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Ein Spaziergang
Wenn man sich in einem Naherholungsgebiet, obwohl es bessere Orte dafür gibt, einer Leiche entledigen möchte, so sollte man es wenigstens nicht um zehn Uhr abends machen, da um diese Zeit, auch wenn es vielleicht schon dunkel sein mag, noch einige Leute unterwegs sein können, sondern, wie mir scheint, besser um halb vier am Morgen vor selbst den frühsten Frühaufstehern.
Diese Überlegung kam mir in den Sinn, als ich selbst auf einem späten Abendspaziergang durch den Park links der Weser vom Deich herab einen Mann mit einem entseelten menschlichen Körper sah, den er offenbar in einer Schubkarre dorthin gebracht hatte und nun mit einer elektrischen Säge sorgsam zerstückelte. Da er sehr in seine Arbeit vertieft zu sein schien und mich daher kaum bemerken würde und für den armen anderen Mitmenschen ohnehin jede Hilfe zu spät gekommen wäre – sein Kopf lag bereits abgetrennt im Gras –, nahm ich mir die Zeit ihn zu beobachten und das Für und Wider seines Tuns zu untersuchen. Abgesehen vom Ort und der Zeit wunderte es mich, dass er den Leichnam nicht schon zuhause zerkleinert hatte. Es wäre leichter gewesen ihn zu transportieren, da ein menschlicher Körper als Ganzes ziemlich sperrig für eine Schubkarre ist. Zudem hätte er sich weniger dem Risiko ausgesetzt entdeckt zu werden. Denn erstens nahmen seine Verrichtungen einige Zeit in Anspruch, was die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass währenddessen ein Spaziergänger vorbeikommen könnte; zweitens hatte er eine Lampe mitbringen müssen, um in der frühen Nacht arbeiten zu können, sodass er im finsteren Park nun wirklich sehr auffiel. Auf diese Weise nutzte er den Vorteil, den die Nacht ihm verschaffte, nicht aus und hätte genauso gut am helllichten Tag kommen können. Ich musste allerdings eingestehen, dass der Transport eines unversehrten Leichnams weniger risikobehaftet war. Bei entsprechend unauffälliger Todesursache sah eine Tour mit jemandem in einer Schubkarre wie eine lustige Spazierfahrt aus, vielleicht von zwei Betrunkenen. Das hätte jeder verstanden. Was ich mir aber wirklich nicht erklären konnte, war die Frage, warum er sich die Mühe überhaupt aufgebürdet hatte. Ich nahm nämlich an, er würde die einzelnen Teile, wohl auf irgendeine Weise beschwert, in der Ochtum, dem Flüsschen, das durch den Park fließt, versenken, worin der Leichnam als Ganzes wohl ebenso leicht oder schwer gefunden werden kann wie in Stücken.
Unterdessen war der Mörder vom linken zum rechten Arm übergegangen, den er an der Schulter vom Leib trennte. Anscheinend ging er von oben nach unten vor und war noch nicht lange am Werk, schließlich war die Nacht auch noch jung. An dieser Stelle gab mein Handy einen Ton von sich, welcher bedeutete, dass ich es aufladen sollte, und nun war ich es, der die Aufmerksamkeit auf ungünstige Weise auf sich zog. Obwohl der Mörder von seiner Arbeit absorbiert gewesen war, hörte er den leisen Laut, schaltete die Säge aus und wandte sich nach mir um. Ich bewunderte die weise Einrichtung der Welt und die ausgleichende Gerechtigkeit, mit der das Schicksal hier den Beobachteten zum Beobachter und umgekehrt gemacht hatte. Dann begann er mit der Säge in der Hand auf mich zuzugehen und ich beschloss zu rennen.
Ich versuchte mein Handy aus der Hosentasche zu holen, um Hilfe zu rufen, aber das war im Laufen gar nicht so leicht, da sich in der gleichen Tasche auch die Geldbörse befand und meinen Fingern irgendwie den Weg versperrte. Ich holte die Börse also zuerst hervor, um leichter ans Handy zu kommen, dabei blieben sie aber aneinander haften, und indem ich sie beide herauszog, löste sich mein Handy und fiel zu Boden. Das Display war ausgeschaltet und nichts zu sehen. Der Mörder war noch eine ausreichende Strecke hinter mir, weil ich von Anfang an auf dem asphaltierten Weg hatte laufen können, er hingegen erst den Deich hinan musste und zusätzlich noch durch die Säge behindert war, die er erst jetzt losließ, da er sah, dass ich stehenblieb, um mich nach dem Handy umzuschauen. Ich kniete nieder, um danach zu tasten, zunehmend beunruhigt, denn ich fand es nicht. Also lief ich wieder los.
