimatlos und selbstzerstörerisch. Es schlüpft in sie hinein und fühlt sich zu Haus in ihrem Elend.
Lucy verlässt das Haus Sie ist immer ein bisschen benommen, so dass sie nicht genau weiß, wo sie sich befindet. Sie läuft ein Stückchen, läuft, läuft...und wird langsamer bis sie auf einmal ganz stehen bleibt. Menschen um sie herum fluchen, weil sie ihnen in ihrer Hast im Wege steht. Sie merkt es nicht. Sie steht da, weil sie nicht weiß, wohin sie gehen soll. Erst als neben ihr ein Auto stehen bleibt und hupend auf sich aufmerksam macht, setzt sie sich wieder in Bewegung. Wie hypnotisiert läuft sie auf das Auto zu. Drinnen sitz eine grinsende Männergestalt, die sie heranwinkt. Lucy setzt sich auf den Beifahrersitz ohne ein Gespräch abzuwarten. Endlich Ruhe, Geborgenheit, endlich ein Mensch, der sich für sie interessiert. Sie ist dankbar, sie wird ihm bis ans Ende der Welt folgen. Sie zieht ihre Beine auf den Sitz, schlingt ihre Arme darum und lässt den Kopf auf die Knie sinken. Seine fordernden Hände nimmt sie in Kauf, Hauptsache er ist bei ihr, nimmt sie mit.
Das Auto fährt. Zeit spielt keine Rolle. Sie fließt, tropft. Das Auto hält. Der Mann führt Lucy in ein Zimmer. Sie lässt sich auf das Bett sinken, müde. Kurze Zeit später ist er über ihr.
In dem Moment, wo er sie – nahe der Stelle, wo er sie aufgelesen hatte – wieder absetzt, ist ihr Gedächtnis schon ausgelöscht. Sie findet Geld in ihrer Tasche und macht sich auf den Weg alles erträglicher zu machen. Lucy kehrt erst nach einigen Tagen wieder zum Haus zurück. Es schlüpft aus Lucy, streift sie ab, sie ist eng geworden in den letzten Tagen. Erschlagen lässt es sich auf die Fensterbank sinken. Erst nach einigen Tagen hat es seine Kräfte soweit wiedererlangt, dass klare Gedanken ins Bewusstsein dringen. Die Sonne scheint und kitzelt es aufdringlich. Licht und Schatten spielen miteinander. Es springt in die Persönlichkeit eines 8-jährigen Rotzlöffels und rennt aus der Tür. Es schließt sich der jagenden und grölenden Horde von Nachbarjungs an. Es wird ein ausgelassenes Toben, ein paar vergossene Tränen über ein aufgeschlagenes Knie, eine geliehene Mutter, die ihn in den Arm nimmt und tröstet. Es frohlockt in dieser ausgelassenen Stimmung. Herrliche Naivität, kein Gedanke an gestern oder morgen. In den folgenden Tagen probiert es einige Kinder durch, bis es satt, gleichsam schmatzend wohltuende Ruhe findet. Noch in seinen Träumen spielt es ausgelassen. Als die Zeit des Spielens vorbei ist, liegt es sinierend auf der Fensterbank.
Manchmal wünscht es sich, es könnte in zwei Persönlichkeiten gleichzeitig schlüpfen. Wie herrlich wäre es, sich selbst zu begegnen. Vielleicht der alte Mann den alle für verrückt halte, weil er ständig vor sich hin brummelt und die Frau, die so gerne durch den Park läuft. Es stellt sich eine Begegnung zwischen den beiden vor: Im Park auf der Bank. Sie brauchen gar nicht zu reden. Sie nehmen sich nur gegenseitig wahr, fühlen sich gut in der Nähe des anderen und die Einsamkeit würde für eine kurze wunderbare Zeit dieses schmerzende Nagen lassen. Es seufzt. Gustav ist dabei sich zu verlieben. Es geht nicht! Das kann nicht funktionieren. Wer oder was ist Gustav schon? Es wird wieder wütend. Gleichzeitig aber hat es Sehnsucht. Vielleicht noch einmal diese Illusion genießen, dass es jemals diese Einsamkeit verlassen könnte. Es macht einen Deal mit sich selbst: Morgen noch einmal Gustav sein, Nähe schmecken und dann ab in die Mottenkiste mit ihm. Nach diesem Entschluss sieht es dem morgigen Tag aufgeregt, und auch ängstlich entgegen.
Gustav verlässt in gewohnter Manier das Haus. Pfeifend und gut gelaunt. Heute macht er keinen Umweg. Er steuert direkt auf das Cafe zu. Dorthin, wo Adele ihn erwartet. Leicht ungehalten vertreibt er den Gedanken daran, wie es sein wird, sie wieder zu verlassen. Wie gewohnt bleibt er vor den Fenstern des Cafes Stehen und sucht sie mit seinen Blicken. Sie ist nicht da. Natürlich! Es ist viel zu früh – noch nicht ihre Zeit. Die Chance umzukehren, lässt er ungenutzt. Er betritt den Raum, strebt auf ihren Tisch zu. Setzt sich. Steht wieder auf. Zögert, setzt sich wieder. Dann betritt sie den Raum. Blicke fliegen hin und her. Zweisamkeit wird fassbar. Adele setzt sich zu ihm. Während des Nachmittages wird der Abschied, der in der Luft liegt, immer greifbarer. Adele wird auf einmal klar, dass es ein Abschied für immer sein wird. Und sie, die nie jemand war, der gefordert hat, fasst einen Entschluss. Als es für Gustav Zeit wird zu gehen, blickt er Adele lange an und wendet sich dann – fast abrupt – ab. Nach Hause hetzt er. Er schließt die Tür hinter sich und seine Traurigkeit mischt sich mit der seines Bewohners. Es schält sich fast liebevoll aus Gustav und hängt ihn ordentlich auf einen Stuhl. Es weiß, dass es zu weit gegangen ist. Zu viel Nähe ist zu schmerzhaft, das Wissen darum sie wieder aufgeben zu müssen. Es bettet sich auf die Fensterbank und blickt traurig in die Welt. Da schrillt die Türglocke. Es blickt zum Eingang und sieht gerade noch Adele, wie sie ihren Kopf zum Türspalt hereinsteckt. Dann löst es sich auf und mit ihm seine Persönlichkeiten.
Adele steht in einem leeren, unbewohnten Haus. Verwirrt schüttelt sie den Kopf, dreht sich um und geht. Die Tür fällt leise hinter ihr ins Schloss.
Katinka

 

Alo interessant ist die Geschichte schon, nur leider habe ich nicht recht
Zugang zu ihr gefunden.
Die Aussage ist mir genauso unklar, wie der Schluss.
Die in diesem Text verwendeten Symbole kann ich nicht eindeutig auf die Gegenwart übertragen. Vielmehr scheint die Palette an möglichen Interpretation schier zu weit gefasst.

Warum löst es sich auf, zum Teufel? :baddevil:

 

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