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Ein Tag aus dem Leben...

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23.03.2002
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Ein Tag aus dem Leben...

Eigentlich wird es Zeit aufzustehen, aber ich bleibe noch ein Paar Minuten im Bett. Mache die Augen auf. Gähne, recke mich genüsslich, strecke den Arm zum Nachttischchen, suche tastend die Feuchtigkeitscreme. Creme das Gesicht und die Arme ein. Nach einem kurzen Nachdenken auch die Beine. Mit meinen Beinen bin ich sehr zufrieden- schlank, aber nicht zu knochig. Ich lächle. Stehe auf und ziehe mich an. Ein Samtröckchen, bunte Glasperlen, Fransenschal, Strümpfe, Korsett, Ohrringe, Armband. Schminke meine Lippen, Wimpern, Nägel, Haare, Haut. Schalte Musik ein. Tanze zu ABBA, putze mir die Zähne zu Sting, mache Aerobic zu Queen, frühstücke zu Marilin Manson. Obstsalat, Rotwein und Bananeneis mit Schokoladensoße. Ich merke plötzlich, dass die künstlichen Wimpern in meinem Eisbecher schwimmen und ein Strumpf gerissen ist. Ich klebe die Wimpern wieder auf (zu Beetles) und bestreiche den Strumpf mit Nagellack, damit er nicht weiterreisst( zu Bob Marley). Neue Strümpfe anzuziehen, habe ich keine Lust. Es ist sogar pikant so. Stehe vor dem Spiegel. Meine Haare gefallen mir nicht. Ich ziehe eine Perücke an. Eine rote. Nehme sie wieder ab. Ziehe eine andere an. Schwarze Locken. Nehme sie ab. Ziehe eine andere an. Grüne Dread-locks. Nehme sie ab. Gehe ins Bad und rasiere mich kahl. Rasierklinge. Blut. Mein Gekreisch und Gewinsel. Versuche, mir auf den Hinterkopf zu pusten. Die Nachbarn klopfen an die Wand – ich bin wohl zu laut. Die können mich mal. Schalte „The Time Warp“ ein, maximale Lautstärke. Vergesse meine Wunde, tanze vor dem Spiegel. Küsse das Glas. Wische den Lippenstift von Spiegel, schminke die Lippen nach. Ziehe mich an, um auszugehen – Pelz, Stiefel, Theatertasche. Mache die Tür zu.
Erinnere mich an die Katze, mache die Tür wieder auf. Füttere die Katze mit Wurst. Sie will nicht. Gebe ihr Baneneis. Sie frisst. Ich setze sie auf meinen Schoß, streichle sie. Erzähle der Katze „Den Namen der Rose“ nach. Es gefällt ihr. Schade, dass sie nicht lesen kann. Erzähle der Katze „Das Bildnis des Dorian Gray“ nach. Sie schnurrt. Beginne, „Krieg und Frieden“ nachzuerzählen. Die Katze schläft ein. Ich schaue auf sie Uhr, kreische auf, schmeisse die Katze runter vom Schoß. Sie kratzt mich. Blut. Mein Gekreisch und Gewinsel. Die Nachbarn klopfen. Pflaster. Ziehe den Pelz wieder an. Drehe mich vorm Spiegel. Drehe mich zum Fenster. Da ist Frühling. Mache das Fenster auf. Es ist warm. Schaue auf den Thermometer - plus 23°. Schaue auf den Kalender. Atme tief ein. Und wieder aus. Messe meinen Blutdruck. In Ordnung. Auch kein Fieber. Schaue auf den Kalender. Flüstere „seltsam...“ Schaue auf die Uhr. Ich muss los!
Ziehe alles aus. Auch die Unterwäsche. Ziehe ein Seidenkleid an. Rasiere mir die Beine. Der Anblick der Rasierklinge erinnert mich an meinen Kopf. Ich fluche. Rufe eine Freundin an. Sie sagt, Glatzen wären total in. Sie sagt, ich sähe immer gut aus. Ich sage, dass gerade sie, im Gegensatz zu mir, gut aussieht. Sie sagt, dass ihr Freund nicht so denkt. Dass er ständig mit anderen flirtet. Dass sie ist eifersüchtig ist. Fragt, was zwischen mir und N. läuft. Ich erzähle ihr fast alles. „Fast alles“ zu erzählen, dauert 37 Minuten. Sie sagt, dass ich Glück habe. Dass sie sich langweilt. Dass wir doch mal etwas unternehmen sollten. Zum Beispiel, ins Theater gehen. Oder in die Oper. Oder ins Schwimmbad. Oder in die Bibliothek. Oder ins Fitnessstudio. Oder in den Park. Oder in eine Kneipe. Ich versuche, mich zu erinnern, was ich heute vorhatte. Begreife, dass ich mich nun sowieso verspäten würde. Lege mich aufs Sofa, quatsche weiter mit der Freundin. Lege den Hörer auf. Seufze. Stehe auf. Gieße Shampoo in eine Tasse, Wasser dazu, ein Trinkhalm. Setze mich auf die Fensterbank, Seifenblasen fliegen weit. Wunderschön! Ein junger Mann schaut zu mir auf .Meine Wohnung ist im ersten Stock.
