Mitglied
- Beitritt
- 15.03.2021
- Beiträge
- 67
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Ein Stück vom Himmel
Es war an einem Samstagabend während meines Kurzurlaubes in Krakau, als mir etwas wirklich Seltsames passierte. Gerade hatte ich wieder eine der unzähligen Kirchen verlassen, ohne sie richtig anschauen zu können, denn natürlich fand eine Messe statt, wenn ich kam. Irgendwie schien das hier ein Gesetz zu sein. Dennoch stand ich länger zwischen all den so verschiedenen Menschen im Eingangsbereich, die keinen Sitzplatz mehr gefunden hatten, als ich für einen kurzen Blick ins Innere unbedingt benötigt hätte. Auch dies war ein Erlebnis. Nun lief ich in Richtung Schloss und suchte ein Lokal zum Abendessen. Dominik hatte mir in der Gegend eins empfohlen, bevor ich allein zu meiner Kinder-Auszeit aufgebrochen war. Es ging mir wunderbar; ein wenig müde und doch beschwingt. All die Eindrücken in dieser alten Stadt mit den vielen jungen Menschen!
Plötzlich hörte ich eine Stimme, die Stimme einer Frau. Ich kannte die Klänge und lief auf die Musik zu, denn ich wollte sehen, wem solch eine Stimme gehören konnte. "Pie Jesu, Domine...", unser Chor hatte das Requiem von Fauré im vorletzten Jahr aufgeführt. Sie sang wie aus einer anderen Welt. Die Arie war kein tragischer Reißer, sondern eine friedvolle Verheißung. Die Leute hörten ihr mit offenen Mündern zu.
Die Sängerin stand neben dem Aufgang zur Peter und Pauls-Kirche, hinter sich zwei der zwölf Apostelfiguren, die sich alle auf dem Zaun am Vorplatz der Kirche aufreihten, neben sich die Pforte zum Innenhof, gekrönt von den Skulpturen der Mutter Gottes, zweier Heiliger und ganz oben einem Engel. Wie passte ihre Musik zu dieser Kulisse. Dennoch, wenn ich sie in einer Oper gehört hätte, hätte ich gedacht: Wunderbar, das ist mal eine Sängerin! Aber hier auf der Straße, bettelnd, das ergab keinen Sinn. Jetzt sang sie Gounods Ave Maria. Ich konnte nicht weitergehen. Anderen ging es ebenso. Ständig bekam sie Geld in ihren geöffneten Koffer geworfen. Ich filmte sie, denn irgendwie wollte ich sie mitnehmen.
Den ganzen Abend lang ging sie mir nicht aus dem Kopf. Sie hatte so etwas Berückendes gehabt. Erst als ich später schon im Bett lag, sah ich mir den Film an. Schade, sehr verpixelt, diese Nachtaufnahme. Da ging ein Mann zu ihrem Koffer und warf Geld hinein. Als er weiterlief, wendete sie sich, ihren Gesang mit erhobenen Armen unterstreichend, leicht zur Seite. Da funkelte etwas hinter ihrem Rücken. Ganz kurz nur, dann war auch der Film zu Ende. War ich verrückt? Ich schaute mir die letzte Sequenz noch einmal an. Dieses Funkeln hatte eine merkwürdige Form. Wenn ich ein Kleinkind oder etwas wunderlich wäre, würde ich behaupten, es hätte die Form von Flügeln gehabt. Dann wäre ein Engel in die nächtlichen Straßen von Krakau hinabgestiegen, um zu singen.
Selbst wenn ich vielleicht nicht unempfänglich für die Vorstellung einer Existenz von Engeln war, glaubte ich nicht, dass sie wirklich Flügel hatten. Diese Behauptung hätte mich eher erheitert. Es musste ein technischer Fehler der Kamera gewesen sein oder eben irgendein zufälliger Lichtreflex. Schon lustig. Trotzdem sah ich mir die Sequenz noch ein drittes Mal an. Plötzlich sah ich auch noch etwas anderes, das mir vorher nicht aufgefallen war: Auf der Mauer, neben der Sängerin, saß ein Mädchen, vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt. Das Licht der Straßenlaterne fiel nicht auf sie, nur etwas auf die Sängerin, dennoch wirkten die Beiden, als gehörten sie zusammen. War das Mädchen ihre Tochter? Weshalb waren die beiden so arm, dass sie nachts betteln mussten, wenn die Mutter so unglaublich schön sang?