Dabei musste ich bald feststellen, dass mein Verfolger jetzt schneller geworden war als ich und mir näher kam. Inzwischen hatten wir eine Brücke über die Ochtum überquert und waren zur Straße am Rand des Wohngebiets gekommen. Dort stand eine Laterne, deren Mast ich, da sich mir kein anderer Rückzugsort bot, hinaufkletterte, immer nach unten tretend, wodurch ich den Mörder erfolgreich hinderte mir nachzukommen. Nach einigen Versuchen gab er endgültig auf, blieb am Fuß der Laterne stehen und schaute böse zu mir herauf, der ich mich so gut es ging oben an der Spitze hinkauerte. Nun konnte ich zum ersten Mal sein Gesicht betrachten, da es vorher zu dunkel gewesen war und er zu weit entfernt gestanden hatte. Ich hatte einen ganz normalen Mittelschichtsmann erwartet, wie man sie täglich sieht, und war enttäuscht, als ich ein langweiliges Stereotyp erblickte. Eine tiefe Narbe zog sich fast seine gesamte rechte Gesichtshälfte entlang, die Winkel seines halbgeöffneten Mundes waren grausam heruntergezogen und seine Augen, die das Licht der Lampe reflektierten, schienen gleich zwei schwarzen Feuern zu mir hoch zu leuchten. Als ich wieder zu Atem gekommen war, rief ich um Hilfe, aber die nahen Häuser waren allesamt schon dunkel und die Bewohner anscheinend zu Bett gegangen, dabei war es noch nicht einmal elf Uhr. Allerdings verschreckte mein Ruf den Mörder, der das Risiko, jemand könnte mich doch hören, wohl nicht eingehen wollte und ins Dunkle verschwand. Ich war mir aber nicht sicher, ob er sich nicht vielleicht in einem Gebüsch versteckte und mir auflauerte, falls ich herunterkäme. Dann würde ich besser bleiben, wo ich war. Vielleicht war er aber weggegangen, um sich zu bewaffnen, dann sollte ich besser schnell das Weite suchen. Ich entschied mich für den Kompromiss, erst einmal oben zu bleiben und das nächste Auto auf mich aufmerksam zu machen, das vorbeikommen würde.
Im Laufe der Nacht fuhren viele Wagen vorbei, die ich schon von Weitem mit Winken begrüßte. Einige wurden tatsächlich langsamer und im Licht der Laterne konnte ich erkennen, wie die Insassen zu mir hoch starrten, aber niemand blieb stehen. So verbrachte ich die ganze Zeit oben auf der Laterne. Es war kalt, zugig und zahlreiche Insekten umschwirrten die Lampe und mich, aber dafür kam wenigstens der Mörder nicht zurück. Allmählich begann es zu dämmern, Kaninchen kamen hervor und hoppelten über die Wiesen, die ersten Vögel begannen ihre Musik, die Bäckerin fuhr vor und betrat ihren Laden, aber sie war zu müde, um mich zu bemerken. Unbeeindruckt von dem, was in der Nacht vorgefallen war, ging das Leben weiter. Als ich erkannte, dass in den Gebüschen niemand auf mich lauerte kletterte ich steif und müde zu Boden. Ich streckte mich und ging los, mein Handy zu holen, das ich auch in der Tat gänzlich unversehrt fand, nur war der Akku nun völlig erschöpft, sodass ich Polizei immer noch nicht rufen konnte. Bevor ich nach Hause ging, besuchte ich noch einmal die Stelle von gestern, wo ich Spuren einer Schubkarre fand, aber weiter nichts. Dann kehrte ich endlich heim, frühstückte ausgiebig und konnte dann endlich die Polizei informieren. Die Dame am anderen Ende der Leitung glaubte mir meine Geschichte zwar nicht und legte einfach auf, aber ich war trotzdem zufrieden, meine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt zu haben, und musste nicht einmal eine Strafe für Missbrauch des Polizeinotrufs bezahlen, weil ich auf einem Revier angerufen hatte.
Die Leichenteile wurden übrigens im Sommer auf dem Grund des Flusses bei einer Reinigungsaktion des Kanuvereins entdeckt. Ich hatte also mit meinen Zweifeln am Nutzen der nächtlichen Arbeit richtig gelegen.