Er schaut mich an, und dann schaut er wieder weg. Und dann wieder zu mir. Ich lächle und winke ihm zu. Er grinst verlegen. Sonne. Luft. Das Rauschen der Bäume. Das Gefühl der Seide auf meiner Haut, die Kälte der Fensterbank, der Kerl da unten.... Ich schlage das rechte Bein übers linke. Strecke mich. Schlage das linke Bein übers rechte. Bewege die Zehen. Seufze. Gehe ins Schlafzimmer, überlege, ob ich vielleicht aufräumen sollte, lasse das aber sein. Nehme meine Gitarre, gehe wieder ins Zimmer mit dem Ausblick auf den jungen Mann.
Er ist nicht mehr da. Schade. Trotzdem setze ich mich wieder auf die Fensterbank mit der Gitarre und singe „Killing me softly“. Dann singe ich „Yellow Submarine“ und „Dancing Queen“. Und „mein kleiner grüner Kaktus“. Weiss nicht, was ich noch singen soll. Fange an, Gedichte zu rezitieren .Kein Publikum da. Hmmm...
Langweilig, hier zu sitzen, aber in der Wohnung ist es ungemütlich. Ich nehme einen Zeichenblock und Farben und gehe auf die Straße. Setze mich auf den Bürgersteig und male eine Landschaft. Dann male ich Liebhaber in der Landschaft. Male halbgeschlossene Augen, halbgeöffnete Lippen, Windungen, Berührungen und Schaudern. Es wird heiss...draußen. Gehe wieder nach Hause. Lasse kaltes Wasser in die Wanne einlaufen.5 Flakons Badeschaum rein – grüner Schaum mit Apfelaroma, violettes, was nach Veilchen riecht, gelbes voller Orientdüfte, schwarzer Opiumschaum und Schaum, der seiner Farbe entsprechend einen Orangengeruch hat. Ziehe das Kleid aus, lege mich in die Wanne. Schließe die Augen. Tauche unter. Lasse nur die Nase draußen zum Atmen. Fühle mich glücklich. Liege und summe ein Liedchen. Es wird kalt. Lasse heisses Wasser einlaufen, tauche wieder unter. Liege und summe ein Liedchen. Es wird zu heiss. Lasse kaltes Wasser einlaufen. Die Wasser läuft über den Beckenrand. Mir ist es egal. Ich liege und summe ein Liedchen. Als mir wieder kalt wird, krieche ich heraus aus der Wanne. Habe Halsschmerzen. Fühle mich elend. Schaue auf die Uhr. Seufze. Schaue in den Spiegel. Eine Träne auf meiner Wange. Ich friere. Gehe ins Schlafzimmer, lege mich hin, decke mich zu. Im Bett liegt die Fernbedienung. Ich schalte den Fernseher an und wechsle die Kanäle: Tiere, Mörder, Liebe, Zeichentrickfilme, das literarische Quartett, Musik, idiotische Sketche, Fussball, Ballett, Sex, Werbung, ein Drama, die Heldin weint, der Held erschießt sich, Eiskunstlauf und wieder Cartoons. Bleibe bei einem Film: sie ist verliebt, er ist impotent, gibt es aber nicht zu, spielt einen Herzensbrecher, sie denkt, er mag sie nicht, in Wirklichkeit ist er aber auch in sie verliebt, kann es ihr nur nicht sagen, weil er impotent ist, dabei ist sie eine Sexopathologin, eine geniale Ärztin, und könnte ihm helfen, sie weiss aber nicht, dass er impotent ist und denkt, dass er sie nicht mag; währenddessen stellt sich heraus, dass ihr Bruder HIV–positiv ist und ihre Mutter heiratet einen verrückten Amerikaner... Ein spannender Film. Stelle mich an der Stelle der Heldin vor. Der Film geht zu Ende. Ich strecke den Arm zum Nachttisch, hole meine Nachtcreme, creme das Gesicht ein. Unterm Kissen liegt ein Buch. „Die unendliche Leichtigkeit des Seins“. Ich schlage das Buch auf, Seite 193, da klingelt das Telefon. Am Apparat: Daniel K. Er sagt, morgen schreiben wir eine Klausur. Er wundert sich, dass ich nicht gelernt habe. Er sagt, ich wäre der leichtsinnigste Kerl, den er kennt.