Am nächsten Abend zog es mich wieder zu diesem Ort. Zuerst unbewußt, war ich nach dem Besuch der alten Universität, der heute auf meinem Programm gestanden hatte, letztlich wieder in diese Gegend gewandert. Ich wollte, ich wünschte mir, sie würde wieder singen. Meine Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Dieses Mal sah ich mir die Sängerin sehr genau an. Da funkelte nichts hinter ihr. Ich filmte sie wieder ein Stückchen und schaute mir den Film tonlos gleich an Ort und Stelle an. Da, war es wieder! So verrückt gespielt hatte meine Handykamera noch nie. Warum nahm sie etwas auf, was ich nicht sehen konnte? Ich suchte nach dem Mädchen im Dunkeln hinter ihr, und richtig, auch sie war wieder da.
Jetzt musste ich einfach zu ihr gehen. Ich hatte Urlaub, ich konnte auch einmal merkwürdigen Zufällen nachspüren, warum nicht? Außerdem lebte die Hälfte meiner Familie in Polen und ich sprach die Landessprache gut genug. Ich schlenderte zu dem Mädchen und setzte mich neben sie. Kurz lächelte sie mir zu, hatte jedoch ansonsten nur Augen für die Sängerin. Nach einer Weile fragte ich sie:
„Ist sie deine Mutter?“ Das Mädchen lächelte wieder und schüttelte den Kopf. Dann sagte sie: „Ich habe keine Mutter mehr. Sie ist meine Lehrerin.“
„Ist sie Opernsängerin?“, fragte ich leise, „Dann muss der Unterricht bei ihr ja viel kosten…Oder ist sie arbeitslos und singt deshalb hier?“
„Nein. Sie ist unsere Nachbarin seit einer Woche, seit … meine Mutter gestorben ist.“
„Oh, das tut mir leid!“ Das arme Kind! Zwar war sie nicht mehr wirklich klein, doch die Mutter zu verlieren, war noch immer eine Katastrophe in ihrem Alter. „Dein Vater kümmert sich jetzt um dich?“, fragte ich weiter, ich musste einfach fragen.
„Naja.“, war ihre Antwort. Ich schwieg mit ihr, denn ich wollte ihr nicht lästig fallen. Sie kannte mich schließlich nicht. Aber offensichtlich hatte sie auch noch andere Sorgen.
„Sie hat sich um mich gekümmert die letzten Tage“, erzählte sie plötzlich von allein weiter. „Sie hat mit mir gesungen. Sie sagt, ich habe viel Talent zum Singen.“ Ihre Augen strahlten, dann schwärmte sie wieder die Sängerin an. Ich lächelte, schloss meine Augen und überließ mich ebenfalls dem Zauber der Klänge. Doch nach einer Weile gewannen meine Gedanken wieder die Oberhand.
„Hast du keine Schule?“, fragte ich nachdenklich.
„Ich bin nicht hingegangen.“
„Du ... bist wahrscheinlich beurlaubt, klar.“ Die Frage lag nur in meinem Blick. Das Mädchen antwortete nicht. Nach einigen Minuten sah sie mich wortlos an und schien in meinem Gesicht etwas zu suchen. Dann fasste sie offenbar einen Entschluss.
"Sie sind auch eine nette Person", sagte sie und sah wieder zur Sängerin.
"Danke", lächelte ich und fühlte mich beschenkt.
„Ich wollte nicht mehr leben, wissen Sie“, redete sie nun weiter. „Mit meinem Vater ist es nicht so einfach. Aber Eleonor hat mit ihm gesprochen und ihn dazu gebracht, meinen Antrag für die Musikschule zu unterschreiben. Ich möchte auch einmal so himmlisch singen können… Das Geld, das Eleonor hier abends verdient, ist für meinen Gesangsunterricht, für den Anfang. Sie tut es für mich.“ Was für ein Blick, so offen und rührend!
„Ich dachte, sie ist deine Lehrerin?“
„Ja, aber sie muss wieder fort, hat sie mir heute gesagt.“
„Wohin denn, ist sie nicht erst vor einer Woche neben euch eingezogen?“
„Das Haus neben uns ist ein Hotel.“ Das Mädchen lachte jetzt. „Sie fährt wieder nach Hause.“