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Ein Stück Heimat
Wie sollte sie damit leben? Noch nie hatte sie sich so mies gefühlt. Gerne hätte sie sich jemandem anvertraut. Doch den einzigen Menschen, mit dem sie darüber hätte reden können, ja müssen, hatten sie heute zu Grabe getragen. Ob sie ihr verziehen hätte?
Alle waren zu Tränen gerührt, als der Pfarrer nach seiner bewegenden Rede, den letzten Wunsch ihrer Oma erfüllte. Doch sie wusste es besser. Noch im Tode betrog sie ihre Oma und irgendwie auch alle anderen.
Mit brutaler Wucht kam die Erinnerung bei den Worten des Pfarrers zurück. Längst hatte sie vergessen, was sie als Kind einmal getan hatte.
Was wusste sie als Kind auch schon von Flucht und Vertreibung. Oder von verlorener Heimat. Sie wusste nur, da gab es eine Metalldose, die ihrer Omi heilig war und die sie nicht anrühren durfte. Als sie ihre Mutter fragte, was denn so Wertvolles darin sei, meinte diese: „Ein Stück Heimat!“, und ermahnte sie eindringlich, diese Dose nie anzufassen. Doch wie sah so ein Stück Heimat aus? Diese Frage schwirrte ihr ständig im Kopf herum. Die Neugier ließ sie nicht los.
Als dann ihre Mutter einmal zusammen mit ihrer Oma im Nachbarort zum Einkaufen und ihr Vater mit dem Hund draußen auf dem Feld war, ergriff sie die Gelegenheit. Sie nahm die Dose aus dem Schrank, ging mit ihr hinter die Scheune, wo sie niemand sehen konnte, und sah sich den wertvollen Inhalt an. Wie enttäuscht war sie damals. Da war ja nur Erde drin. Ganz gewöhnliche Erde. Sie wühlte gerade noch ein wenig in der Dose herum, ob nicht doch noch etwas anderes darin wäre, als sie vom heimkehrenden Hofhund freudig angesprungen wurde. Vor Schreck ließ sie die Dose samt Inhalt fallen, der sich daraufhin über den Boden verteilte. Schnell versteckte sie damals die Dose und fegte den Inhalt beiseite. Der Hund war zurück, da konnte der Vater nicht weit sein.
Später, als ihr Vater dann im Stall beim Melken war, nahm sie etwas Erde aus dem Garten, tat sie in die Dose und stellte diese heimlich wieder in den Schrank zurück. Natürlich hatte sie Angst vor Strafe. Aber sie spürte auch damals schon, dass es ihre Oma traurig machen würde, wenn sie es wüsste. Doch niemand merkte etwas und irgendwann vergaß sie die ganze Sache.
Aber jetzt war es wieder da. Der Pfarrer hatte vom Leben ihrer Oma erzählt und auch, dass sie den Verlust der Heimat niemals ganz verwunden hatte. Und er berichtet vom Wunsch der Verstorbenen, mit der Erde ihrer Heimat begraben zu werden. Als er dann in einem feierlichen Akt die Erde über den Sarg streute, wurden auch beim Letzten die Augen feucht. Nur sie war wie erstarrt. Im Stillen versuchte sie sich zu beruhigen. Niemandem machte es etwas aus, denn niemand wusste davon. Doch das stimmte nicht.
Sie wusste es.