 

Ausserordentlich be-ein-drückend. Und ausserordentlich gut geschrieben. Dramatisch und ziemlich brutal. Manisch-depressiv stimmend für Leser jedeweder Einstellung.

(Schnitt)

Ich glaube, das sagt schon, wie beeindruckt ich bin!

cu, Piramidon

[Beitrag editiert von: Piramidon am 24.03.2002 um 12:17]

 

;) , ;) , :D , :p ...

sehr gut. Unglaublich dicht, temporeich, fesselnd, trotz der Länge: man muß es in einem Rutsch lesen.
Frage: "der Kerl" bedeutet: männlich? ah-a! da hast Du mich am Schluß erwischt... ( abgesehen von allem anderen: die Quaselstrippe und so weiter... )
Ich denke, so unentschlossene, tatenlos-prallgefüllte, überhandlungsgeladene, nichtstuende Tage kennt jeder, rastlos, ziellos, nie zufrieden, Leitmotive, die nicht die Bedeutung haben, die man ihne gerne geben möchte...
aber diese Figur hier ist echt kraß! schön kraß! ( Respekt! :D )

Hat mir gut gefallen. Sehr wenig Fehler, die ich bei meinem Lesetempo so schnell überflogen habe, daß ich sie nicht mehr weiß!

Lieben Gruß,
Arc

[Beitrag editiert von: arc en ciel am 24.03.2002 um 12:32]

 

Danke,Danke,Danke!

Piramidon - es stimmt bei weitem nicht jeden manisch-depressiv! Es gibt Menschen, die das Ganze nur lustig finden. Oder lustig UND manisch-depressiv - wie ich (finde und bin)

Arc -ja-a-ah, erwischt!!! (Fast) jeder denkt automatisch, dass etwas, dass sich schminkt und mit Jungs flirtet, weiblich sein muss - is' aber gar nischt so! ;)

Ansonsten ist die geschichte ziemlich autoboigraphisch (nur dass ich keine Glatze habe und kein Transvestit bin - das kann Piramidon bestätigen ;)

 

na, ab und zu muß mich ja auch mal einer erwischen...
und ein Transvestit will doch wohl genau das... sag ihm: er hat sich wirklich hübsch gemacht und sollte sich keine Sorgen über sein Aussehen machen... ich hab nicht gesehen, wie sie wirklich aussieht...

Arc

PS: das mit der homepage verstehe ich schon richtig, oder? so viel zum Thema "erwischt" ... ;)
aber mag auch dran liegen, daß ich Sachen besser verstehe, die mir spanisch vorkommen, als russisch... :D
Viel Spaß noch!

 

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